Der 2. Artikel: "Das Ende der 'Türkenschule' "

Von Philip EPPELSHEIM, Duisburg im April 2008

Trist ragen die viergeschossigen Waschbetonklötze in den grauen Himmel. Das metallene Schild "Schule ohne Rassismus / Schule mit Courage" reiht sich am Eingang des Hauptgebäudes in die betonierte Ödnis ein. Auf dem Hof verlieren sich die wenigen Schüler. Im Inneren der Sechziger-Jahre-Bauten herrscht in manchen Klassenzimmern das Schweigen der Verlassenheit. Die Stühle sind sorgsam auf die Tische gestellt, auf den Tafeln stehen die Worte längst vergangener Unterrichtsstunden. Dort, wo einst die Klassenstufen fünf und sechs unterrichtet wurden, herrscht Stille: keine Kinderstimmen, keine mahnenden Lehrerworte. Und in den anderen Räumen, aus denen noch Gemurmel dringt, haben sich die Reihen der Schüler gelichtet. Sieben Pennäler besuchen noch die achte Klasse. Viele sind in den vergangenen beiden Jahren gegangen. Nur noch 300 der ehemals 600 Schüler drücken hier die Bank. Kaum etwas erinnert noch an die Zeit vor vierzig Jahren, als der Schulkomplex und mit ihm die Erwartungen in die Höhe gezogen wurden. Damals war das Clauberg-Gymnasium eine Hoffnung für die Stadtteile Hamborn und Marxloh im Duisburger Norden. Dort, wo die Arbeiter wohnten und wohnen.

"Den Arbeitnehmerkindern sollte ermöglicht werden, das Abitur machen zu können", sagt Volker Thierfeld. Das war seinerzeit das Bestreben der SPD. Bildung sollte nicht mehr vom Geldbeutel abhängen. Und so entstand das Clauberg-Gymnasium mit einer Mensa, einem Computerraum, einer Schülerbibliothek, einem Fotolabor und sogar einem Gymnastikraum. "Hier wurde richtig investiert." Und Kinder wie Thierfeld kamen in den Genuss der Investitionen, die in die zweite Ganztagsschule des Landes Nordrhein-Westfalen flossen. In den siebziger Jahren drückte Thierfeld hier die Bank. Damals schallte Stimmengewirr noch aus allen Klassenräumen.

Doch das ist Vergangenheit, das Ende der Schule ist unausweichlich. Auch wenn Thierfeld und andere gegen die Schulschließung gekämpft haben und nie die Hoffnung aufgeben wollten.

2010 wird der letzte Schüler des Clauberg-Gymnasiums das Abitur machen. Dann wird das Gymnasium Geschichte sein, wie die letzte Zeche, die in diesem Jahr im Duisburger Norden schließt, wie so vieles, was hier in den Gettos der Gastarbeiter den Bach runtergegangen ist. Nur die Waschbetonplatten werden vom Gymnasium übrig bleiben, das immer eine Vorzeigeschule sein wollte, doch nie als solche gesehen wurde. "Wir waren schnell als Proletenschule abgetan", erinnert sich Thierfeld. Hier in Marxloh und Hamborn hätten nun einmal viele Arbeiter gewohnt, und so hätte die Schule ihren Ruf weggehabt.
Thierfeld selbst hat es nie gestört: Der Mann mit dem rundlichen, stets freundlich wirkenden Gesicht ist der Schule als Vorsitzender der Schulpflegschaft verbunden geblieben. Er hat erlebt, wie aus der einstigen "Proletenschule" die "Türkenschule" wurde, weil immer mehr Ausländer in den armen Norden zogen. "Ist halt wie der Norden einer jeden Stadt."

Der Ausländeranteil liegt bei 75 Prozent. Die "deutschstämmigen" Anwohner sind in der Minderheit. Thierfeld hat seinen Sohn dennoch auf das Clauberg-Gymnasium geschickt. "Warum auch nicht." Sein Sohn ist in der siebten Klasse, im nächsten Schuljahr wird er die Schule verlassen müssen. Weil andere sich an der "Türkenschule" störten: 1998 sollte das Gymnasium zum ersten Mal geschlossen werden. Eltern, Schüler und Lehrer schafften es, die Schließung zu verhindern, den Stadtrat und den Schulausschuss umzustimmen. Acht Jahre später waren die Demonstrationen vor dem Duisburger Rathaus und das Hilfeersuchen bei der Türkischen Botschaft vergebens: 13 Schüler zu wenig hatten sich für das Schuljahr 2006/2007 angemeldet. "Wir hatten 39 statt der geforderten 52."

Die Bezirksregierung Düsseldorf als zuständige Schulbehörde untersagte daraufhin die Bildung von Eingangsklassen. Die Anmeldezahl sei definitiv zu gering, hieß es in einem Brief an die Eltern. Zudem sei bei einer Lehrstandserhebung ein "nicht schulkonformes Niveau der schulischen Leistungen" festgestellt worden. CDU und Grüne stimmten für die Schließung, die SPD enthielt sich, und die Linkspartei stimmte dagegen. Thierfeld kann nicht verstehen, warum seine Schule geschlossen wird. "Ich dachte, da spricht jeder von kleinen Klassen, und nun soll das der Grund sein?"

Die Schule sei einzigartig gewesen, sagt Thierfeld. 2005 wurde sie zu einer "Mitarbeitenden Unesco-Projekt-Schule", die sich für Menschenrechte und Demokratie einsetzte. Ihr wurde der Titel "Schule ohne Rassismus" verliehen. Als einziges Duisburger Gymnasium hatte die Schule Auffangklassen, in denen Ausländer Deutschförderunterricht bekamen. Türkisch konnte als Abiturfach gewählt werden.
"Mit diesen Projekten und Konzepten haben wir vergeblich versucht, das Ruder rumzureißen", sagt der Lehrer Wolfgang Kastrup. Es sei nach dem Schließungsversuch klar gewesen, dass die Schule sich immer wieder neu bewähren müsste, um eine neue Debatte zu verhindern. Manch ein Fehler sei aber auch in der Schule gemacht worden, meint Kastrup. Es sei falsch, die Schuld nur anderen zuzuschieben. So habe nicht immer Einigkeit über den pädagogischen Weg geherrscht.

Vor einigen Jahren gab es im Clauberg einen "enormen Lehrerwechsel". Viele engagierte alte Lehrer gingen in den Ruhestand, die neuen konnten sich nicht richtig mit der Schule identifizieren. "Es war denen egal, was mit der Schule passiert", sagen einige Eltern. Vor allem einem sei es gleichgültig gewesen: dem Schulleiter. Als er vor drei Jahren kam, sei die Schule "runtergefahren" worden. "Wir konnten nicht mit ihm sprechen. Wir wollten gerne an einem Strang ziehen, aber es ging nicht."

Als einer der Ersten räumte der Schulleiter im Februar seinen Schreibtisch. Viele Lehrer sind ihm gefolgt, und auch die verbliebenen schauen sich nach anderen Stellen um. "Im kommenden Schuljahr wird es einen massiven Weggang geben", sagt ein Kollege von Kastrup. Wenn es nur noch die Klassen 10, 12 und 13 gibt. Der Schulleiter der benachbarten Gesamtschule Duisburg-Hamborn/Neumühl, Ulrich Stockem, führt nun die Geschäfte des Clauberg-Gymnasiums. Am Telefon hat die Sekretärin gesagt: "Einen Schulleiter, den gibt es nicht mehr." Und so sieht es auch Stockem. "Ich bin wie ein Insolvenzverwalter in einem Unternehmen." Er findet es erschreckend, die Perspektivlosigkeit der Schüler zu erleben: "Mir läuft es kalt den Rücken herunter." Die Kinder und Jugendlichen sagen: "Wir werden nicht gebraucht, wir sind es nicht wert, dass die Schule erhalten bleibt." Kaum einer der verbliebenen Schüler freut sich noch auf den Unterricht. Es sei traurig, dass den Schülern so etwas zugemutet wird. "Die Kinder sehen ihre Schule mittlerweile nur noch als Stigma an."

Dilan Sert und Hasan Al sind in der zwölften Klasse. "Wir haben als Oberstufenschüler wenig Probleme", sagen sie. Ihre meisten Schulkameraden sind geblieben. Der Unterricht geht normal weiter. Natürlich sei störend, dass jetzt mitten in der Phase vor dem Abitur die Lehrer oft wechselten. Aber schlimmer sei es für die aus der siebten Klasse wie Thierfelds Sohn, die nun die Jüngsten seien. "Es gibt niemanden aus anderen Klassen, mit dem sie sich anfreunden können oder mit dem sie lernen können." Es falle zudem viel Unterricht aus, weil immer mehr Lehrer die Schule verlassen. "Die Schüler sind verunsichert. Und sie sind demotiviert", beschreibt Schülersprecherin Sert die Situation. Sie selbst ist nach dem Schulschließungsbeschluss in die Linkspartei eingetreten. Von allen anderen fühlte sie sich im Stich gelassen.

Viele Eltern haben gesagt: "Mit der Bildung unserer Kinder darf man nicht experimentieren." Die Nachricht von der Schließung führte zu einer Fluchtbewegung, zu Verunsicherung: "Mein Kind soll nicht das letzte sein, das diese Schule verlässt", hieß es. Von der Schule übriggeblieben ist nur eines: das Bild von der "Türkenschule", die nur für Türken und "ganz schwache Deutsche" da ist.

Das war schon immer die Schwierigkeit für das Clauberg-Gymnasium: eine nicht gewollte Gettoisierung. "Das hat dazu geführt, dass es letztendlich eine Mehrheit im Stadtrat gegen uns gegeben hat", sagt Thierfeld. Es soll eigentlich mehr Anmeldungen gegeben haben. Schüler hätten von Freunden gehört, dass man sie nicht aufnehmen wollte. Eltern soll gesagt worden sein: Meldet euer Kind nicht an dieser Schule an. Doch vieles, sagt Thierfeld, könne man nicht beweisen. "Es ist alles Hörensagen." Tatsache aber ist, dass die regionale Presse eine Woche vor Beginn des Anmeldetermins an Schulen den Schuldezernenten mit den Worten zitierte, es gebe in Duisburg zu viele Gymnasien und zumindest eines im Norden der Stadt sei überflüssig. Und jeder wusste, welche Schule gemeint war.

Gegen ihren Ruf kam die Schule nicht an. In den Grundschulen der Umgebung wurde Eltern empfohlen, ihre Kinder nicht auf das Clauberg-Gymnasium zu schicken. Die deutschen Anwohner sagten: "Geh bloß nicht zum Clauberg, da gehen nur die Türken hin." So musste Dorothee Morck sich anhören, dass ihre Söhne doch nicht auf diese "Türkenschule" gehen sollten. Keiner konnte es verstehen, dass sie "als Deutsche" sich für das Clauberg entschied, ihre Söhne dafür sogar eine Fahrtzeit von 1,5 Stunden in Kauf nahmen. "Dabei geht es meinen Kindern hier gut." Doch viele andere wollten gar nicht hinter die Waschbeton-Fassade schauen. Sie warnten vor der Schule und sorgten dafür, dass deutsche Kinder nicht auf die Schule gingen. Und den türkischen Anwohnern warfen sie vor, sich nicht integrieren zu wollen.

Zuhal Abdulwahid ist eine Frau, die für die moderne Türkei (in Deutschland) steht. Als Kind kam sie nach Deutschland, studierte hier Betriebswirtschaftslehre. Zu 80 Prozent sei sie Duisburgerin, sagt sie. Die übrigen 20 Prozent symbolisiert das Kopftuch der Fünfzigjährigen. Als sie ihren Sohn auf dem Clauberg einschulen lassen wollte, hieß es: "Warum denn das, er kann doch Deutsch." Und es würden einem dann Vorwürfe gemacht, dass so viele türkischstämmige Kinder diese Schule besuchen. "Uns wurde gesagt: Wer soll denn bei euch integriert werden? Von den 39 Neuanmeldungen, die ihr hattet, waren doch 37 Türken." Abdulwahid kann diese Vorwürfe nicht verstehen. "Was erwartet man in einem Stadtteil, in dem 75 Prozent Migranten leben."

Das Gymnasium habe viel für Türken getan. Man habe Türkisch als Fach eingerichtet und die Kinder intensiv gefördert. "Und nun wird einfach die Laufbahn abgebrochen, und der Schuldezernent sagt: Nehmt eine andere Fremdsprache. Aber wie soll das gehen?" Abdulwahid und die anderen türkischen Eltern haben den Eindruck, dass alle Türken auf Hauptschulen gehen sollen. "Anscheinend denkt die Stadtspitze, dass sich dieses ,Problem' dann erledigt." Ihre Tochter, die jetzt in der vierten Klasse ist, wird Abdulwahid im nächsten Schuljahr in das zwei Kilometer entfernte Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium schicken. Und auch viele andere Eltern werden ihre Kinder dort einschulen. "Dann wird eben das die Türkenschule."

Die Bezirksregierung habe sich keine Gedanken über die Folgen einer Schließung der Schule gemacht, sagt auch Thierfeld. "Sie hat nicht darüber nachgedacht, was es für Schüler, Eltern und Lehrer bedeutet." Die "Herren da oben" hätten schon lange etwas gegen die Schule gehabt und dem Stadtrat "ein Messer auf die Brust gesetzt". Wie sei es anders zu erklären, dass sowohl Stadtrat als auch Schulausschuss zunächst für einen Erhalt plädierten. "Und als das Ende gekommen war, dachte wohl jeder, alles erledige sich von selbst." Viel Zeit sei vergangen, bis die Stadt sich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt hat.

Die Bezirksregierung hatte den Eltern mitgeteilt, dass die "besonderen konzeptionellen und pädagogischen Schwerpunktsetzungen des Gymnasiums" einen hohen Stellenwert haben. Sie seien "unbedingt erhaltenswert". Türkisch solle in Hamborn als zweite Fremdsprache wählbar sein und alle Schüler die Möglichkeit haben, ihre Schullaufbahn am Clauberg-Gymnasium zu beenden. Dann hieß es aber doch, die Kinder sollten sich eine andere Schule suchen.

In nahezu allen Schularten waren die Schülerzahlen im Schuljahr 2007/2008 rückläufig, nur in Gymnasien stiegen sie um 0,5 Prozent. Deutlich unterrepräsentiert an Gymnasien sind dabei mit 4,3 Prozent ausländische Kinder. "Warum wird in dieser Situation ausgerechnet unsere Schule geschlossen?", fragt Thierfeld. Das benachbarte Gymnasium sei schon jetzt überfüllt. Um die verbleibenden Schüler aufnehmen zu können, müsse es zusätzliche Klassen einrichten. So werden viele Schüler auf die Gesamtschule von Ulrich Stockem wechseln. 

abgedruckt in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Sonntagszeitung vom 29.4.2008, Seite 3