Wissenschaft verkehrt. Oder: Wie Gesetzgebung und Vollzug wissenschaftliche Erkenntnisse missbrauchen

Dargestellt am Beispiel elektromagnetischer Felder.

Ein Fachbeitrag von Wilfried KÜHLING.

Erschienen in der Zeitschrift umwelt-medizin-gesellschaft, Ausg. 1/2020, S. 11-18, die getragen wird von mehreren Umwelt- und Medizinverbänden: Deutscher Berufsverband Klinischer Umweltmediziner (dbu), Deutsche Ges. f. Umwelt-Zahnmedizin (DEGUZ), Deutsche Ges. f Umwelt- und Humantoxikologie (DGUHT), European Academy for Environmental Medicine (EUROPAEM), Interdisziplinäre Ges. f. Umweltmedizin (IGUMED), Ärztegesellschaft f. Klinische Metalltoxikologie (KMT) und dem Ökologischen Ärztebund (ÖÄB).

Prof.(em) Dr.-Ing. Wilfried KÜHLING war Prof. f. Raum und Umweltplanung am Institut f. Geowissenschaften und Geographie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, lange Zeit Vorsitzender des wiss. Beirats des Bund für Umwelt und Naturschutz e.V. (BUND) und Mitglied im Bundesvorstand, jetzt im Vorstand der KOMPETENZINITIATIVE.


Zusammenfassung

Die Regulierung gesundheitlich bedenklicher oder gefährlicher Noxen bedarf dringend einer Neuausrichtung, wie dies am Beispiel der elektromagnetischen Felder exemplarisch deutlich wird. Insbesondere sind es die Verkürzung auf einen Kausalbezug als einzige Ausprägung wissenschaftlicher Erkenntnis, die übergangenen Kombinationswirkungen mit anderen Noxen und die immanente Tatsache subjektiver Bewertungen, die sich einem allein wissenschaftlich geführten Nachweis entziehen. Eine fachlich, politisch und rechtlich korrekte Umgangsweise mit diesen Defiziten bietet das fachgesetzlich eingeführte Vorsorgeprinzip, welches weitgehend missachtet wird.

1 Das Problem des "wissenschaftlichen Nachweises"

1.1 Problemstellung

Unsere heutige Lebensumwelt ist durch eine Vielzahl von gesundheitlich wirksamen Noxen (1) geprägt. Sie wirken biologisch, chemisch oder physikalisch (und auch in Mischformen) auf die verschiedenen Schutzgüter der Umwelt (2) ein, wie beispielsweise durch Stäube, Gase, Strahlen oder Lärm. Während viele solcher Noxen mit bekannten schädigenden Wirkungen (3) durch entsprechende gesetzliche Regulierungen verbannt oder begrenzt werden, bleiben bei manchen Noxen mit nur geringer Dosis, bei langzeitigen, schleichenden oder hinsichtlich ihrer Wirkungen nur unspezifisch einzuordnenden Effekte entsprechende Maßnahmen zum Schutz der Schutzgüter aus. Obwohl häufig wissenschaftliche Untersuchungen bei entsprechender Exposition z. B. beim Menschen gesundheitlich relevante Effekte anzeigen und

Maßnahmen zur Begrenzung solcher Wirkungen durch Gesetzgebung und Vollzug erwarten lassen. Diese bleiben jedoch aus. Es stellt sich daher die Frage nach den Hintergründen solcher Unterlassungen.

Das generelle Versagen in solchen Fragen ist hinreichend dokumentiert und belegt einerseits eine oft unwirksame gesellschaftlich-politische Steuerung, da häufig wirtschaftliche Interessen und andere entgegenstehen (EUA 2016). Andererseits begegnen uns im Konkreten „Entwarnungen“, wenn – trotz vorliegender Hinweise auf relevante Effekte – Fragen zu fehlenden Maßnahmen damit beantwortet werden, Effekte seien „wissenschaftlich nicht nachgewiesen“. Diese Antwort ist häufig bei elektromagnetischen Feldern bzw. Strahlen zu finden. Versagt hier die staatliche Regulierung? Dieser Frage soll an Beispielen nachgegangen werden (Kapitel 2 und 3). Erforderliche Schritte zum Umgang mit den Defiziten sind daraus abzuleiten (Kapitel 4).

Zunächst aber zur generellen Frage, was sich hinter der Formulierung „wissenschaftlich nicht nachgewiesen“ verbirgt. Zunächst heißt das nicht, dass wissenschaftliche Studien fehlen, die Effekte etc. aufzeigen, also Wirkungen beschreiben, die in mehr oder weniger aufwendigen Studien festgestellt wurden. Die Formulierung eines fehlenden „wissenschaftlichen Nachweises“ erweckt so leicht den Eindruck, als hätten auch aufwändige wissenschaftliche Versuchsanordnungen in Studien beispielsweise in biologischen Organismen keine Reaktionen gezeigt. Dagegen wird mit dieser Formulierung ausgedrückt, dass – in einem (eingeschränkten) naturwissenschaftlichen Verständnis – auch kein Wirkungsmechanismus als Dosis-Wirkung-Beziehung (4) bekannt ist, der den Zusammenhang zwischen der ursächlich einwirkenden Noxe und der konkreten Wirkung in einem Zielorgan zuverlässig beschreibt.

In wissenschaftlichen Studien aufgezeigte Effekte (oft sogar als statistisch signifikant ermittelt oder auch als „Hinweise“, „Beobachtungen“ o. ä. bezeichnet) werden also als „nicht nachgewiesen“ abgetan, weil man nicht weiß, warum diese Effekte auftreten. Mit der gleichen Logik kann man die Existenz des Universums in Zweifel ziehen, denn dessen Ursache kann auch niemand schlüssig erklären.

Der wissenschaftliche „Nachweis“ wird also erst dann als geführt angesehen, wenn ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Einfluss einer Noxe und deren konkreter Wirkung (beispielsweise in einem Zielorgan) naturwissenschaftlich nachvollziehbar erklärt werden kann. Man spricht dann von der klaren „Evidenz“ einer Aussage. Oft sind es aber große Zeitunterschiede zwischen der Einwirkung einer Noxe und den dadurch hervorgerufenen Effekten oder auch lange Einwirkungszeiten mit geringer Dosis (Langzeitwirkungen), die kaum einen kausalen Zusammenhang erwarten lassen.

Damit findet eine Verkürzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen über tatsächlich gefundene Wirkungen statt und eine wissenschaftlich begründete, rechtlich einzuordnende „Besorgnis“ wird übergangen. Wenn also Gesetzgebung und Vollzug ein von der Sach- oder auch Rechtslage her erforderliches „Tätig werden“ unterlassen und sich darauf berufen, es sei „kein wissenschaftlicher Nachweis“ gegeben, entziehen sie sich ihrer Verantwortung.

Verstärkt wird dieses Dilemma i. d. R. durch die begrenzte Sicht auf die lediglich einzeln einwirkende Noxe, obwohl in der Realität Kombinationswirkungen zwischen verschiedenen Noxen bestehen oder auch Mehrfachbelastungen vorliegen (Kapitel 1.3). Zusätzlich führt die oft nicht eindeutige „Bewertung“ eines beobachteten gesundheitlichen Effekts hinsichtlich seiner Schwere (Frage der „Adversität“, Kapitel 1.2) und auch hinsichtlich des bewertenden Subjekts (politische Instanz oder Wissenschaft) zu weiteren Problemen (Kapitel 1.4). Dies erschwert nicht nur einfache oder klare Entscheidungen über Maßnahmen, sondern meist bleiben sie dann ganz aus.

Die staatliche Fürsorge oder staatliche Schutzpflicht fordern dagegen auch Maßnahmen heraus, die sich eben nicht hinter dem nicht erbrachten wissenschaftlichen Nachweis verstecken können. Hier ist insbesondere das umweltpolitische Vorsorgeprinzip zu benennen (Kapitel 4), welches nicht nur bei hinreichender Wahrscheinlichkeit eines Effektes bzw. einer Wirkung bereits Maßnahmen erlaubt oder einfordert, sondern bereits die begründete Besorgnis als Maßstab verwendet.

Damit ist ein Konglomerat an Problemen angesprochen, in dem die technischen „Fortschritte“ einer wissenschafts- und technikgetriebenen Gesellschaft zulasten Betroffener gedeihen können, ohne allzu strenge Begrenzungen durch Politik und Vollzug befürchten zu müssen. Ein jüngstes Beispiel dafür äußert der Kabinettschef des amtierenden EU-Gesundheitskommissars Vytenis Andriukaitis: „Die Anwendung des Vorsorgeprinzips“ auf die Mobilfunktechnologien sei „eine zu drastische Maßnahme" (5).

1.2 Bandbreite von Effekten unklar

Häufig gilt es, die Bedeutung und Schwere einer Exposition hinsichtlich einer begrenzenden Schwelle abzuschätzen. Ziel ist meist die Entwicklung eines handhabbaren Schwellenwerts für die Regulierung bei einer Noxe, der möglichst auch quantitativ gefasst werden kann und messtechnisch überprüfbar ist. Diese Aufgabe wird jedoch gern „der Wissenschaft“ überlassen, obwohl hier subjektiv wertende (also nicht objektiv wissenschaftlich begründbare) Haltungen nicht auszuschließen sind. Man behilft sich mit der Schwelle zu einer Krankheitswirkung (sog. „Adversität“), die möglichst fachlich neutral definiert werden sollte. Die RISIKOKOMMISSION (2003) definiert diesen Begriff wie folgt:

"Im allgemeinen Gebrauch des Begriffes "advers" ist nicht eindeutig, ob dar­unter lediglich "schädlich" im Sinne von pathogen, einen vorübergehenden oder bleibenden Schaden hinterlassend bzw. "nachteilig" für das integrale Fortbestehen des Individuums oder der Spezies verstanden wird oder ob in den Begriff auch individuell oder gesellschaftlich "unerwünschte" Effekte eingeschlossen sind. Im ersten Fall lässt sich Adversität weitgehend, aber nicht völlig, anhand objektiver naturwissenschaftlicher Kriterien feststellen, im letzterem kommen noch deutlicher offensichtlich normative, wertende Elemente ins Spiel."

Ist die Beurteilung eines adversen Effekts schon in naturwissenschaftlicher Hinsicht schwierig oder kaum eindeutig, öffnet die Bewertung der noch hinnehmbaren oder tolerierbaren Wirkung weiteren Spielraum. Dem trägt die Definition der VDI-Richtlinie 2308 Rechnung, wenn die Schwelle zur adversen, schädlichen Wirkung als Grund für Schutzmaßnahmen auch deutlich in Richtung der gesellschaftlich determinierten und unerwünschten Wirkung verschoben wird (Abbildung 1).

Hiermit wird deutlich, dass eine Beurteilung von gesundheitlichen Effekten und nicht mehr tolerierbaren Wirkungen in keiner Weise allein in der Hand der Naturwissenschaft liegen darf und kann (RISIKOKOMMISSION 2003). Das Vorgehen oder Verfahren einer gesellschaftlich determinierten Beurteilung und damit auch Entscheidung muss letztlich legislativ definiert bzw. festgelegt werden, um die subjektiv wertenden Gehalte solcher Urteile angemessen aufzufangen bzw. einfließen zu lassen (siehe auch Kapitel 1.4).

1.3 Mehrfachbelastungen nicht berücksichtigt

In vielen realen Lebenssituationen wirken in der Regel verschiedene Noxen und unterschiedliche Belastungsarten wie Luftschadstoffe, Lärm, Strahlen etc. gleichzeitig ein. Bei der Beurteilung solcher Belastungssituationen sind sowohl die Kombinationswirkungen der einzelnen Noxen untereinander als auch die Mehrfachbelastung (Zusammenwirken aller Einzelbelastungen zu einer Gesamtbelastung als Einwirkungskomplex, LANDAU & PRESSEL 2009) zu berücksichtigen. Dies wird bisher allerdings kaum berücksichtigt (mehr bei KÜHLING 2012) und höhlt den eingangs kritisierten wissenschaftlichen „Nachweis“ eines ursächlichen Dosis-Wirkung-Zusammenhangs weiter aus. Auch wenn das genaue Ausmaß einer Exposition durch das Zusammenwirken mehrerer Komponenten oft schwer zu quantifizieren ist, so darf die Tatsache einer sich verstärkenden Wirkung und der Verschaffung eines nötigen Überblicks über das Ganze auch aus rechtlichen Erwägungen nicht übergangen werden.

Schauen wir auf die Vorgehensweise bei der evidenzbasierten Medizin, so werden diagnostische und/oder therapeutische Entscheidungen einerseits auf der Basis systematisch zusammengetragener und bewerteter wissenschaftlicher Erkenntnisse getroffen. Andererseits dürfen diese Entscheidungen jedoch nicht allein aufgrund solcher Erkenntnisse und damit schematisch erfolgen, sondern es sind auch die vielen individuellen Besonderheiten jedes einzelnen Patienten zu berücksichtigen (BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT 2005). Studien ergaben, dass nur etwa 30 bis 40 Prozent aller medizinischen Maßnahmen auf evidenzbasierten Ergebnissen wissenschaftlicher Studien beruhen (DETER & BOEHNKE 2010).

Die wissenschaftlich kaum haltbare, verkürzte Beurteilung einer einzeln einwirkenden Noxe verdeutlicht das folgende Beispiel in Abbildung 2. Es zeigt das Ergebnis untersuchter synergistischer Kombinationswirkungen durch Gemische aus 2–8 Komponenten unspezifisch wirksamer Chemikalien in untoxischen Konzentrationen der Einzelsubstanzen an menschlichen Fibroblasten (SOMMER 2006). Je größer die Anzahl der Stoffe im Gemisch war, desto toxischer wirkte das Gemisch. Während durch ein 2-Komponentengemisch eine 50 %ige Wachstumshemmung durch 0,5 noec/Substanz erreicht wurde, wurde derselbe Effekt in einem 6-Komponentengemisch durch 0,14 noec/Substanz hervorgerufen. Bei Berechnung der Kombinationseffekte wirkten alle Gemische synergistisch. Beim Zusammenwirken wirkt also eine einzelne Noxe rund 7-fach stärker.

Ohne auf das damit verbundene Problem notwendiger Schwellen- oder Grenzwerte (KÜHLING 2012b) hier näher eingehen zu können, kann doch aufgezeigt werden, dass der Wissensstand zumindest ausreicht, um ein Grenzwertkonzept als obsolet abzutun, welches ausschließlich auf der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung bei einer einzelnen Noxe aufbaut. Auch eingebaute Sicherheitsfaktoren bei der Grenzwertableitung haben Kombinationswirkungen und Mehrfachbelastungen nicht im Blick und müssten drastisch erhöht werden. Aus diesen Gründen ist eine rechtliche Fortentwicklung zur Verankerung des Vorsorgeprinzips in Fragen von Mehrfachbelastungen (siehe Kapitel 4) dringend erforderlich.

Auch die Aufnahme einer verbindlichen Prüfpflicht (insbesondere bei der Abwägung von Gesundheits- und Umweltbelangen in Ermessensentscheidungen, wie bei Planfeststellungen und in der gesamträumlichen Planung) bietet weitere Möglichkeiten, Kombinationswirkungen und Mehrfachbelastungen bei Entscheidungen zu berücksichtigen. Damit dies im Vollzug nicht übergangen werden kann, müssen in Ergänzung der o. g. generellen Norm verpflichtende Prüfnormen eingeführt werden, etwa wie folgt formuliert: „In Verfahren, die der Entscheidung über die Zulässigkeit von Vorhaben und Plänen dienen, ist zu prüfen, ob Kombinationswirkungen verschiedener Noxen und Mehrfachbelastungen zu berücksichtigen sind.“

Die Bedeutung dieser Fragen zeigt sich aufgrund der in jüngster Zeit zu beobachtenden Häufungen von Krankheiten, die sich kaum ursächlich einzelnen Noxen zuordnen lassen. Einen Eindruck vermittelt die Gesundheitsberichterstattung des Bundes (DESTATIS 2019). Die dort entnommenen Daten zu einigen Hauptdiagnosen entlassener Krankenhauspatienten offenbaren eine erhebliche, fast immer kontinuierliche Zunahme der Fallzahlen dutzender Erkrankungen in nur zehn Jahren, siehe Tabelle 1.

Aufgeführt sind meist Erkrankungen mit Fallzahlen >1.000 Patienten und mehr als 40 % Steigerungsraten von 2008 bis 2017; nicht gleichmäßige Zunahmeverläufe sowie diverse Einzelerkrankungen bleiben unbeachtet.

Anhand der gestiegenen Nutzung insbesondere des Mobil- und Kommunikationsfunks darf man die Frage stellen, ob hier nicht die stetig anwachsenden Feldstärken zumindest beteiligt sind (WARNKE & HENSINGER 2013, BUDZINSKI & KÜHLING 2015).

1.4 Bewertungsdilemma bei der Grenzwertbestimmung

Seit Beginn der 1970er Jahre wird fachlich, rechtlich und politisch darum gerungen, wie die anzustrebende Qualität der Schutzgüter zu werten bzw. zu beurteilen ist. Auch geht es stetig um die Frage, welche noch tolerablen Mindestqualitäten vereinbart und sichergestellt werden müssen. Dabei muss meist ein Konglomerat aus naturwissenschaftlichen, ökonomischen und sozialpolitischen Faktoren berücksichtigt werden. Hieraus folgt zwingend, dass eine Grenzwert- oder Standardsetzung zur zulässigen oder noch tolerablen Exposition durch Noxen nicht allein aus naturwissenschaftlichen Begründungszusammenhängen (wie z. B. eine allein kausale Wirkungsbeziehung) abgeleitet werden kann, sondern eine gesellschaftliche „Bewertung“ darüber erfolgen muss. Da das angesprochene Konglomerat bei der von Setzung von Grenzwerten selten bekannt oder nachvollziehbar ist, kann ein Verstecken hinter der Aussage, „die Grenzwerte sind ja eingehalten“ dem erforderlichen Schutz und der Vorsorge vor Einwirkungen nur selten gerecht werden.

Definiert man den Begriff „Bewertung“, so handelt es sich hierbei um die „Überführung der sachlichen Informationen in eine Handlungsempfehlung (UBA 1995). Dieser Schritt soll ermöglichen, dass Wirkungen von Noxen im Hinblick auf Menschen und Umwelt bewertet werden und die vorgesehene Entscheidung über die Zulassung solcher Wirkungen möglichst rational und nachvollziehbar begründet werden kann. Bei der Umsetzung der häufig komplexen naturwissenschaftlichen bzw. medizinisch-toxikologischen Erkenntnisse in eine einfach zu handhabende Entscheidung über Maßnahmen werden allerdings die beiden Urteilsebenen der Sach- und Wertebene nicht genügend unterschieden:

  • Die Sachebene: Ist fachlich geklärt, wer oder was betrachtet und geschützt werden soll, muss zunächst die Wirkung einer Noxe oder Schadkomponente auf das betrachtete Schutzgut hinsichtlich eines Schwellenwertes/Effektlevels analysiert und beurteilt werden. Voraussetzung dafür ist eine Abschätzung des Gefährdungs- und Expositionspotentials. Dabei handelt es sich um vorrangig sachliche oder wissenschaftliche Aussagen, die aber in starkem Maße vom vorliegenden Erkenntnisstand und auch von der „wissenschaftlichen Schule“ der Beurteilenden abhängen (mit z. T. weit auseinander liegenden Einschätzungen).
  • Die Wertebene: Die Wirkungen werden anschließend bewertet im Hinblick auf Zumutbarkeit, technische Reduzierungsmöglichkeiten oder Durchsetzbarkeit für Maßnahmen, ob ökonomische oder soziale Folgen damit verbunden sind und weiteres mehr. Hierbei handelt es sich um eine vorwiegend subjektiv- oder gruppenspezifisch-wertende Aussage.

Das Bewertungsergebnis entsteht so in der Regel durch einen Prozess der gesellschaftlichen Entscheidungsfindung (Abwägung), in dem sich die zugrunde liegenden Sach- und Wertaussagen oft nur schwer zurückverfolgen bzw. isolieren lassen. Die Entscheidung entsteht letztlich aus einem Gemisch sehr verschiedener Werturteile, was auch als 'Bewertungsdilemma' bezeichnet werden kann (KÜHLING 2001). Je nach betroffenem Subjekt wird das Ergebnis dann akzeptiert, wenn das persönliche Werturteil über das Ergebnis zufrieden stellend ist.

Ein Ergebnis wird abgelehnt, wenn das persönliche Werturteil über die sachlichen Erkenntnisse ein anderes ist. Die subjektive Werthaltung beginnt bereits bei der Wahrnehmung der Begriffe „Gesundheit“ oder "Umwelt" und endet bei Frage einer gesellschaftlich konsensfähigen Risiko- oder Belastungsdefinition bei einer Beanspruchung von Umwelt- und Lebensqualität. Hinzu kommen Fragen und Probleme der vorigen Kapitel.

Festgestellt werden muss, dass als Ergebnis dieser beschriebenen Güterabwägung lediglich Mindestanforderungen an den Gesundheitsschutz entstehen, die meist nur den kleinsten gemeinsamen Nenner widerspiegeln. Zumal sich durch Mehrheitsentscheidungen (je nach der jeweiligen politischen Konstellation) mal lasche, mal fortschrittlichere Grenzwerte ergeben. Solche durch (politisch oft einseitige) „Güterabwägung“ entstandene Standards (wie sie in der 26. BImSchV festgelegt sind), sind für einen anzustrebenden Gesundheitsschutz also kaum geeignet.

Man kann daraus zwingend schlussfolgern, dass ein normiertes und transparentes Verfahren zur Standardsetzung erforderlich ist, wie es die RISIKOKOMMISSION (2003) entwickelt hat. Darin werden die wissenschaftliche Abschätzung von Risiken und die gesellschaftliche Bewertung strikt voneinander getrennt und in einer Bewertungsstation transparent und nachvollziehbar zusammengeführt.

2 Beispiel: Niederfrequente magnetische Wechselfelder

Zu den Quellen niederfrequenter elektromagnetischer Wechselfelder (NF-EMF), die mit Netzstrom (50 Hz) betrieben werden und von außen auf Aufenthaltsbereiche des Menschen einwirken, zählen insbesondere Hochspannungsfreileitungen und Erdkabel mit 110 – 380 Kilovolt, Transformatorstationen und Umspannwerke. Im Haushalt selbst sind in der Regel vielzählige Geräte Ursachen für Feldeinwirkungen (vom Föhn über verlegte elektrische Leitungen bis zum Elektroherd etc.). Daneben existiert noch der Bahnstrom mit 16,7 Hz. Man unterscheidet elektrische und magnetische Felder. Gesundheitliche Bedeutung kommt insbesondere dem magnetischen Wechselfeld zu.

Da beispielsweise das Bundesamt für Strahlenschutz der Auffassung ist, für einen rechtlich verbindlichen Gefahrenschutz evidenzbasierte Ableitungen fordern zu müssen, die dem wissenschaftlichen Nachweis kausaler Wirkungsbeziehungen standhalten, werden insbesondere exponierte Kinder nicht ausreichend vor den gesundheitlichen Effekten bei niedrigen Feldstärken geschützt. Verschiedene Metaanalysen auf Basis der Originaldaten liefern konsistente Ergebnisse, die eine mögliche Assoziation zwischen Magnetfeldern und kindlichen Leukämien bestätigen (BERG-BECKHOFF & SCHÜZ o.J.). Erreichen zeitlich gemittelte Magnetfeldexpositionen über einen längeren Zeitraum den Wert von 0,3–0,4 Mikrotesla unter Hochspannungstrassen, wird ein signifikant erhöhtes Risiko für die akute lymphatische Leukämie bei Kindern gefunden (GESCHWENTNER & PÖLZL 2011, Abbildung 3).

Eine neue, umfassend zusammengefasste Analyse der Leukämie im Kindesalter und der Entfernung zu Stromleitungen (AMOON et al. 2018) fand ein Risiko von 1,33 für Abstände <50 m bei 200+-kV-Leitungen. Auch hier wurde auf den nicht erklärbaren Grund dieses Effekts verwiesen, obwohl es eine wissenschaftlich plausible Erklärung für den kausalen Wirkungsbezug bei Magnetfeldern gibt: Im 50 Hz-Magnetfeld wird das oxidative bzw. antioxidative Gleichgewicht gestört und könnte eine genomische Instabilität bei den Nachkommen der exponierten Zellen hervorrufen (LUUKKONEN et al. 2014). Auch seitens der Internationalen Krebsagentur IARC werden ausreichende Hinweise auf die krebserregende Wirkung im Bereich sehr niedriger Flussdichten gesehen, die sogar eine kausale Interpretation zulassen. KUNDI & HUTTER (2019) fordern daher in einer umfassenden Gefahrenbeurteilung dringend notwendige Strategien zur vernünftigen Vermeidung von Expositionen durch NF-EMF.

Aufgrund dieser Sachlage könnte ein Schutzstandard in Höhe von <0,2 µT begründet werden (KÜHLING & HORNBERG 2014, EUROPAEM 2016) und würde der von der WHO bereits 2002 vorgenommenen Einstufung niederfrequenter Felder als „möglicherweise krebserregend“ Rechnung tragen. Ein solcher Ansatz würde den derzeitig geltenden Grenzwert in Höhe von 100 µT um den Faktor f=500 verschärfen und könnte durch einen entsprechenden Abstand von der Quelle realisiert werden.

Ein augenfälliges Beispiel für einen unzureichenden Schutz durch die unwissenschaftliche Ausrichtung allein auf den sogenannten Kausalbezug. Man muss sich fragen, warum in der Schweiz die vorliegenden Erkenntnisse berücksichtigt werden können und Orte, an denen sich Personen längere Zeit aufhalten, mit einen sog. Anlagegrenzwert zur Vorsorge in Höhe von 1 Mikrotesla geschützt werden. Die in der 26. BImSchV eingeführte Regelung – auch hinsichtlich einer Minimierung – kann einem solchen Ansatz nicht entsprechen und zeigt die nicht genügend ausgefüllte Schutz- und Fürsorgepflicht des Staates.

3 Beispiel: Hochfrequente Strahlung des Mobilfunks

Auch die gesundheitlichen Effekte der hochfrequenten elektromagnetischen Felder bzw. Strahlung (HF-EMF) des Mobil- und Kommunikationsfunks werden hinsichtlich möglicher Ursachen kontrovers diskutiert. Der von offiziellen Stellen für einen rechtlich verbindlichen Gefahrenschutz auch hier „eingeforderte“ Nachweis einer kausalen Wirkungsbeziehung zwischen einwirkenden Frequenzen und einzelnen Krankheitsbildern führt ebenfalls zu einem unzureichenden Schutz. Mit der Argumentation des „nicht gegebenen“ Nachweises setzt man sich über vielfältige Erkenntnisse hinweg, die wissenschaftlich nachvollziehbare Erklärungen zu wichtigen Zusammenhängen geben (DESAI et al. 2010, WARNKE & HENSINGER 2013).

Denn lange ist bekannt, dass neben der physikalisch begründeten Erwärmung von Körpergewebe durch HF-EMF auch weitere unterschiedlich gut abgesicherte Beobachtungen zu anderen biologischen bzw. gesundheitlichen Effekten vorliegen. Darüber hinaus gilt die Beeinflussung der Hirnströme als wissenschaftlich ausreichend nachgewiesen. Für weitere Effekte, wie beispielsweise die Beeinflussung der Durchblutung des Gehirns, die Beeinträchtigung der Spermienqualität, eine Destabilisierung der Erbinformation sowie für Auswirkungen auf die Expression von Genen, den programmierten Zelltod und oxidativen Zellstress werden deutliche Hinweise gesehen (SCHWEIZERISCHE EIDGENOSSENSCHAFT 2015).

Wissenschaftler aus 18 Ländern fordern (6), die Einstufung hochfrequenter Strahlung von Seiten der WHO von lediglich „möglicherweise krebserregend“ auf „wahrscheinlich krebserregend“ anzuheben (7). Die Studie des Ramazzini-Instituts (FALCIONI 2018) bestätigt die Ergebnisse der Krebsstudien des National Toxicology Program (NTP 2018). HARDELL et al. (2018) vergleichen die Ergebnisse der gefundenen Tumorarten mit ebensolchen epidemiologischen Erkenntnissen und sehen bei zwei Tumorarten einen eindeutigen Nachweis solcher Effekte („clear evidence“).

Sie folgern daraus, die WHO müsse Funkstrahlung als „krebserregend für Menschen“ einstufen. Damit wird deutlich, dass die derzeitigen Grenz- und Richtwerte zur Hochfrequenz-Exposition zum umfassenden Schutz der menschlichen Gesundheit (völlig) unzureichend sind. Auch hier muss man sich fragen, warum eine Expertenkommission in der Schweiz die vorliegenden Erkenntnisse anerkennt und der dort gültige Anlagegrenzwert zur Vorsorge etwa zehnfach schärfer als in Deutschland ist.

Erschreckend ist demgegenüber, dass in der 26. BImSchV die Vorsorge gegenüber Hochfrequenzstrahlung komplett übergangen wird. Dies bedeutet auch, dass die empfindlicheren Risikogruppen (wie z. B. Kinder) mangels entsprechender Schutznormen bisher gar nicht berücksichtigt (BUND 2018) sind, obwohl dies bei anderen Noxen üblich ist. KUNDI & HUTTER (2019) zitieren mehrere Untersuchungen, die Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern zeigen (u. a. Hyperaktivität), wenn die Mutter vor und nach der Geburt ein Handy benutzte. Bereits vor geraumer Zeit wurde vorgeschlagen, den Immissionswert von 100 µW/m2 beim Menschen nicht zu überschreiten (BUND 2008). Die EUROPAEM (2016) nennt Richtwerte, die z. T. noch darunter liegen. Damit herrscht eine Situ­ation vor, in der bereits bei geringen Leistungsdichten (in einer Größenordnung vieltausendfach unter­halb gesetzlicher Grenzen) kein ausreichender Schutz und keine Vorsorge vor gesundheitlichen Effekten besteht. Auch an diesem Beispiel zeigt sich die nicht genügend ausgefüllte Schutz- und Fürsorgepflicht des Staates.

4 Unzureichender Schutz und fehlende Vorsorge

Die hier angerissenen Problemstellungen und Beispiele verdeutlichen die Notwendigkeit, die Fürsorgepflicht des Staates gemäß Artikel 20 Abs.1 GG (wo zu der Daseinsvorsorge auch die Gesundheitsvorsorge zählt) stärker einzufordern, damit die unzureichenden Grenz- bzw. Richtwerte verschärft oder ergänzt werden und das Vorsorgeprinzip insbesondere bei der hochfrequenten Strahlung konkret und verbindlich eingeführt wird. Zum besseren Verständnis sind die folgenden rechtlichen Arbeitsbereiche im deutschen Gefahren- und Sicherheitsrecht zu unterscheiden (KÜHLING & SCHEBEK 2015):

  • Mit Gefahr wird ein Zustand, Umstand oder Vorgang beschrieben, aus dem mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein erheblicher Schaden für Mensch, Umwelt oder andere Schutzgüter entstehen kann. Meist werden hierzu Schutznormen/ -standards dadurch ermittelt, dass die belegbaren Effekte schädigender Wirkungen durch einen Sicherheitsfaktor ausgeschlossen werden. Damit ist noch nicht gewährleistet, dass alle Risiken ausgeschlossen sind bzw. ausreichende Vorsorge vor Schäden erreicht ist.
  • Das Vorsorgeprinzip ist einer der Grundsätze der Umweltpolitik. Es verfolgt über die Schadensbeseitigung und Gefahrenabwehr (Schutzgrundsatz) hinaus, dass eine potenziell umweltbelastende Verhaltensweise unterbunden werden soll, wenn ihre Umweltschädlichkeit nicht unwahrscheinlich oder denkbar ist. Es geht also darum, theoretisch mögliche bzw. vermutete und nicht wie bei der Gefahrenabwehr hinreichend wahrscheinliche Umweltschäden zu vermeiden (z. B. Vorsorgegrundsatz im BImSchG).
    Damit sind auch solche Schadensmöglichkeiten in Betracht zu ziehen, für die noch keine Gefahr, sondern nur ein Gefahrenverdacht oder ein Besorgnispotenzial besteht. Umweltgefahren oder -schäden sollen möglichst gar nicht erst eintreten können. Abbildung 4 stellt die Verortung von Vorsorge und Gefahrenabwehr dar.

Zwangsläufig bleibt der Grenzbereich zwischen Gefahrenschutz und Vorsorge oft unscharf und bietet Interpretationsspielraum. Abbildung 4 macht aber deutlich, dass die Bewertungsmaßstäbe der Vorsorge i. d. R. außerhalb der Grenzen des Gefahrenschutzes liegen und trotzdem rechtlich fixiert werden können (siehe das Vorgehen der Schweiz). Der „Arbeitsbereich Vorsorge“ des Immissionsschutzes ist auch deshalb notwendig, da bisher lediglich die einzeln einwirkenden Noxen isoliert betrachtet werden, ohne die mögliche Relevanz einer Gesamtbelastung zu berücksichtigen (siehe Kapitel 1, KÜHLING 2012a).

Für die rechtlich und methodisch saubere Beurteilung einer Exposition ist außerdem wichtig zu wissen, wo der Immissionsbeitrag auf einer Skala von unbelastet bis hoch belastet rangiert. Diese Feststellung bekommt vor allem deshalb eine hohe Bedeutung, weil gerne im Hinblick auf den zukünftig zu erwartendem Anstieg der Exposition durch den 5G-Ausbau argumentiert wird, dass die derzeitige Exposition weit unterhalb der Grenzwerte sehr gering sei und insofern eine Besorgnis nicht gegeben sei.

Ein kleiner Zusatzbeitrag im Bereich einer geringen (Vor-)Belastung führt jedoch zu einer anderen Aussage über die Exposition bzw. Wirkung als ein Beitrag in der Nähe eines Beurteilungs- oder Grenzwerts (Abbildung 5). Dies folgt auch aus dem Urteil des BVerwG (8), wonach erhebliche Umweltauswirkungen nicht erst dann zu berücksichtigen sind, wenn die Umweltauswirkungen so gewichtig sind, dass sie zu einer Versagung der Zulassung führen können.

Die beim Immissionsschutz rechtlich verankerte Vorgehensweise prüft die erwartete Zusatzbelastung vor Genehmigung eines Vorhabens explizit hinsichtlich der Frage ab, ob diese erheblich sind bzw. vorgegebene Grenzen einhalten. Das Vorhaben des neuen Mobilfunkstandards 5G wird dagegen ohne ein Prüfverfahren hinsichtlich der erwarteten Zusatzbelastung „ausgerollt“, nicht einmal eine Technikfolgenabschätzung erfolgt rechtzeitig und umfänglich. Zeigt sich hier ein Versagen des Rechtsstaats?

Neben der obsoleten Standardsetzung im Bereich des Gefahrenschutzes, die der oben geforderten gesellschaftlich-politischen Standardsetzung nicht genügt, ist vor allem die fehlende Konkretisierung der immissionsschutzrechtlichen Vorsorge in der 26. BImSchV und anderen Rechtsgrundlagen zu den HF-EMF zu beklagen. Im Mittelpunkt des Vorsorgegrundsatzes steht, dass selbst bei Fehlen ausreichender wissenschaftlicher Information ein Handlungsbedarf besteht. Das hat auch die Europäische Kommission (EU 2000) und die Gemeinschaftsrechtsprechung konkretisiert:

Wenn das Vorliegen und der Umfang von Gefahren für die menschliche Gesundheit ungewiss sind, können die Organe Schutzmaßnahmen treffen, ohne abwarten zu müssen, dass das Vorliegen und die Größe dieser Gefahren klar dargelegt wird“ (EUGH 1998).

Außerdem zielt die EU gemäß Art. 191 Abs. 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf ein hohes Schutzniveau. Für den Immissionsschutz ist dies als Verbesserungsgebot in Art. 12 der Richtlinie 2008/50/EG bereits für die anzustrebende Luftqualität soweit quantifiziert, dass Werte unterhalb der Grenzwerte liegen sollen („Wo bereits eine gute Luftqualität gegeben ist, sollte sie aufrechterhalten oder verbessert werden.“). In § 50 BImSchG und § 1 Abs. 6 Ziffer 7 Buchst. h BauGB ist dieses Ziel bereits rechtlich verankert. Damit wird deutlich, dass die bisherigen Vorschriften und Maßnahmen zu HF-EMF in Deutschland klar hinter dem EU-weiten Anspruch auf Schutz der menschlichen Gesundheit und Vorsorge zurückbleiben. Es zeigt sich die Vorsorge als Ergebnis des klar ersichtlichen „Besorgnispotenzials“ mit entsprechenden Maßnahmen nicht nur als längst überfällig und auch rechtlich geboten (BUDZINSKI 2011), sondern entlarvt die nicht ausreichend ausgefüllte Fürsorgepflicht und den Schutzauftrag des Staates.

Am Beispiel der üblicherweise bei einer Grenzwertableitung zu berücksichtigenden Risikogruppe „Kinder“ kann das Dilemma der unzureichenden Vorsorge besonders herausgestellt werden: wiederholt wird von offiziellen Stellen betont, dass sich die derzeitige Ableitung eines „ausreichenden“ Schutzes gegenüber HF-EMF lediglich auf Erkenntnisse zu Erwachsenen bezieht; sowohl Kinder als auch Langfristwirkungen könnten noch nicht genügend abgeschätzt werden.

Klare Aussagen zu der besonderen Betroffenheit der „Risikogruppe Kinder“ liegen jedoch vor (Kapitel 3) und betreffen auch die unzureichende Ableitung des SAR-Wertes. Voraussetzungen für die „Besorgnis“ als rechtlich gesicherte Begründung für Vorsorgemaßnahmen sind damit gegeben. Eine lediglich vom BfS ausgesprochene Empfehlung, Handytelefonate bei Kindern so weit wie möglich einzuschränken, kann der angesprochenen Schutz- und Fürsorgepflicht des Staates nicht gerecht werden.

Dass die generelle Aufgabe der Standardsetzung im Bereich des Umwelt- und Gesundheitsschutzes in Deutschland enorm reformbedürftig ist, hat bereits der SRU (1996) in seinem Jahresgutachten deutlich gemacht und wird bei KÜHLING (2012b) näher beschrieben. Ein gesellschaftlich verantwortetes Vorgehen ist zwar als Konzept entwickelt (RISIKOKOMMISSION 2003), wird bisher aber nicht verbindlich umgesetzt. Neben einer dringend erforderlichen Umsetzung der dort entwickelnden Instrumente ist die deutliche Verbesserung bzw. überfällige Operationalisierung der Vorsorge in den Rechtsgrundlagen zu nieder- bzw. hochfrequenten Feldern erforderlich.


Zur Literaturliste dieses Aufsatzes geht es über diesen Link. Die Fußnoten und Anmerkungen gleich hier:

Fußnoten + Anmerkungen

(1) Der Begriff „Noxe“ findet vor allem im Gesundheitswesen Verwendung und bezeichnet im Allgemeinen den Träger einer potentiell schädlichen Umwelt- oder Gesundheitsbelastung. Damit kann ein allgemeiner Begriff aus dem Gesundheitswesen für die verschiedenen Belastungskomponenten verwendet werden.

(2) Schutzgüter im Sinne des Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVPG) sind: 1. Menschen, insbesondere die menschliche Gesundheit, 2. Tiere, Pflanzen und die biologische Vielfalt, 3. Fläche, Boden, Wasser, Luft, Klima und Landschaft, 4. kulturelles Erbe und sonstige Sachgüter sowie 5. die Wechselwirkung zwischen den vorgenannten Schutzgütern.

(3) Wirkung=durch eine Noxe bedingte physiologisch messbare Veränderung eines Organismus.

(4) Die Risikokommission (2003) beschreibt eine Dosis-Wirkungs-Beziehung als (funktionale) Beziehung zwischen der quantitativ gemessenen Präsenz, z. B. Konzentration einer Noxe und der dadurch verursachten Wirkung beim Zielorganismus.

(5) Der Tagesspiegel vom 15.01.2019: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/mobilfunk-wie-gesundheitsschaedlich-ist-5g-wirklich/23852384-all.html [15.01.2020]

(6) https://microwavenews.com/short-takes-archive/iarc-urged-reassess-rf  [25.12.2019]

(7) Die IARC der WHO hat im März 2019 beschlossen, dies zu prüfen.

(8)   BVerwG – 4 A 1.13 – Urteil v. 17. Dezember 2013, juris Rn. 36 zu Hochspannungsleitung : https://www.bverwg.de/pm/2013/90 [15.01.2020]