Kölner Stadt-Anzeiger direkt nach dem Einsturz, 04.03.2009

Das Gedächtnis der Stadt zerstört

Das Gedächtnis der Stadt zerstört

Kölner Stadt-Anzeiger , 04.03.2009 
von Martin OEHLEN

Dies ist die schwarze Stunde. Keine Kölner Katastrophe der vergangenen Jahrzehnte zielt so tief in die Seele der Stadt wie der Einsturz des Historischen Archivs. Noch ist nicht gewiss, ob und wie viele Menschen zu Schaden gekommen sind - und so lange keine Klarheit über die Vermissten besteht, gilt ihnen die erste und größte Sorge.

Zur Sorge um die Menschenleben kommt der Verlust der Schätze. Diese können nicht in Zahlen beziffert und in Regalmetern bemessen werden. Hier handelt es sich um das größte kommunale Archiv diesseits der Alpen. Um die aktenkundig gewordene Vergangenheit, auf der wir unsere Zukunft bauen. Um das Gedächtnis der Stadt.

Die Archivalien greifen tief zurück ins 10. Jahrhundert. Sie dokumentieren nicht allein die Historie einer stolzen Stadt. Sie erlauben vielmehr einen Einblick in die Geschichte des deutschen Reiches und damit in die Geschichte Europas. Im Mittelalter zählte Köln zu den mit Abstand größten und bedeutendsten Städten des Kontinents. Hier wurde nicht nur Lokalpolitik gemacht, sondern Reichspolitik - mit dem Erzbischof als einem der wichtigsten Gestaltern. All dies wurde dokumentiert in Akten und Dokumenten jedweder Art.

Was nun eingetreten ist, ist der größte anzunehmende Unfall für ein Archiv. Das Ausmaß des Verlustes lässt sich vermutlich erst in einigen Wochen überblicken. Zahlreiche Quellen, die dort gelagert waren, werden wohl nicht mehr zu retten sein. Was kann schon eine mittelalterliche Pergament-Handschrift einer Betondecke entgegensetzen? Was ein brüchiges Papier einem Stahlträger?

Gleich fühlt man sich schmerzhaft an die Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar erinnert, bei deren Brand zahlreiche wertvolle Bücher in Flammen aufgingen oder im Löschwasser sich auflösten. Ein enormer Verlust, der das geistige Deutschland ins Mark traf. Doch der Verlust, der nun zu beklagen ist, wird wohl mindestens so groß sein. Es wird hier erst recht eine nationale Aufgabe sein, zu retten, was noch zu retten ist.

Denn es ist ja nicht damit getan, dass dieses und jenes im Laufe der Jahre auf Filmen dokumentiert worden ist. Der wissenschaftlichen Forschung wird es stets darum gehen müssen, sich mit dem Original auseinanderzusetzen. Dies gilt auch für die vielen Nachlässe, die sich mittlerweile im Besitz des Archivs befinden. Was dies für die Stifter und ihre Familien bedeutet, die ihr Lebenswerk im Archiv ihrer Stadt wohl verwahrt wähnten, ist leider sehr leicht vorstellbar: Entsetzen - ein so blankes wie das eines jeden, dem die Überlieferung wichtig ist.

Die Unglücksursache schnell zu klären, ist jetzt eine lebensnotwendige Maßnahme. Wer weiß denn, ob nicht heute an anderer Stelle der Stadt der Boden nachgibt? Dabei geht es nicht um Panikmache, sondern schlicht um die Sicherheit der Bürger dieser Stadt und ihrer Besucher. Naheliegend ist die Annahme, dass der U-Bahn-Bau mit dem Einsturz in Verbindung zu bringen ist. Der schiefe Kirchtum von Sankt Johann Baptist an der Severinstraße war im Jahre 2004 womöglich nur das Menetekel für das bevorstehende noch größere Unglück.

Jetzt geht es um einen optimalen Rettungseinsatz. Und dann um die Frage der Schuld. Der Hinweis, dass es viele Warnungen vor den Rissen im Gebäude gegeben hat, birgt eine erhebliche politische Sprengkraft. Was wusste die Verwaltung? Wer hat Warnungen womöglich nicht ernst genommen? Die Stadtspitze muss für restlose Klarheit sorgen, um nicht vollends das Vertrauen zu verlieren. Das ist durch diesen Einsturz sowieso schon stark gestört.