Süddeutschen Zeitung 2014/2015, 06.12.2014

von Bastian OBERMAYER, Uwe RITZER

„Wir waren vom Erfolg geblendet“

Der designierte ADAC-Präsident August Markl erzählt im Interview, wie er die Krise bei Europas größtem Automobilclub erlebt hat, welche Lehren nun gezogen werden und wie die fast 19 Millionen Mitglieder zählende Organisation künftig mehr Demokratie wagen will 

Nebel trübt die Aussicht vom Präsidentenbüro im 22. Stock der ADAC-Zentrale in München. Durchaus auch ein Sinnbild für den Zustand von Europas größtem Automobilclub. Der ADAC steckt in der Krise. An diesem Samstag soll eine außerordentliche Hauptversammlung umfassende Reformen beschließen – und August Markl, 66, vom Interims- zum regulären Präsidenten befördern. 

SZ: Herr Markl, noch vor einem Jahr galt der ADAC als die glaubwürdigste Institution Deutschlands. Dann machte sich das ganze Land über ihn lustig: Sogar Verkehrsminister Dobrindt witzelte gerade, der ADAC habe es ja nicht so mit den Zahlen. Der ADAC als Witzfigur – wie erleben Sie den Spott? 

August Markl: Sie wissen ja, wer den Schaden hat und so. Aber ernsthaft: Es macht mich traurig und erschüttert mich bis ins Herz. Ich werde daher alles dafür tun, dass sich das wieder ändert. 

 

Wie haben Sie das Krisenjahr erlebt? 

Als die SZ Mitte Januar die Manipulationen bei der Wahl zum Lieblingsauto der Deutschen aufgedeckt hat, konnte und wollte das bei uns niemand glauben. Hinzu kamen die verbalen Entgleisungen bei der Preisverleihung und infolgedessen zahlreiche weitere Kritikpunkte, einige davon berechtigt, viele aber auch nicht. 
Der damalige Präsident Peter Meyer sprach von einer ausgedachten Geschichte, Ex-Geschäftsführer Obermair von einem „Skandal für den Journalismus“. 
Ich bin in meinem Stuhl versunken und habe mir gedacht: Das geht viel zu weit. Zu dem Zeitpunkt habe ich aber noch geglaubt, dass die Leserwahl korrekt gelaufen ist. So wurde es uns am Vorabend versichert. Erst am Tag nach der Preisverleihung habe ich durch einen Anruf des Präsidenten erfahren, dass dem nicht so war. Unser Medienchef Ramstetter wurde als Verantwortlicher sofort freigestellt. 

 

War Ihnen die Dimension klar? 

Nein. Auch beim Rücktritt von Peter Meyer wenig später dachte ich noch: In einigen Monaten haben wir einen neuen Präsidenten, dann läuft das geordnet weiter. Dann kamen aber immer neue Vorwürfe auch auf anderen Gebieten. Spätestens da wurde mir klar, dass wir uns mit alledem noch viel länger werden beschäftigen müssen. 

 

Wie hat sich Ihr Blick auf den ADAC seither verändert? 

Ich habe gelernt, dass wir achtsamer miteinander umgehen sollten, beispielsweise gegenüber Mitarbeitern ehrlicher sein und sie in die vor uns liegenden Entscheidungsprozesse einbeziehen müssen. 

 

Hatte der ADAC sein Maß verloren? 

Wir sind in relativ kurzer Zeit sehr schnell gewachsen. Das hat dazu geführt, dass wir manches aus den Augen verloren haben. Wir waren gewissermaßen vom Erfolg geblendet und haben zu sehr auf Mitgliederwachstum geschielt. Im weitesten Sinne würde ich Ihnen daher recht geben. 

 

Als Interimspräsident erklärten Sie, auf keinen Fall Präsident werden zu wollen. Jetzt kandidieren Sie doch. Warum? 

Aus drei Gründen: Der unabhängige Beirat, den wir frühzeitig in unser Reformprogramm eingebunden haben, hat mich explizit darum gebeten. Darüber hinaus habe ich versprochen, dass ich die Reform zu einem guten Ende bringen möchte. Und nicht zuletzt habe ich unglaublich viel Zuspruch von den Mitarbeitern erhalten, die mich ebenfalls darum gebeten haben. 

 

Stimmt es, dass Reformbremser einen eigenen Kandidaten aufbringen wollten?

Es soll solche Bestrebungen gegeben haben. Ich weiß nicht, ob das stimmt und habe das auch nicht nachgeprüft. Auf der Hauptversammlung hat jeder die Möglichkeit aufzustehen und zu kandidieren. 

 

Sie sind ein Mann der alten ADAC-Strukturen. Sind Sie der richtige für einen Neuanfang? 

Ich habe mich in den letzten Monaten voll und ganz der Erneuerung verschrieben. Diese möchte und werde ich gemeinsam mit dem Reformteam durchziehen. 
Eigentlich hieß es, man wolle einen unbelasteten Kandidaten von außen . . .Glauben Sie mir, dass wir ernsthaft gesucht haben. Allerdings haben wir niemanden gefunden, der sich in einer solchen Situation hinstellt und das Amt übernimmt. Der ADAC ist groß und komplex. 

 

Sie meinen die festgefahrenen Strukturen mit Funktionären, die seit Ewigkeiten auf ihren Posten sitzen? 

Festgefahren würde ich nicht sagen, die Strukturen haben sich im Lauf der Jahrzehnte entwickelt. Im Präsidium und Verwaltungsrat ist jetzt großer Reformwille spürbar. Wir diskutieren sämtliche Themenbereiche hart und intensiv, aber immer sachlich und konstruktiv. Alle haben eingesehen, dass es kein „Weiter so“ gibt. 
Der Kern der Reform ist die Trennung von Verein und Konzern, mit einer Stiftung als Kontrollinstanz. 
Das sind die drei Säulen. Der Verein übernimmt 74,9 Prozent der Aktiengesellschaft, den Rest eine gemeinnützige Stiftung. Gewinne der AG werden anteilig ausgeschüttet. Falsch sind Medienberichte, wonach wir überschüssige Mitgliedsbeiträge in die Stiftung einbringen wollen. Die bleiben im Verein und kommen ausschließlich den Mitgliedern zugute. 

 

Wer wird in der Stiftung bestimmen? 

Das arbeiten wir ab Januar im Detail aus. Fest steht, dass der ADAC dort nicht die Mehrheit haben wird. Ich stehe persönlich dafür, dass die Stiftung transparent sein wird. 

 

Im neuen Leitbild heißt es: „Der ADAC ist auch ein neutraler und unabhängiger Verbraucherschützer.“ Besagt das Wörtchen „auch“, dass Geschäft auch mal über Verbraucherschutz steht? 

Der ADAC war noch nie ein gemeinnütziger Verein, der ausschließlich wohltätig ist. Wir bieten unseren Mitgliedern Hilfe, Rat und Schutz in Mobilitätsfragen. Das steht über allem. Mitglieder bekommen das, was sie vom ADAC erwarten: unabhängige Tests und attraktive Produkte. Nur: Verkaufen und Testen gleichzeitig geht nicht mehr. Deswegen testen wir beispielsweise Kindersitze, verkaufen sie aber nicht mehr. Und wir werden uns von weiteren Dingen verabschieden, wie zum Beispiel Gewinnspiel-Mailings. 
. . . der Fachterminus dafür lautet „Demenzmarketing“. . .  
Gegen solche Gewinnspiele habe ich mich schon früh ausgesprochen. Leider bin ich damit im Präsidium nicht durchgekommen, weil diese Aktionen unglaublich erfolgreich waren. 

 

Und der Batterieverkauf gegen Provision durch Straßenwachtfahrer? 

Gibt es schon seit Frühjahr nicht mehr. Bevor künftig eine Batterie verkauft wird, händigt der Pannenhelfer dem Fahrzeugbesitzer einen Prüfbericht über seine Batterie aus. Der kann dann selbst entscheiden. Darüber hinaus geben wir signifikante Preisvorteile, die der ADAC aus dem Großeinkauf von Batterien erzielt, an das Mitglied weiter. 

 

Wussten Sie als Vizepräsident von den Batterie-Provisionen? 

Nein. 

 

Und von den Provisionen beim Mitgliedervorteilsprogramm? Wer als Mitglied bei einem bestimmten Mineralölkonzern tankt, bekommt Rabatt. War das kein Widerspruch zum Neutralitätsanspruch?

Für mich gilt inzwischen, dass es nicht mehr vereinbar wäre, wenn Mitglieder Vorteile haben und zusätzlich auch der ADAC wirtschaftlich davon profitiert. 

 

Werfen Sie sich vor, früher nicht kritisch genug hingeschaut zu haben? 

Ich mache mir den Vorwurf, manchmal nicht genügend nachgefragt zu haben. 

 

Jetzt trennen Sie Verein und Konzern. Letzterer bleibt gewinnorientiert. Also verkauft er weiter auf Teufel komm raus?

Das Mitglied steht im Mittelpunkt, mit seinen spezifischen Bedürfnissen. Das können Vereinsleistungen ebenso sein wie kommerzielle Produkte. Um Profit geht es dabei aber nicht in erster Linie. So steht es auch im neuen Leitbild. 

 

Aber gibt es für Verkäufe – etwa von Versicherungen – keine Provisionen?

Die konkrete Umsetzung arbeiten wir in den kommenden Monaten aus. 

 

Was wird aus der Assistance, also der lukrativen Pannenhilfe für Automarken? Diese kommerziellen Kunden wurden gegenüber Mitgliedern bevorzugt. 

Das stimmt nicht. Wir können belegen, dass ein Pannenhelfer in durchschnittlich 45 Minuten am Einsatzort ist. Und zwar unabhängig davon, ob es sich um ein Mitglied, ein Nicht-Mitglied oder einen Assistance-Fall handelt. 
Uns liegen dazu eidesstattliche Versicherungen von ADAC-Mitarbeitern vor. 
Wir haben den Vorwurf intensiv überprüft. Fakt ist: Von 4,2 Millionen Pannenhilfen pro Jahr sind etwa drei Prozent Assistance-Fälle. Alle werden gleich behandelt, die durchschnittliche Wartezeit für Mitglieder war sogar einen Tick kürzer. 

 

Das widerlegt nicht, dass es die Anweisung gab, Assistance-Kunden im Zweifel zu bevorzugen – um dem ADAC Vertragsstrafen zu ersparen.

Auch das haben wir überprüft, Ergebnis negativ. Allerdings wurde im Zuge dessen eine missverständlich formulierte Arbeitsanweisung eindeutig präzisiert. 

 

Themawechsel: Andere Anbieter von Pannenhilfe-Versicherungen müssen Versicherungssteuer bezahlen. Der ADAC nicht. Ist das fair?

Die Pannenhilfe ist seit 111 Jahren die originäre Kernleistung des Vereins und wurde in der Vergangenheit nie steuerrechtlich beanstandet. Derzeit prüft das Bundesamt für Steuern diese Leistung erneut, bislang ohne Bescheid. Völlig falsch ist daher der Vorwurf, wir müssten Hunderte Millionen Euro Steuern nachzahlen oder hätten sogar Steuern hinterzogen. Wir sind bislang jeder steuerlichen Verpflichtung nachgekommen und tun dies auch weiterhin. 

 

Was würde es bedeuten, wenn das Registergericht München dem ADAC den Vereinsstatus aberkennt?

Wir unternehmen mit unserem tief greifenden Reformprogramm alles, um den Vereinsstatus weiter sicherzustellen. Eine Aberkennung wäre nicht nur für den ADAC, sondern auch für viele andere Großorganisationen eine Katastrophe. 

 

Um Verein zu bleiben, muss der ADAC seine Mitglieder besser einbinden. Wie soll das gehen? 

Wir werden den Zugang zu Mitgliederversammlungen der Regionalclubs erleichtern. Jedes Mitglied kann sich künftig online anmelden, teilnehmen, sich zu Wort melden und abstimmen. Die Tagesordnungen werden vorab im Internet veröffentlicht. Außerdem sollen die Regionalversammlungen künftig öffentlich sein. Um den Dialog zu erleichtern, arbeiten wir daran, regionale Foren zu schaffen, in denen Mitglieder diskutieren können. Der ADAC will insgesamt demokratischer werden. 

 

Was planen Sie gegen die Selbstbedienungsmentalität – etwa bei lukrativen Doppelfunktionen von hohen Funktionären als Vertragsanwälten? 

Die ADAC-Zentrale entscheidet künftig bei der Berufung mit. Es soll pro Kanzlei nur noch einen Vertragsanwalt geben. Man muss aber auch wissen: Alle Vertragsanwälte, die ein Ehrenamt im ADAC haben, waren schon vorher Vertragsanwälte. 

 

Mit den Reformen schwächen Sie die Stellung der Regionalclubs – die als eher reformunwillig gelten. Fürchten Sie Widerstand? 

Die Stellung der Regionalclubs wird keineswegs geschwächt, daher habe ich keine Angst. Die Vertreter aller Regionalclubs waren von Anfang an eng in das Reformprogramm eingebunden und haben sich eindeutig zu den Maßnahmen bekannt. 

 

Der politische Einfluss des ADAC ist vorerst dahin. Wie wollen Sie ihn zurückgewinnen?

Durch glaubwürdige Sacharbeit und professionelle Expertise. Im Vergleich zu früher wird der ADAC bescheidener und seriöser auftreten. Wir wollen Fachwissen einbringen und mit Argumenten überzeugen. Zu wichtigen Themen wie Maut oder Null-Promille-Grenze veröffentlichen wir die repräsentativen Meinungen der Mitglieder und nehmen eine moderierende Rolle ein. Wenn die Mitglieder in einer Frage gespalten sind, stellen wir das auch so dar. Sätze wie: „19 Millionen Mitglieder des ADAC wollen dies oder das“ werden Sie von uns nicht mehr hören. 

 

Was kostet die Reform? 

Das ist noch nicht abzuschätzen. Bislang haben wir einen sehr niedrigen zweistelligen Millionenbetrag ausgegeben. Selbstverständlich nicht aus Mitgliedsbeiträgen. 

 

Wie viele Austritte hat es infolge der Krise gegeben? 

Momentan hat der ADAC 18,94 Millionen Mitglieder, fast exakt so viele wie vor einem Jahr. Allerdings werden einige Kündigungen erst noch wirksam, daher ist die Frage schwer zu beantworten. Ein Anhaltspunkt ist, dass wir in den vergangenen Jahren netto jeweils um eine halbe Million Mitglieder gewachsen sind. Wir hoffen, dass wir 2014 bei plus minus null rauskommen. 

 

 

In den vergangenen Jahren wuchs der ADAC jeweils um eine halbe Million Mitglieder. 
In diesem Jahr ist das anders: Die 
Vertrauenskrise führt dazu, dass die Zahl der Mitglieder stagniert. 

10000000

Die Kosten der großen Reform sind noch 
lange nicht absehbar. Bisher musste der ADAC für externe Berater und andere 
Leistungen einen niedrigen zweistelligen 
Millionenbetrag aufwenden. 

111

Seit so vielen Jahren gibt es den ADAC schon. Aber eine Krise, wie sie im Januar 
nach der manipulierten Wahl zum 
„Lieblingsauto der Deutschen“ ausbrach, hatte es bis dato noch nicht gegeben.