Die Manipulationen der Arbeitsämter: eine ausführliche Chronologie aller Ereignisse

80er Jahre

Die Ausgangslage: Unter Insidern in der Bundesanstalt für Arbeit (BA) und den ihr nachgeordneten Ämtern - so auch bei Erwin BIXLER - ist es schon seit langem ein offenes Geheimnis, dass es bei den Zahlen zu den erfolgreichen Stellenvermittlungen nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. In der Nürnberger Bundesanstalt und der untergeordneten Arbeitsamtsbürokratie herrscht jedoch ein ausgeprägtes Bürokratenklima: Kritik ist nicht erwünscht. Mitarbeitern, die Zweifel äußern oder aufmucken, bedeutet man sehr schnell, dass sie versetzt werden können – potenzielle Kritik wird so bereits im Keime erstickt. 
Der ganze Apparat ist ein typischer Behördenmoloch:

  • rund 85.000 Beschäftigte bundesweit
  • nicht mal 10% der Mitarbeiter sind für das zuständig, worauf es eigentlich ankäme: Vermittlung von Arbeitslosen.

Der allergrößte Teil der Beschäftigten hält den ‚Wasserkopf’ am Laufen: Beschäftigung mit sich selbst 


1986-1990

Die Story beginnt: Erwin BIXLER wechselt von der Verwaltungsabteilung des Pirmasenser (Rheinland-Pfalz) Arbeitsamtes in eine Stabstelle der Abteilung „Arbeitsvermittlung“. 
Vier Jahre später, im Mai 1990 avanciert er zum Abschnittsleiter in dieser Abteilung und übernimmt damit Führungsverantwortung für die Durchführung der Arbeitsvermittlung


1993

Bernhard JAGODA, ehemaliger Bundestagsabgeordneter (CDU) und Staatssekretär unter Sozialminister Norbert BLÜM (CDU) , wird von seinem Protege zum Präsidenten der BA gekürt


Oktober 1993

BIXLER ist mittlerweile Abschnittsleiter und Stellvertreter des Abteilungsleiters in der Arbeitsvermittlung beim Arbeitsamt Pirmasens (Rheinland-Pfalz).

Zusammen mit seinem Vorgesetzten verfasst er ein Papier in der Fachzeitschrift „Arbeit und Beruf“. Thema: "Die Perspektiven der Arbeitsvermittlung und der daraus resultierende Handlungsbedarf" (8 S./100 KB)

Darin geht es um Probleme und Handlungsbedarf bei der Arbeitsvermittlung in der BA. Zweifel an der Vermittlungseffektivität werden angedeutet: „…die BA - und mit ihr die Arbeitsvermittlung – widmet sich seit geraumer Zeit in einem nicht unbeträchtlichen Maße dem ‚Wettbewerb mit arteigener Konkurrenz’, das heisst, dem Wettbewerb mit sich selbst… Die Bedingungen und Umstände, denen dieser interne Wettbewerb unterliegt und die er zum Teil selber schafft, können ein Denken und Handeln herbei führen, dem die dokumentierten Daten über echte oder vermeintliche Arbeitsergebnisse und das Dokumentieren an sich mitunter „reizvoller“ erscheinen können, als das mühsame Ringen um den eigentlichen, den objektiven Erfolg am wirklichen Markt“.

Beweise haben die Autoren zu diesem Zeitpunkt nicht


ab 1994/95

BA startet das Reformprojekt „Arbeitsamt 2000“.
Die Ziele: Kunden- und Mitarbeiterorientierung, Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit des Verwaltungshandelns, Ergebnisorientierung, Verwaltungsvereinfachung, Stärkung der Selbstverwaltung


ab 1997

Die Bundesregierung verordnet der BA eine Innenrevision, die primär ihre Haushaltsausgaben sowie die Stellenvermittlungs-Effektivität überprüfen soll. 
Die Innenrevision soll unter der Aufsicht des Präsidenten stehen, der sich zu einem jährlichen Bericht an den Vorstand der BA über die Ergebnisse und Vorschläge verpflichtet 


April 1997

BIXLER verfasst einen Leserbrief (Nr. 1) an die Mitarbeiterzeitschrift DIALOG. Im Artikel kritisiert er die Missstände bei der Arbeitsvermittlung


September 1997

BIXLER bewirbt sich erfolgreich um die Stelle eines Prüfers in der Innenrevision beim Landesarbeitsamt Rheinland-Pfalz-Saarland


18.08.1998

BA Präsident Bernhard JAGODA kündigt in Nürnberg einen Zuwachs an Stellenvermittlungen an: "Wir haben ja in der ersten Jahreshälfte 1,8 Millionen Vermittlungen gemacht, das sind elf Prozent mehr wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres."


1998

Das Reformprojekt „Arbeitsamt 2000“ bringt die Einführung von Controlling bei der BA mit sich. Das soll ergebnisorientiertes und somit effizientes Führen und Arbeiten der BA ermöglichen


1998

Als hauptamtlicher Revisor wirkt BIXLER u. a. an der Untersuchung der „Bearbeitung von Stellenangeboten zur Steigerung der Effektivität und Effizienz der Arbeitsvermittlung“ mit. Dabei stößt er auf fiktive Stellenangebote („fiktive SteA“) und frisierte Daten. Die Prüfung erfolgt in 15 bundesweit ausgewählten Arbeitsämtern. In seinem Revisionsbericht vom 30. September protokolliert er die gängigen „Frisiertechniken“ und schätzt die Richtigkeit der Vermittlungsstatistiken auf 25 bis 30% 


17.09.1998 – 10 Tage vor den Bundestags- Wahlen

Dieser Bericht - bzw. die dort beschriebenen Manipulations-Potenziale bei der Arbeitsvermittlung - wird während einer zweitägigen "Direktorentagung" im Landesarbeitsamt Rheinland-Pfalz-Saarland mit allen Direktoren der rheinland-pfälzischen und saarländischen Arbeitsämter diskutiert.

Zeitgleich, aber zufällig, geht panorama am 17. September auf Sendung: Phantomstellen und Scheinvermittlungen – gefälschte Zahlen beim Arbeitsamt

Ein Arbeitsvermittler hat sich an die Redaktion gewandt und packt aus. Er berichtet anonym über die gängigen Tricks und Fälschungen. Der Kernsatz seiner Aussagen zu den offiziellen Statistiken - 10 Tage vor den anstehenden Bundestagswahlen, die die CDU haushoch verlieren wird: „Die Zahlen stimmen nicht, definitiv nicht.“ Damit meint er die offiziellen Zahlen der BA, die regelmäßig vom Bundeskanzler Helmut KOHL, der Bundesregierung und allen Politikern als „Erfolgsindikator“ benutzt werden.

JAGODA, der „Herr Präsident“, wenig später über beides informiert, schenkt weder den Ergebnissen der internen Untersuchung noch dem panorama-Bericht nennenswerte Beachtung. Seine einzige Reaktion: Er bittet darum (laut Protokoll), „die Geschäftsvorgänge der Arbeitsvermittlung – im engeren Sinne – auf Plausibilität und Faktizität hin zu untersuchen“. 

Bei dieser schriftlichen Protokollierung wird es bleiben – die nächsten 3 Jahre passiert nichts


24.04.2000

BIXLER übernimmt jetzt Controllingfunktionen. Zu seinen Aufgaben gehört u. a. das Analysieren von Daten, anhand derer zielsetzungsgerechte Entscheidungen getroffen werden sollen


Mai 2000

RIESTERs Staatssekretär Klaus ACHENBACH leitet den Untersuchungsbericht der BA, in den BIXLER's Ergebnisse über den Bericht des Landesarbeitsamts Rheinland-Pfalz-Saarland eingeflossen sind, an den Rechnungsprüfungsausschuss des Bundestags weiter. Dort wird moniert, dass Information, Vermittlung und Beratung schlecht sind


05.10.2000

BIXLER fertigt einen Vermerk für seinen Vorgesetzten an, in dem er auf die Probleme erneut hinweist. Darin heißt es u.a.:
„Der Unterzeichner sieht sich aber verpflichtet, darauf hinzuweisen, dass es sehr deutliche Anhaltspunkte dafür gibt, dass einige Controllingdaten, die wir unseren Kunden, der Geschäftsleitung, monatlich präsentieren, bei weitem nicht über die realen Größenordnungen informieren.
Die kurzfristigen Folgen sind prinzipiell mit denen vergleichbar, die eintreten, wenn ein Navigator seinem Kapitän einen Standort meldet, der einige Längen- und/oder Breitengrade vom tatsächlichen Standort entfernt liegt. Mittel- und langfristig läuft die Inkaufnahme der Weitergabe deutlich daneben liegender Informationen auf die Beteiligung am Bau "Potemkinscher Dörfer" hinaus.“


01.01.2001

Die Arbeitsvermittlungszahlen werden zu Indikatoren für die Erfolgsmessung im Gesamtsteuerungsprozess der Arbeitslosenvermittlung erklärt. Dies bedeutet, dass BIXLER nun für die Evaluation jener Zahlen zuständig ist, die er im Prinzip als manipuliert entlarvt hat. Dieser Umstand bedrückt ihn. Er äußert das erfolglos in diversen Gesprächsversuchen, Vermerken mit und an seine Vorgesetzten


April 2001

BIXLER ist sich nicht sicher, ob sein Vermerk (Oktober 2000) auch die Präsidentin des Landesarbeitsamtes Rheinland-Pfalz erreicht hat. Um seinen Vorgesetzten nicht zu übergehen, entscheidet er sich, nochmals einen Leserbrief in der hauseigenen Mitarbeiterzeitschrift Dialog zu veröffentlichen. Reaktion: keine Reaktion. Hier geht es zum Leserbrief an DIALOG.


22.10.2001

BIXLER bewirbt sich um eine freie Stelle als Kundenbereichsleiter im Arbeitsamt Pirmasens 


29.10.2001

Eine Woche nach Abgabe des Bewerbungsschreibens von BIXLER wird er intern von seinen Vorgesetzten dienstlich deutlich schlechter beurteilt als früher 


November 2001

Ein neuer Tarifvertrag tritt in Kraft, der die bis dahin getrennte Sachgebiete Statistik und Controlling vereint. 
Die Funktion der jeweiligen Sachgebietsleiter wird neu definiert. Während der eine in eine höhere Besoldungsgruppe befördert wird, wird der andere ihm unterstellt 


06.12.2001

Das Magazin stern wartet in seiner Ausgabe Nr. 50 mit einem großen Bericht über die unglaublichen Zustände in den deutschen Arbeitsämtern auf: „Jobs? Dafür haben wir keine Zeit“
Die Berichterstattung beginnt mit einem treffenden Vergleich:

„Man stelle sich ein Krankenhaus vor, in dem sich kaum Ärzte um die Patienten kümmern, dafür aber jede Menge Techniker die Telefonanlage warten. Oder eine Autofabrik, in der nur ein paar Mechaniker Autos bauen, während Legionen die Werkhalle fegen und das Ersatzteillager umorganisieren. Oder ein Arbeitsamt, das Beamtenscharen damit beauftragt, Arbeitslose zu registrieren, ihnen Geld auszuzahlen, den Apparat zu verwalten, sodass am Ende kaum jemand Zeit findet, den Arbeitslosen einen Job zu suchen. Bei Krankenhäusern oder Autofabriken wäre das eine absurde Vorstellung. Beim Arbeitsamt nicht. Da ist es Realität. Seit Jahren.“

Daraufhin melden sich viele anonyme BA-Mitarbeiter in der stern-Redaktion und berichten weitere Details. Z.B., dass sie teilweise Anweisungen „von oben“ bekämen, die Statistiken zu fälschen. Und: "Sie haben ja keine Ahnung, wie brutal hier jeder bestraft wird, der mal die Wahrheit sagt“, so einer der Anrufer aus der BA.

Bundeskanzler SCHROEDER, der gerade in Südamerika weilt, fordert eine Stellungnahme der BA., bekommt aber ebenfalls nur die offizielle Zahl von 3,8 Mio Vermittlungen zu hören. SCHROEDER ist beunruhigt – er überlegt, ob er seinen Chef des Bundeskanzleramts, Frank-Walter STEINMEIER, nach Nürnberg zur Überprüfung der Vorwürfe schicken soll


10.12.2001

Als Reaktion auf den stern-Artikel lässt JAGODA seinen Pressesprecher Eberhard MANN einen wütenden Brief an den Chefredakteur aufsetzen. Der Behördenmann ist sich nicht zu schade, folgendes zu schreiben:

"Von verantwortungsbewusstem Journalismus ist das meilenweit entfernt. In den ersten elf Monaten dieses Jahres haben die Arbeitsämter knapp 3,6 Millionen Vermittlungen zustande gebracht. Bis Jahresende werden es 3,8 Millionen sein. Wie ist das möglich, wenn die Mitarbeiter in den Arbeitsämtern für diese Aufgabe keine Zeit haben?"

Entweder weiß der Pressesprecher nicht, was in der BA ‚läuft’ oder er setzt darauf, dass man es nach außen hin kaschieren kann: dass die Zahlen blanke Fälschung sind. 
Die Stellungnahme wird für die BA-Mitarbeiter ins Intranet gestellt


Dezember 2001

Was in der Öffentlichkeit nicht bekannt ist:
Der Bundesrechnungshof prüft die Validität der statistischen Zahlen über Arbeitsvermittlungen in mehreren Arbeitsämtern (Bremerhaven, Dortmund, Halle, Frankfurt/Oder und Neuwied). Ergebnis: Das beste Resultat „echter“ Arbeitsvermittlungen liegt bei 41 %. Im Durchschnitt erweisen sich 71% (!) der Zahlen als falsch


14.12.2001

BIXLER, der sich beim Arbeitsamt Pirmasens als Kundenbereichsleiter beworben hat, stellt sich persönlich vor, u. a. beim Vizepräsidenten, der zugleich die Abteilung Arbeitsvermittlung leitet


20.12.2001

Obwohl er beim Pirmasenser Arbeitsamt willkommen ist, entscheidet sich das Landesarbeitsamt (Rheinland-Pfalz) gegen ihn. Trotz seiner bisher hervorragenden Dienstbeurteilungen habe er „enttäuscht“. Genaueres erklärt man ihm nicht. BIXLER nimmt diese Entscheidung hin: „Schließlich kann ich nicht erwarten, dass mein Eintreten für das Reformprojekt „Arbeitsamt 2000“ ausgerechnet von Menschen goutiert wird, die diesem Reformprojekt offenbar weniger aufgeschlossen gegenüber stehen und denen meine Revisionsberichte und Controllingreporte mitunter große Sorgen bereitet haben müssen“, wird er einen Monat später an den Minister für Arbeit und Soziales schreiben

An diesem Tag jedenfalls befindet sich BIXLER auf einem Controlling-Lehrgang in der Verwaltungsschule in St. Ingbert. Kollegen von ihm wollen abends beim Bier hinter vorgehaltener Hand wissen, dass der Bundesrechnungshof in 5 Arbeitsämtern geprüft habe: die Zahlen zu den Stellenvermittlungen


24.12.2001

Die Ereignisse und Informationen der letzten Tage sorgen bei BIXLER für schlaflose Nächte. Auch in dieser Nacht kommt er kaum zur Ruhe und beschließt, sein Insiderwissen in einem Brief an den Staatsminister bei Bundeskanzler SCHRÖDER, Hans Martin BURY (SPD) offenzulegen


29.12.2001

DER SPIEGEL berichtet über eine ‚geheime’ INFAS-Studie der BA, die zeigt, weshalb 30% der Arbeitslosen sich nicht wirklich um einen Job bemühen. Die Studie liegt bereits seit Frühjahr vor – JAGODA hat sie bisher nur an interne Gremien weitergegeben, die die Ergebnisse „in aller Stille kleinraspeln“ sollen, wie das Nachrichtenmagazin schreibt


Jahreswechsel 2001/2002

Bundesarbeitsminister Walter RIESTER (SPD) hat die Amtszeit JAGODAs um weitere vier Jahre verlängert. Das neue Jahr 2002 bedeutet auch neue Bundestagswahlen


03.01.2002

Weil von BURY keine Reaktion auf BIXLERs Brief erfolgt, ruft er in dessen Berliner Abgeordnetenbüro an und spricht mit einem Mitarbeiter. Dieser sagt, dass BIXLERs Schreiben auf seinem Tisch gelandet ist und verspricht ihm, es an BURY weiterzuleiten


09.01.2002

BIXLER hat immer noch keine Rückmeldung auf sein Schreiben an BURY, er ruft ein zweites Mal an. BURY’s Mitarbeiter bittet ihn, sein Anliegen mit den wichtigsten Fakten per E-Mail zu schicken 


14.01.2002

Der Vorgesetzte von BIXLER informiert ihn über die Zusammenlegung der Bereiche Statistik und Controlling, die auf den Tarifvertrag vom November 2001 zurückzuführen ist. BIXLER geht davon aus, dass die „organisatorischen Veränderungen sehr geschickt dazu benutzt werden, ihn, den unbequemen Controller, „kaltzustellen“ bzw. in einer veränderten Organisation gleichsam zu versenken und dadurch mundtot zu machen“, wird er später zu Papier bringen. 
Organisatorische Neuerungen, die auch personelle Veränderungen (z.B. Umsetzungen) nach sich ziehen, sind in Behörden ein beliebtes Mittel, unliebsame Beamte, die man ja nicht kündigen kann, zu ‘vergraulen’, d.h. vor allem zu demotivieren


15.01.2002

BIXLER hat immer noch nichts von BURY gehört, er ruft ein letztes Mal bei seinem Mitarbeiter an und erfährt, dass der Staatsminister in Kürze im Büro zurück wäre – BURY wird sich nicht bei BIXLER melden. 
Erst im Februar, wenn der Vermittlungsskandal öffentlich wird, wird ein Mitarbeiter des Kanzleramts BIXLER telefonisch mitteilen, dass der Fall jetzt auch dort aufgegriffen und bearbeitet wird


17.01.2002

BIXLER wartet immer noch auf eine Meldung vom Berliner Abgeordnetenbüro bzw. von BURY. Er verfasst eine zweite und letzte E-Mail und hängt einige Dokumente an


18.01.2002

Der Bundesrechnungshof (BRH), der sich seit einiger Zeit mit den Arbeitslosen-Vermittlungszahlen beschäftigt – unabhängig von BIXLERs und allen anderen Aktivitäten - hat dem Arbeitsministerium einen ersten Berichtsentwurf am 16.1. zukommen lassen: Minister RIESTER liest ihn an diesem Tag


23.01.2002

Weil BIXLER seit vier Wochen immer noch nichts von BURY gehört hat, verfasst er ein Schreiben an Arbeitsminister RIESTER (SPD). Währenddessen klingelt bei ihm gegen 11 Uhr das Telefon. Es ist die BA-Innenrevision. Man teilt ihm mit, dass der Bundesrechnungshof der BA vor einer Woche den Berichtsentwurf eines Gutachtens zur Frage der Gültigkeit von Stellenvermittlungszahlen übermittelt habe. Die BA soll dazu eine Stellungnahme abgeben. BIXLER wird aufgrund seiner Revisor-Erfahrung um Hilfe gebeten, diese Zahlen zu „entkräften“. 
BIXLER reagiert empört, beendet das Gespräch und informiert das Arbeitsministerium auf der Stelle, und zwar telefonisch. Er teilt dies direkt dem Ministerbüro mit. Anschließend verschickt er den noch nicht fertig gestellten Brief als Entwurf mit den wichtigsten Fakten per Email nach Berlin 


24.01.2002

Tags drauf schickt BIXLER seinen Brief an das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, z. Hd. von RIESTER „persönlich“ nebst vielen Anlagen.

In den Unterlagen befindet sich auch ein PC-Screenshot zu einem "Fiktiven SteA" (SteA = Stellenangebot):


28.01.2002

Das Telefon klingelt. Am anderen Ende: das Büro des Bundesministers für Arbeit und Soziales, Walter RIESTER. Man bittet BIXLER, nach Berlin zu kommen, um persönlich vorzutragen.
Abends ist report aus Mainz auf Sendung: „Arbeitsmarktpolitik - die sinnlose Milliardenschlacht“. Die Sendung setzt sich mit der Sinnhaftigkeit und den Kosten von Umschulungsmaßnahmen auseinander, die von vorneherein auf Arbeitsplätze zugeschnitten sind, die es nicht gibt


30.01.2002

BIXLER reist nach Berlin zu dem Gespräch mit RIESTER. Der Termin findet vormittags statt. Das Gespräch dauert sechs Stunden. BIXLER wird gebeten, sein Wissen nicht an die Öffentlichkeit zu tragen. 
Für Nachmittag ist JAGODA bestellt. Der erhält BIXLERs Bericht nebst allen Unterlagen sowie einen Fragenkatalog, den er bis zum übernächsten Tag, zum 1. Februar, beantworten soll.

Und so erinnnert sich Bundesarbeitsminister RIESTER kurz darauf bei Johannes B. Kerner an die Vorgänge


01.02.2002

Kaum ist BIXLER wieder zuhause zurück – es ist Freitag - meldet sich der Leiter der Abteilung Verwaltung beim Landesarbeitsamt am Telefon: BIXLER möge sich gleich am Montag früh bei ihm melden 


04.02.2002

Erwin BIXLER hat heute, es ist Montag, Geburtstag. Er muss ins Landesarbeitsamt nach Saarbrücken – seine Vorgesetzten stellen Fragen und mustern in argwöhnisch – sie haben von seiner Reise nach Berlin erfahren, wissen aber noch nichts Genaues.
Die online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung zitiert als erstes Medium aus der Untersuchung des Bundesrechnungshofs

Nachmittags ereilt BIXLER einen Anruf von einem leitenden Mitarbeiter des Kanzleramts: sein Vorgang sei hier bzw. bei Staatsminister BURY angekommen und in zwei Tagen wäre er auch Gegenstand im Vorstand der BA. 

Die Tagesschau sendet einen Beitrag zum Thema.

Im Arbeitsamt-Intranet erscheint zum 1. Mal die Info, dass der BRH die Vermittlungszahlen der Arbeitsämter anzweifeln würde


05.02.2002

Die Süddeutsche Zeitung, der der Bericht des Bundesrechnungshof zugespielt wurde und deren online-Ausgabe bereits am Vortag berichtet hatte, titelt:

„Vernichtende Kritik an den Arbeitsämtern. 70% der gemeldeten Stellenvermittlungen falsch“.

Das politische Berlin überschlägt sich: der Skandal ist da


06.02.2002

Jetzt rauscht es im Blätterwald – alle Medien berichten von den Manipulationen und davon, dass die BA davon wusste. RIESTER hält eine Pressekonferenz dazu ab, in der er auch darauf hinweist, dass sich – neben der Kritik des Rechnungshofes – auch ein Mitarbeiter der BA an ihn persönlich gewandt habe: in gleicher Sache. 
BIXLER erhält einen Anruf aus dem Arbeitsministerium: er müsse sich darauf einstellen, dass ihn jetzt die „Journaille“ aufspüren werde. Dies geschieht an diesem Tag noch nicht


07.02.2002

Gegen 9 Uhr klingelt bei BIXLER das Telefon. Am anderen Ende: eine weibliche Stimme, die danach fragt, ob er jener Erwin BIXLER sei, der beim Landesarbeitsamt Saarbrücken arbeite? Sie arbeite beim Berliner Tagesspiegel. BIXLER, seiner Verschwiegensheitpflicht bewusst, beendet das Gespräch, ohne weitere Diskussion. 

Währenddessen setzt Arbeitsminister RIESTER der BA zur Aufklärung der Affäre eine Frist bis zum 15.02.02. Noch stützt er JAGODA.

Abends geht panorama auf Sendung: mit seinem 2. Beitrag zu diesem Thema: Geschönte Statistik beim Arbeitsamt - Panorama zeigte Zahlen-Manipulation schon vor Jahren


08.02.2002

Erwin BIXLER bezeichnet diesen Tag als einer der „schlimmsten“ in seinem Leben. 

Mehrere Zeitungen, darunter das Handelsblatt und die Financial Times zitieren wortwörtlich aus BIXLER’s Brief an RIESTER. Auch die BILD-ZeitungDIE WELT, die Pirmasenser Zeitung vor Ort sind bestens informiert. 

Die ersten Anrufe, wechselnd übers Festnetz und auf dem Handy, kann BIXLER noch abwimmeln. Auf Fragen eines Redakteurs der Tageszeitung RHEINPFALZ gibt er erstmals vorsichtig Antworten. Wenig später akzeptiert er ein Hintergrundgespräch mit dem SWR
Der SWR-Reporter hat BIXLER’s Brief an RIESTER ebenfalls – mit dem Eingangsstempel des Ministeriums. Außerdem zeigt er ihm einen Artikel aus dem Berliner Tagesspiegel, dessen Redakteurin ihn gestern angerufen hatte: "Arbeitsamt-Affäre: Der Mann, der nicht aufgab" (116 KB). BIXLER ist sprachlos. In seiner Überraschung beantwortet er Fragen des SWR-Reporters, die dieser mit laufender Kamera aufnimmt.

Kurz darauf ist die Kriminalpolizei am Telefon: der Personalchef des Landesarbeitsamts und vormalige Direktor des Arbeitsamts Neuwied habe einen Selbsttötungsversuch unternommen und liege nun im Koma; der Kripomann – in Befragungen kriminalistisch und psychologisch bestens geschult – bringt BIXLER weiter aus der Fassung – BIXLER fühlt sich nicht nur ausgesprochen unwohl, es überfallen ihn Schuldgefühle. Wenige Tage später wird er erfahren, dass dieser Freitod nichts mit BIXLER's Aktivitäten zusammenhängt


09.02.2002

Die Medien überschlagen sich in Meldungen, Informationen und Berichten über den Skandal. Jeder möchte irgendetwas exklusiv berichten. Hier geht es zu Pressestimmen.

BIXLER telefoniert mit dem Arbeitsministerium, fragt nach, wieso die Medien alle seinen Brief besäßen? Ja, da sei etwas schief gelaufen, lautet die Antwort.

Und wieder Anrufe von Journalisten. Ein Interview-Ansinnen des ZDF lehnt BIXLER ab, BIXLER’s Ehefrau wimmelt am Telefon eine stern-Reporterin ab. Die steht wenig später, zusammen mit einem Fotografen, vor BIXLER’s Haustür.

BIXLER’s Tür bleibt zu. 


10.02.2002

Trotz Sonntag: Gegen 10 Uhr tauchen die beiden stern-Leute wieder auf. BIXLER’s Tür bleibt immer noch zu. Trotz Sturmläutens über 1 ½ Stunden. 

Die stern-Leute klingeln daraufhin bei den Nachbarn, BIXLER’s Ehefrau rastet aus und stellt die Reporter draußen, währenddessen BIXLER überlegt, wie das wohl weitergehen könne: Bisher hatte er es mit 5 Journalisten zu tun: Tagesspiegel, SWR, SR, RHEINPFALZ, ZDF. Dem SWR hatte er Fragen beantwortet, den anderen nur versprochen, Bescheid zu geben, falls er sich nochmals öffentlich äußern wolle.

Die Idee: mit dem stern reden, aber unter der Voraussetzung, dass auch die anderen dabei sein und mitschreiben dürften – irgendwann muss das ‚Theater’ doch wieder zu Ende sein.

Um 17 Uhr ist es dann soweit: improvisierte ‚Pressekonferenz’ im Wohnzimmer der Familie BIXLER:


12.02.2002

Die Welt am Sonntag kommentiert den Fall:

„Die Revisoren. Ihre Tat verändert ihr Leben, nicht immer zum Guten:

Zu Zeiten des Zaren schrieb Nikolai Gogol eine Komödie, in der die angekündigte Ankunft eines Revisors eine marode Stadt und ihre korrupte Verwaltung in Panik versetzt. Noch heute gehört "Der Revisor" zum Repertoire deutscher Stadttheater.


Zu Zeiten der Demokratie kommen aber die wichtigen Revisoren nicht angekündigt von oben, sondern überraschend von unten. Sie sind nicht Vertreter einer gerechten Obrigkeit gegen die korrupten Bürger, sondern selbst ernannte Verfechter des bürgerlichen Rechts gegen die Anmaßungen des Amtes und die Arroganz der Macht. Erwin BIXLER etwa, Innenrevisor im Arbeitsamt Rheinland-Pfalz, der die Fälschung von Arbeitslosenstatistiken aufdeckte. ...

Ihre Namen sind kurz in aller Munde, dann verschwinden sie. Ihre Tat verändert ihr Leben, nicht immer zum Guten. Oft werden sie weder mit dem Ruhm noch mit dem Vergessenwerden fertig. Aber sie belegen die gewaltige Kraft des Individuums in einer freien Gesellschaft, die der Herrschaft des Rechts verpflichtet ist. Hut ab vor diesen Vertretern der Zivilcourage. Und viel Glück den kommenden Revisoren, wo immer sie stecken mögen!“


14.02.2002

Die Zeitschrift stern kommt mit ihrer zweiten Geschichte zu den Manipulationen heraus: „Jetzt fliegt alles auf“. Auch SPIEGEL TV sendet. Jedes Medium berichtet


15.02.2002

Krisensitzung im Berliner Arbeitsministerium mit JAGODA. RIESTER plant vorzeitiges Ausscheiden des BA-Chefs aus dem Amt. JAGODA betont, dass ihn keine juristische Schuld treffe, nur eine politische. Folge: JAGODA bleibt, gibt aber zu, dass nur ca. 30% der Statistik stimmt


16.02.2002

„Statistik falsch - Jagoda bleibt!“ – so titelt die Süddeutsche Zeitung. Und weiter: „Bundeskanzler Schröder hat sich nach seiner Rückkehr aus Südamerika jetzt in die Diskussion um die Arbeitsvermittlung eingeschaltet. In einem Radio-Interview mit dem NDR sagte der Kanzler, die Vermittlung könne nur dann optimal gelingen, wenn es private Konkurrenz zur Bundesanstalt für Arbeit gäbe. Die privaten Vermittler dürften nicht unter der Oberaufsicht der Behörde stehen.“


21.02.2002

JAGODA wird durch die Bundestagsabgeordneten im Rahmen eines Arbeits- und Sozialausschusses befragt.
Die Sitzung dauert ca. 3,5 Std, in der JAGODA immer wieder zum Rücktritt aufgefordert wird. JAGODA kämpft lange und weigert sich gegen ein Schuldeingeständnis. Er zweifelt nach außen hin sogar immer noch die Zahlen des BRH an, obwohl dessen Vizepräsident deswegen extra nach Berlin gekommen ist, um ein weiteres Mal klipp und klar zu erklären, was alle inzwischen wissen: Die BA-Zahlen sind zu 70%falsch.
Zum Schluss gibt JAGODA auf: „Dann muss eben eine Möglichkeit gefunden werden für einen Neuanfang ohne mich.“
RIESTER sagt danach, es sei „ein gutes Signal“


22.02.2002

SCHRÖDER und RIESTER stellen bei einer Pressekonferenz den Plan einer Modernisierungsreform für die BA vor, die bis zum Jahr 2004 durchgezogen sein soll. Dies ist der Beginn der späteren Hartz-Gesetze. Vorsitzender dieser Kommission wird ein guter Bekannter von Gerhard SCHRÖDER: Der Personalvorstand bei VW, Peter HARTZ.
Kernpunkte der Reform: Mehr Wettbewerb bei der Vermittlung von Arbeitslosen, die Arbeitsämter sollen sich auf ihre Kernaufgabe konzentrieren und ein modernes Management einführen.
Gleichzeitig wird Bernhard JAGODA in den Ruhestand versetzt.
Neuer Vorstand soll ab April Florian GERSTER werden, derzeit noch Sozialminister in Rheinland-Pfalz


11.03.2002

Das Focus Magazin berichtet unter der Überschrift „Kollektiver Druck“, dass es BIXLER schlecht geht. Er kann nicht schlafen, ist nervös bis rastlos, muss alle drei Tage zum Arzt. Er ist krankgeschrieben.

„Wir sind bemüht, ihn nicht auszugrenzen“, zitiert Focus den Sprecher des Landesarbeitsamts in Saarbrücken, Albert FUCHS: „Bixlers Vorgehensweise hätte überrascht.“ Dass BIXLER seit 1993 immer wieder auf das Problem hingewiesen habe, davon weiß der auf Lebenszeit verbeamtete Staatsdiener angeblich nichts.
Focus erkundigt sich auch nach der Stimmung an BIXLERs letztem Arbeitsplatz, der Controlling-Abteilung: „Die Stimmung ist neutral bis korrekt“.

Im Arbeitsamt Kaiserslautern ist man offener. Der Direktor Hanswilli JUNG in einer email an „alle Mitarbeiter“:

“Entsetzt und wütend bin ich über die Penetranz und Hartnäckigkeit, mit der Herr Bixler, Mitarbeiter der Innenrevision im LAA für die Sauberkeit der Statistik kämpfte, und in welcher Art er in Berlin empfangen wurde. Empörend seine jetzigen larmoyanten Beteuerungen: um seine Dienstpflichten nicht zu verletzen, hätte er diesen Weg, den ich als Denunziantentum bezeichne, wählen müssen.“


15.04.2002

BIXLER nimmt seinen Dienst beim Landesarbeitsamt Rheinland-Pfalz-Saarland wieder auf. Der Dienstbeginn wird zum indirekten ‚Spießrutenlaufen’ in den nächsten Jahren. Aus der Ankündigung von Arbeitsminister RIESTER, BIXLER stünde unter seinem „persönlichen Schutz“ wird nichts. RIESTER hat BIXLER längst vergessen.
Die Vorgesetzten legen ihm nahe, sich beim BA-Vorprüfungsamt in Chemnitz zu bewerben. BIXLER lehnt ab. Nur wenige Monate später wird das BA-Vorprüfungsamt aufgelöst


ab Oktober 2003

BIXLER, dem verdeckten Mobbing nicht gewachsen, erkrankt erneut, wird krank geschrieben: aus leichter Verbitterung und Verzweiflung entstehen schnell depressive Phasen, wenn man beruflich kaltgestellt wurde und keinerlei Perspektiven mehr sieht. Nach dreimonatiger Krankschreibung wird man als Beamter durch einen Amtsarzt untersucht und wenn der die bereits vorher konstatierten Symptome bestätigt, ist die Versetzung in den einstweiligen Ruhestand quasi eine automatische Folge.
Der engagierte Revisor wird 2004 mit 50 Jahren (früh-)pensioniert. 

Der Behördenapparat der heute sich als modern gebenden Bundesagentur für Arbeit (BA) kann offenbar mit engagierten und motivierten Mitarbeitern nicht viel anfangen


Ergebnis u.a. auch dieses Vorgangs: Die rot-grüne Bundesregierung, insbesondere Bundeskanzler Gerhard SCHRÖDER und der Nachfolger von Bundesarbeitsminister RIESTER, Wolfgang CLEMENT (SPD) berufen eine Kommission ein, die Vorschläge zu einer neuen modernen Arbeitsmarktpolitik machen soll. Dieser Arbeitskreis wird geleitet von Peter HARTZ, einem guten Bekannten von Gerhard SCHRÖDER aus dessen Zeit als Ministerpräsident von Niedersachsen. HARTZ ist beim Konzern Volkswagen Personalvorstand. Und u.a. zuständig für das, was später als VW-Skandal in die Annalen eingehen wird - siehe dazu www.ansTageslicht.de/VW . 

Was an Vorschlägen bei der Kommission herauskommen wird, hat ebenfalls einen Namen: die Hartz-Gesetze. Insbesondere das Stichwort "Hartz IV". Dazu gibt es im DokZentrum ansTageslicht.de zwei Geschichten: Klagewelle gegen Hartz IV, aufrufbar unter www.ansTageslicht.de/HartzIV. Sowie die Geschichte einer Angestellten, die sich mit den Folgen von Hartz IV auseinandersetzen muss und zur Whistleblowerin wird, weil sie zu den vielen Unstimmigkeiten des Hartz IV-Systems nicht schweigen kann: Inge HANNEMANN aus Hamburg. Ihre Geschichte finden Sie unter www.ansTageslicht.de/Hannemann.