Asbest - Das tödliche Wunder. Ein anderes Fallbeispiel

1898 - vor über 110 Jahren - warnte ein englischer Fabrikinspektor erstmals vor Asbest. Seitdem haben Krebs und Staublunge Millionen Menschen umgebracht. Doch noch immer wird dieser gefährliche Stoff produziert.

 

Der folgende Artikel stammt von Manfred KRIENER, einer der beiden Chefredakteure des Umweltmagazins www.zeozwei.de. KRIENER's historischer Rückblick erschien am 29. Januar 2009 in der Wochenzeitung DIE ZEIT (Ausgabe Nr. 6). Wir können ihn mit freundlicher Genehmigung des Autors hier dokumentieren.

Die Anschrift des in Umweltfragen engagierten Journalisten: kriener[at]zeozwei.de


Innenminister Gerhart Baum von der FDP geht einen schweren Gang. Es ist der 19. Januar 1981, als die Fernsehkameras den für die Umwelt zuständigen Mann der Bundesregierung ins Bild setzen. Baum steht unter ungeheurem Druck, und er verlangt auf seiner Pressekonferenz auch Ungeheuerliches. Ein Stoff, der in der Industrie und in Millionen Gebäuden und Haushalten omnipräsent ist und unentbehrlich erscheint, soll aus dem Verkehr gezogen werden: Asbest!

Baum hat sich von seiner Fachbehörde, dem Umweltbundesamt (UBA), beraten lassen. Deren 411 Seiten schwerer Bericht 7/80 über das krebserregende Mineral hat schon vor seiner Veröffentlichung einen Sturmlauf der Industrie und wütende Briefwechsel ausgelöst; der Vorstandsvorsitzende des Asbestkonzerns Eternit, Wolf Lehmann, vergleicht die Auswirkungen der Studie mit denen eines »Erdbebens«. In der Tat ist der Bericht von beträchtlicher Wucht. Die UBA-Beamten dokumentieren darin mit klinischer Präzision die nicht mehr tolerierbaren Risiken. Sie fordern »Verwendungsbeschränkungen asbesthaltiger Produkte«, zumal viele Ersatzstoffe »anwendungsreif und im Handel verfügbar« seien. Baum ist entschlossen, die Konsequenzen zu ziehen. Die Bundesregierung, so verkündet er, will den Gebrauch von Asbest einschränken und »in bestimmten Bereichen ganz verbieten«. Die Superfaser soll, wo immer es geht, verschwinden.

Bis zum vollständigen Aus dauerte es allerdings noch zwölf tödliche Jahre; erst 1993 wurde Asbest in der Bundesrepublik tatsächlich verboten. Dennoch markiert der 19. Januar 1981 den Beginn des langsamen Ausstiegs aus dem Umgang mit einem Stoff, der »die größte Industriekatastrophe der Geschichte« ausgelöst hat, wie die Schweizer Journalistin Maria Roselli in ihrem 2007 erschienenen Buch Die Asbestlüge resümiert.

Bis heute hat der Asbestboom weltweit Millionen Opfer gefordert, die genaue Zahl verschwindet im Rauschen der Krebsstatistik. Viel zu lange wurde trotz eindeutiger medizinischer Befunde nicht die Bevölkerung, sondern die Asbestindustrie geschützt. Kein anderer Stoff, keine andere Chemikalie, kein Radionuklid hat rund um den Erdball mehr Menschen umgebracht. Heute sterben weltweit nach Angaben der International Labour Organization der UN rund 100.000 Menschen jährlich an asbesttypischen Krankheiten der Lunge und des Rippenfells, alle fünf Minuten gibt es ein neues Opfer.

Durch die jahrzehntelange Latenzzeit zwischen erster Exposition und Ausbruch der Erkrankung setzte die Lawine der Tumore erst mit großer Verzögerung ein. Inzwischen wird exakt Buch geführt. Allein im vergangenen Jahr erkannte die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) 948 neue Fälle von Rippenfellkrebs als Berufskrankheit an sowie 828 Fälle von Lungenkrebs und 2050 Asbestosen. Seit 1978 sind damit in der Bundesrepublik 57788 an Krebs oder Asbestose erkrankte Menschen als berufliche Asbestopfer entschädigt worden. Rund 500.000 Arbeiter in 53.165 Risikobetrieben hat die »Zentrale Erfassungsstelle asbeststaubgefährdeter Arbeitnehmer« registriert, 300.000 werden medizinisch betreut und in der Früherkennung beobachtet. 350 Millionen Euro zahlt die Unfallversicherung Jahr für Jahr nur für Behandlung und Renten. Und noch immer ist kein Rückgang der tödlichen Epidemie zu erkennen. Beim Lungenkrebs könnte die Spitze gerade erreicht sein, vermutet Heinz Otten, Leiter des Referats Berufskrankheiten der DGUV. Beim Mesotheliom, dem noch bösartigeren Krebs des Rippenfells, wird die Kurve vermutlich weiter steigen.

Schon Karl der Große ist vom feuerfesten Tuch fasziniert

Asbest ist kein dubioses Kunstprodukt, sondern ein Stoff, der an vielen Stellen der Erdkruste lagert. Der Name ist eine Sammelbezeichnung für faserförmig kristallisierende Minerale aus der großen Gruppe der Silikate.

Das geheimnisvolle Material betörte bereits in der Antike die Menschen mit seinen magischen Eigenschaften. Vor allem Dochte, Tücher und Netze wurden damals aus Asbest hergestellt. Auch Karl der Große soll Jahrhunderte später seine Tischgesellschaft mit dem Zauberstoff verblüfft haben. Er ließ einen aus Asbestfasern gewirkten Läufer ins Feuer halten und präsentierte dann das unversehrt gebliebene Tuch, von allen Spuren des Mahls gesäubert, den staunenden Gästen.

Das griechische Wort asbestos (»unvergänglich«) steht für diese, die wichtigste Eigenschaft der Faser: Sie verbrennt nicht, übersteht größte Hitze bis 1000 Grad. Und nicht nur das: Asbest isoliert gegen Wärme, Kälte und Nässe, gegen Schall und Säure, er ist zugfest und elastisch, er fault und rostet nicht, ist leicht und witterungsbeständig. Vor allem aber ist er billig und in großen Mengen verfügbar. So machte die Faser als »Material der tausend Möglichkeiten« Karriere, als »Seide des Mineralienreichs« gerühmt.

Mit der Ausbeutung der großen kanadischen Vorkommen begann 1877 die Geschichte des industriellen Abbaus; noch heute liegen die lohnendsten Lagerstätten dort, in Russland und im südlichen Afrika. 1870 waren in Frankfurt am Main die Asbestwerke Louis Wertheim gegründet worden, die erste Asbest verarbeitende Fabrik Deutschlands. Bis 1925 stieg die Zahl der Firmen auf 59, bis 1980 auf über 1000.

Vor allem als Baustoff wurde Asbest immer beliebter. Der Österreicher Ludwig Hatschek mischte erstmals die rohen, aus dem zermahlenen Asbesterz gewonnenen Fasern mit Zement und stellte daraus Platten her. 1900 ließ er sich seine Erfindung patentieren und nannte sie Eternit, nach aeternus, dem lateinischen Wort für ewig.

Fünfzig Jahre später eroberte der Alleskönner in seiner neuen Form die Baustellen der Welt. Egal ob Wände, Dächer oder Fußböden: Asbestzement war das ideale Material. Der Trennschleifer schnitt die Platten zurecht, die Arbeiter standen dabei in dichten Staubwolken, Blaumann und Haare weiß gepudert, als ob es geschneit hätte. Der Baustoff sei »sowieso nicht gefährlich«, meinte noch 1984 der Schweizer Eternit-König Max Schmidheiny, »weil die Fasern im Zement eingebettet sind«. Ein fataler Irrtum.

Doch auch im Schiffsbau wurde tonnenweise Asbest eingesetzt, um dem Salzwasser Widerstand zu bieten. Telefondrähte und Hochspannungsleitungen wurden damit ummantelt und so vor Überhitzung und Feuchtigkeit geschützt. Brems- und Kupplungsbeläge der Autos waren ebenso aus der Wunderfaser gefertigt wie Topflappen, Toaster, Schutzkleidung und Kraftwerksturbinen. Wenn an Weihnachten der Tannenbaum ins Wanken geriet, sorgte feuerfester Christbaumschmuck für eine Stille Nacht ohne Feuerwehr. In Lokomotiven wurden die Heizkessel mit Asbestmatratzen eingepackt, wichtige Dokumente waren auf unbrennbarem Faserpapier verewigt. Zu Beginn der achtziger Jahre wurden mehr als 3000 Produkte aus dem tödlichen Stoff hergestellt, und der Staub saß in allen Fugen der Gesellschaft.

Dabei waren die verheerenden Folgen längst dokumentiert. Bereits 1898 hatte in London der königliche Chefinspektor der Fabriken in seinem Jahresbericht die »bösen Auswirkungen des Asbeststaubs« beschrieben: »Eine mikroskopische Untersuchung offenbart die scharfe, glasartige, zackige Natur der Partikel. Dort, wo sie sich in der Raumluft befinden, egal in welchem Ausmaß, sind die nachgewiesenen Folgen schädlich.«

Zur selben Zeit hatte der italienische Arzt L.Scarpa das Sterben von 30 Arbeitern einer Asbestmine und -spinnerei beschrieben. Zwölf Jahre lang, von 1894 bis 1906, behandelte er sie wie Tuberkulosekranke. Vergeblich, sie erlagen alle ihrem Lungenleiden. Ebenso wie die 16 Arbeiter eines französischen Betriebs, deren Krankenberichte 1906 veröffentlicht wurden. Doch die Röntgentechnik steckte noch in ihren Anfängen, und es fiel schwer, asbestverursachte Krankheiten vom Massenleiden Tuberkulose zu unterscheiden.

Der erste eindeutige Befund kam im Jahr 1900 wieder aus London. Der Pathologe Montague Murray hatte den Leichnam eines 33-jährigen Arbeiters obduziert. In der Lunge fand er nicht die Todesspuren der Tuberkulose, sondern entzündetes, verletztes Gewebe, das mit Asbestnadeln gespickt war – der erste Beleg einer Asbestose. Ihren Namen erhielt die Krankheit dann 1924 vom britischen Pathologen W. E. Cooke. Damals ahnte noch niemand, dass die Asbestose unter den drei Asbestkrankheiten noch die harmloseste ist.

Wie die Silikose der Bergleute ist sie eine Staublungenkrankheit. Die kleinsten Staubteilchen (0,01 bis 2 Mikrometer im Durchmesser) schlüpfen durch alle Filtersysteme der Atemwege und gelangen so tief in die Lunge, dass sie der Körper nie mehr loswird. Sie entzünden das Gewebe, das allmählich vernarbt. Im besten Falle führt dies nur zu Atemnot und Husten. Wenn das Gewebe entartet, entsteht aus der Asbestose ein Karzinom. Das kann sich nach Inhalation von Asbestfasern aber auch ohne Staublunge entwickeln.

In den dreißiger Jahren begann die Fährtensuche beim Lungenkrebs. 1932 dokumentierten Ärzte, dass die Arbeiter der britisch-amerikanischen Asbestfabrik Turner & Newill auffällig häufig an Tumoren erkrankten. Sechs Jahre später veröffentlichte der deutsche Mediziner Martin Nordmann eine Studie über zwei Asbestarbeiter. Seine These: Die Mineralfaser verursacht Lungenkrebs. 1940 bestätigten die Labormäuse des US-Forschers Leroy Gardner den Befund auf eindrucksvolle Weise: Mehr als 80 Prozent der Versuchstiere, die Asbeststaub inhalierten, erkrankten. Gardner war Direktor des New Yorker Saranac-Instituts, das Berufskrankheiten erforscht. Doch seine Versuche wurden nicht publiziert, das Institut war auf Geld der Industrie angewiesen und ließ die brisanten Zahlen verschwinden. Aus Italien, Frankreich, Norwegen und Großbritannien kamen in den folgenden Jahren immer eindeutigere Befunde. Noch einmal versuchten die Asbestproduzenten, das Gegenteil zu beweisen. Gardners Nachfolger bei Saranac, Arthur Vorwald, finanzierte 1950 mit kanadischen Asbestdollars eine »interne« Studie, die das Mineral von allem Verdacht freisprechen sollte. Der Schuss ging nach hinten los, und die vernichtenden Ergebnisse wurden wieder nicht veröffentlicht.

Das Unbestreitbare ließ sich nicht mehr bestreiten: Asbeststaub ist ein gefährliches Karzinogen, mit einer mittleren Latenzzeit für Lungenkrebs von 15 bis 20 Jahren. Von den Erkrankten überlebt auch heute nur jeder sechste die ersten fünf Jahre nach der Diagnose. In Deutschland zog man früh die ersten Konsequenzen. So wurde 1942 Lungenkrebs bei Asbestarbeitern als Berufskrankheit anerkannt, wenn auch nur in Verbindung mit einer Asbestose. Die war schon im Dezember 1936 – mit der Dritten Verordnung über Berufskrankheiten – als entschädigungspflichtig aufgenommen worden. Endlich bekamen die erkrankten Arbeiter mehr als nur die »Staubzulage« von einem halben Liter Milch pro Tag.

Die bösartigste Asbestkrankheit indes, der Mesotheliom genannte Krebs des Rippenfells, blieb weitere Jahrzehnte im Dunkeln. Dieser Krebs war ein extrem seltenes Leiden, doch in den fünfziger Jahren begann er plötzlich häufiger aufzutreten. 1954 untersuchte der südafrikanische Arzt Chris Wagner im Auftrag der Johannesburger Forschungsgruppe für Atemwegserkrankungen die Beschäftigten in den Asbestminen. Die Arbeitsbedingungen waren katastrophal. Ein englischer Fernsehjournalist beschrieb sie Jahre später so: »Große blaue Staubwolken liegen über den Minen. Wo der Asbest auf primitivste und gefährlichste Weise vom Stein gelöst wird, verrichten Frauen, oft mit Babys auf dem Rücken, Handarbeit. Riesige
Müllhalden voller Asbestfasern sind dem Wind ausgesetzt.«

Die Latenzzeit bei Rippenfellkrebs kann 40 Jahre betragen

Wagner erfasste gleich 33 Fälle von Rippenfellkrebs, und es gelang ihm, den Zusammenhang zwischen Asbest und dieser Krankheit offenzulegen. Die verstörendste Nachricht aber verbarg sich hinter einer anderen Zahl seines Berichts: Nur acht der 33 Erkrankten hatten in der Fabrik gearbeitet. Die anderen 25 hatten als Kinder im Umfeld einer Mine gelebt und den tödlichen Staub eingeatmet. Der 1960 veröffentlichte Report löste, wie nicht anders zu erwarten, massive Attacken der Industrie aus und schrieb dennoch Medizingeschichte. Er »veränderte das Verständnis der Asbestgefahren und verband Arbeit, Umwelt und Krebs«. So bilanzieren die Medizinhistoriker Jock McCulloch und Geoffrey Tweedale Wagners Werk in ihrem gerade in der Oxford University Press erschienenen Buch Defending the Indefensible – The Global Asbestos Industry and its Fight for Survival .

Tatsächlich waren nicht nur die Arbeiter, sondern auch deren Familien dem in Haaren und in der Kleidung nach Hause gebrachten Staub ausgesetzt. Ebenso hatten alle Anwohner von Asbestfabriken und selbst Kühe, die in der Nähe weideten, ein erhöhtes Krebsrisiko. Sogar die Wachhunde der Werksgebäude keuchten vor Atemnot.

Natürlich konnte jeder Heimwerker, der zu Hause mit Asbestplatten hantierte oder nur die Bremsbeläge seines Autos wechselte, von einer der drei Krankheiten erwischt werden. Selbst in geringsten Dosen bleibt Asbest ein stark krebserregender Stoff. Es gibt keinen Grenz- oder Schwellenwert. Und in den meisten Fällen keine Heilung. Maria Roselli hat das grausame Sterben von Mesotheliom-Patienten beschrieben. Die mittlere Überlebenszeit nach der Diagnose beträgt 13 Monate. Die Latenzzeit bis zum Ausbruch der Krankheit liegt bei 20 bis 40 Jahren.

Wie immer warnt die Industrie vor dem Verlust von Arbeitsplätzen

Diese lange Latenz machte und macht den asbestbedingten Krebs zur Zeitbombe. So mussten 1970 in der Bundesrepublik nur zwei Krebskranke von der Gesetzlichen Unfallversicherung entschädigt und berentet werden, 1975 waren es schon 15. Im Jahre 2002 wurde erstmals die Grenze von 1000 registrierten Fällen überschritten.

Die Zeitverzögerung kaschierte die tödlichen Folgen und erlaubte es der Industrie, die Illusion vom sicheren Umgang mit Asbest (»safe use«) aufrechtzuerhalten. Zwar führte man in der Bundesrepublik 1974 mit der Technischen Anleitung »TA Luft« neue Grenzwerte ein und verschärfte die Arbeitsschutzbestimmungen. Die Produktion der Wunderfaser aber blieb davon unberührt. Während die Warnrufe der Wissenschaftler, allen voran US-Forscher Irving Selikoff, immer lauter wurden, erreichten Asbestausstoß und -verbrauch Mitte der siebziger Jahre Rekordhöhen. 1973 lag die weltweite Jahresproduktion – es war der Gipfelpunkt – bei 5,3 Millionen Tonnen.

Das vier Jahre später in der Bundesrepublik verhängte Verbot für den besonders gefährlichen Spritzasbest bedeutete dann eine erste schwere Niederlage der Branche, die sich mit der Studie des Umweltbundesamts 1980 final verschärfte. »Doch ohne die ständigen Berichte der Medien hätten wir es nie geschafft«, sagt Umweltbundesamt-Direktor Wolfgang Lohrer heute. So attackierte der Spiegel im Dezember 1980 (»Jedes Jahr 10.000 Tote durch Asbest?«) die Verharmlosungsstrategie der Industrie. Die um ein kräftiges Wort nie verlegene Berliner Journalistin Lea Rosh verglich in der ZDF-Sendung Kennzeichen D die Chefs der Asbestindustrie mit Mördern.

Auf der anderen Seite der Barrikade kämpfte ausgerechnet das industrienahe Bundesgesundheitsamt, das sich mit dem Umweltbundesamt einen harten Expertenkrieg lieferte und ein schnelles Ende des Asbesteinsatzes verhinderte. Das Umweltrisiko entspreche dem von »zehn Zigaretten pro Jahr«, behaupteten die Gesundheitshüter allen Ernstes. Das UBA konterte 1981 mit einem »Fahrplan« für die Bundesregierung, nach dem Asbest schrittweise verboten werden sollte.

Die Industrie war empört. Sie drohte und warnte – wie stets, wenn die Not am größten ist – vor dem »Verlust von Arbeitsplätzen«. Schließlich einigte man sich auf ein Tauschgeschäft: Der Wirtschaftsverband Asbest sicherte zu, das Mineral, wo immer möglich, zu ersetzen. Dafür sollte die Verbotskeule vorerst im Schrank bleiben. »Diese Entscheidung haben wir nie bereut«, bilanziert UBA-Direktor Lohrer das Vorgehen. »Es war der Beginn des Ausstiegs.«

Heute ist Asbest hierzulande tabu, und wo er in Gebäuden auftaucht, wird gesperrt, saniert, entsorgt. Doch jenseits der EU sieht das anders aus. In den meisten Ländern gibt es kein Asbestverbot. Die Produktion läuft munter weiter: Mehr als zwei Millionen Tonnen – mit leicht steigender Tendenz – werden jährlich hergestellt. Dabei ist Russland mit 39 Prozent der größte Produzent; es folgen China mit 16, Kasachstan mit 15, Kanada und Brasilien mit 9 und Simbabwe mit 7 Prozent.

Als einziges westliches Land versucht Kanada auf aggressive Weise alle internationalen Abkommen zur Eindämmung der Asbestproduktion und -verwendung zu torpedieren. Vor allem in der EU stößt diese haarsträubende Politik auf Empörung. Denn auch uns werden die Hinterlassenschaften des Asbestbooms noch jahrzehntelang bedrücken – vor allem in der Krebsstatistik. Immerhin hat man hier spät (und für viele Menschen zu spät!) begriffen, was auf dem Spiel steht. Für Gerhart Baum ist Asbest »ein Paradebeispiel dafür, wie lange es dauert, bis sich medizinische Erkenntnisse gegen wirtschaftlichen Druck durchsetzen. Meistens braucht es erst eine Katastrophe.«

 

zurück zum Überblick der Geschichte "Ein junger Staatsanwalt gegen die Grosschemie"