Warum um Asbest immer noch geschachert wird: der Showdown bis heute

Asbest-Chronologie, letzter Teil (III)

Einleitung zum letzten Teil:

Im ersten Teil der Asbestchronologie Warum es so lange gedauert hat, bis Asbest verboten wurde: die ersten 70 Jahre sind die Anfänge des Erkenntnisprozesses dokumentiert, dass die gesundheitlichen Folgen einer Asbestbelastung drastisch sein können, in der Regel tödlich. Im Dritten Reich wurde das erkannt und deswegen auch zwei asbestbedingte Berufskrankheiten. Deutschland war führend in der Forschung und der Prävention.

Nach dem Krieg hatte man das alles vergessen. Das Wirtschaftswunder hatte Vorrang und das bedeutete Arbeitsplätze. Gesundheitliche Aspekte im Zusammenhang mit Arbeitsbedingungen waren irrelevant - Hauptsache Wachstum. Aber mit dem Ende der Latenzzeit, die bis zu 40 Jahren dauern kann, begannen sich die Asbestfolgen immer mehr auszuwirken. Und das hätte immer mehr Geld für das System der Gesetzlichen Unfallversicherung in Form von Entschädigungsleistungen bedeutet. Grund, dem entgegenzuhalten. Und so entstand die Kontroverse zwischen zwei Antipoden: Auf der einen Seite der Pathologe Prof. Herbert OTTO, der offiziell für die Unfallversicherung agierte und heimlich in einem "Unabhängigen wissenschaftlichen Beirat" der Asbestindustrie saß. Auf der anderen Seite: Prof. Hans-Joachim WOITOWITZ, Professor für Arbeitsmedizin, der in keiner industriefinanzierten Institution tätig war. So beschrieben im Teil II der Asbestchronologie Warum es so lange gedauert hat, bis Asbest verboten wurde: die darauffolgenden 50 Jahre.

Hier folgt jetzt der dritte und letzte Teil, in dem es wieder um Prof. Hans-Joachim WOITOWITZ und die Nachfolgerin von Prof. OTTO geht, Prof. Andrea TANNAPFEL. Und es geht um die vielen Opfer des Asbest. Das Wort vom "Totengräber" steht im Raum. Nicht als Bezeichnung für die Asbestindustrie, die sich mit Händen und Füßen gegen ein Verbot gewehrt hatte. Als "Totengräber" hatte man Hans-Joachim WOITOWITZ identifiziert. Genau gesagt: als "Totengräber der Arbeitsmedizin", was wohl bedeuten soll, dass er mit seiner Unabhängigkeit aus der Reihe jener Branche tanzt, die sich vor allem als Erfüllungsgehilfin der Gesetzlichen Unfallversicherung versteht, wie wir das in einem ähnlichen Kontext ausführlich beschrieben haben: unter www.ansTageslicht.de/Arbeitsmedizin.

Die Asbestchronologie Teil III können Sie auch direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/Asbestshowdown 

1993

Diese Grafik ist eine versinnbildlichte Darstellung des (Ab)Lebens der Familie JANSSEN aus Mühlheim an der Ruhr. Erst starb der Vater mit 50 an einer Asbestose - er hatte Asbestmatrazen zugeschnitten. Dann die Mutter. Sie hatte Vaters Kleidung abends ausgebürstet: Mesotheliom. Danach der Sohn mit 46 Jahren, ebenfalls ein Mesotheliomkrebs. Er hatte dem Vater das Essen in die Firma gebracht. Übrig blieb seine Schwester:

Die Mutter hatte noch Gelegenheit zu klagen, wollte eine Witwenrente durchsetzen, weil sie die Arbeitskleidung ihres Ehemannes gereinigt hatte und nach ihrer Sichtweise für die bei der Gesetzlichen Unfallversicherung versicherte Firma tätig geworden war. Das Bundessozialgericht hatte das in letzter Instanz abgelehnt. Im Jahr 1993.

Es ist das Jahr, in dem ein allgemeines Asbestverbot in Deutschland in Kraft tritt - mit vielen Ausnahmeregelungen 


in den USA seit den 90ern

Was der Familie JANSSEN, soweit sie noch besteht, in Deutschland nicht gelingt, ist in den USA einfacher durchzusetzen. Dort geht jeder, der durch den Arbeitsplatz geschädigt wurde, direkt gegen den Schädiger vor - gerichtlich. Ein System, wie das der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung hierzulande, das als soziales Abwehrsystem, als "Schutzschild für die Industrie" wirkt, wie Hans-Joachim WOITOWITZ sagt, gibt es dort nicht.  

1994 sieht sich W.R. Grace & Co. mit einer Strafe durch die EPA (Environmental Protection Agency) konfrontiert - wegen Verletzung von Asbestschutzvorschriften. 1999 wird das "volkswirtschaftlich förderungswürdige" Unternehmen dazu verdonnert, die Mine in Libby zu sanieren; Kostenpunkt 5 Millionen Dollar. Gleichzeitig klagen mehrere ehemalige Beschäftigte aus Cook County/Illinois, die in den 60er und 70er Jahren mit Asbest in Berührung gekommen waren. Kostenpunkt für Grace: rund 200 Millionen Dollar.

Grace kann sich aufgrund seiner breiten Produktpalette wirtschaftlich noch immer halten - im Gegensatz zu anderen großen, aber ausschließlich auf Asbestabbau und Asbestverarbeitung fokussierte Unternehmen. Für die Asbestbranche und vielfach auch weiterverarbeitende Betriebe werden die nächsten Jahre zum finanziellen Desaster. 

Sie sehen sich - allein bis zum Jahr 2002 - über 700.000 Schadensersatzklagen ausgesetzt - von etwa 2,5 Millionenen Arbeitnehmern. Das wird 73 Unternehmen in die Pleite reißen. Manche können sich nach Jahren davon wieder erholen. So z.B. auch die Grace & Co, die 2001 in die Knie geht, aber im Rahmen eines regulierten Insolvenzverfahrens ("Gläubigerschutz nach Paragraph 11") durch Verkauf mehrerer Geschäftssparten 2014 wieder selbstständig auf den Beinen stehen kann. Dabei werden rund 250.000 Schadensersatzprozesse abgearbeitet, die zum allergrößten Teil positiv für die Kläger ausgehen.

Das hängt v.a. mit zwei Dingen zusammen:

  • In den USA sind bei prozessualen Meinungsverschiedenheiten zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber die regulären Gerichte zuständig. Und wenn Gutachter auftreten, werden sie entweder von den Richtern oder den Anwälten gefragt, ob sie bei irgendwelchen Unternehmen oder Institutionen auf der "Pay-roll" stehen und deswegen eine bestimmte Sicht der Dinge propagieren (müssen). Und was sie dafür an finanziellen Gegenleistungen erhalten. Deswegen kommen regelmäßig Abhängigkeiten ans Tageslicht. Und die sagen natürlich einiges über die Glaubwürdigkeit solcher Gutachter und deren Einschätzungen aus. Und das berücksichtigen die Richter bei ihrer Entscheidungsfindung.
  • In Deutschland muss man gegen ein (über)mächtiges System klagen, das seinen Einfluss auf allen entscheidungsrelevanten Ebenen manifestiert hat - bis hin zur Justiz, den Sozialgerichten.
    Die deutsche Gesetzliche Unfallversicherung wurde zwar vor rund 120 Jahren deswegen von Otto von BISMARCK installiert, um verletzte Arbeiter zu entschädigen. Aber das war nur der indirekte Effekt. Vorrangiges Ziel war, den um sich greifenden Einfluss der sozialdemokratischen Bewegung in Schach halten bzw. eindämmen zu können - nicht die wirkliche Sorge um das Lebens- oder Arbeitswohl der arbeitenden Bevölkerung.
    Und so hat sich das gesamte System bis heute tradiert, nur mit anderem Akzent: jetzt als "Schutzschild" für Unternehmen, die zu wenig in die Prävention, konkret in den Arbeits- und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz investieren. Das GUV-System, in dem - nach heutiger Praxis - nur wenige entschädigt werden müssen, ist weitaus billiger. Für die Unternehmen.

Weil hierzulande vor den Sozialgerichten auch die sogenannten Streitwerte sehr gering sind, ist für Rechtsanwälte die Übernahme eines Klageverfahrens gegen das übermächtige System ein Zuschussgeschäft. Kein Anwalt kann da viel Zeit investieren, um die Arbeit derer zu machen, die sie eigentlich machen müssten: die Sozialrichter. Die haben - eigentlich - eine "amtliche Ermittlungspflicht". Aber Anwälte beider Seiten aufeinander loszulassen und zu sehen, was daraus wird, macht weniger Arbeit.

In den USA ist der Justizapparat finanziell anders aufgestellt - Anwälte, die in Vorleistung gehen müssen, liquidieren im Erfolgsfall sehr hohe Honorare - für eingeschaltete Gutachter und Experten, ihre eigene Kanzlei usw. Und so sind im Auftrag der angeklagten Asbestunternehmen und ihrer Rechtsvertreter eine ganze Reihe von Sachverständigen unterwegs, die im Interesse ihrer Auftraggeber gutachten sollen. Und dies auch machen.

(Nur) zwei Namen:

  • David M. BERNSTEIN, Ph.D., der als 'unabhängiger' Toxikologe Untersuchungen durchführt, nachdem er Gleiches zuvor jahrelang für die Tabakindustrie gemacht hat. Um zu den passenden Ergebnissen zu kommen, dass Chrysotil längst nicht so toxisch wirkt wie die anderen Asbestsorten Blauasbest (Krokydolith), Braunasbest (Amosit) und natürlich Tremolit der Firma Grace & Co, arbeitet er in seinem Labor mit "pre-treatments" seiner zu untersuchenden Asbestfasern. Für eine seiner gutachterlichen Tätigkeiten dieser Art erhält er 80.000 $. Sein Auftraggeber hat mit Asbest Umsatz generiert: mit Chrysotil.
    BERNSTEIN's Ergebnisse werden zehn Jahre später auch für die Begutachtungspraxis beim Deutschen Mesotheliomtegister eine Rolle spielen.
  • Prof. Dr. Victor R. ROGGLI, Pathologie an der privaten Duke-University in Durham/North Carolina, der bereits 1982 die These von Prof. OTTO übernommen hatte, dass nur 1.000-Asbestfasern eine Minimalasbestose begründen könnten. Findet man nicht so viele, leidet der Erkrankte auch nicht an einer leichten Asbestose. Dies verkündet er landein, landauf und praktiziert es auch - soweit es funktioniert. Dass die Chrysotilfasern eine nur sehr kurze Halbwertzeit haben und man deshalb Jahre später auch keine finden kann, ficht ROGGLI nicht an. 
    ROGGLI war vorher Regierungsangestellter bei der EPA. Und hatte dabei - sozusagen im 'Nebenberuf' - einen Hersteller von asbesthaltigen Bremsen beraten. Jetzt ist er für jeden, der ihn als "Professor" buchen mag, auf der Basis von 700 $ die Stunde als Zeuge bzw. Sachverständiger /  Gutachter unterwegs.
  • Was er in einem der Gerichtsverhandlungen auf Grund konkreter Fragen bestätigen muss: Mit seinen bisher mehr als 13.000 Auftritten hat er - im Nebenjob sozusagen - annähernd 7 Millionen Dollar eingenommen - so das Gerichtsprotokoll des Superior Court of New Jersey vom 8. August 2018.

Aber Geldverdienen ist nicht strafbar, und in den USA schon garnicht. Allerdings: Bei der Frage nach Ursache und Wirkung pflegen US-Richter in solchen Schadensersatzklagen schon etwas genauer hinzuschauen, wenn Sachverständige gegen sattes Honorar ihre Theorien, Thesen und Einschätzungen kommunizieren. Die Unternehmen lassen sich so etwas kosten - sie können derlei Ausgaben von der Steuer absetzen.

Insgesamt kostet das Asbest-Desaster die amerikanischen Unternehmen rund 70 Milliarden $. 40 davon gehen für die Durchführung der Gerichtsverfahren und die Honorare der "law firms", den Rechtsanwaltskanzleien, und ihren Gutachtern drauf. 30 Mrd. $ landen bei den Geschädigten. Mehr, auch zu solchen 'Handlungsreisenden', unter Asbest in den USA: Fake Sciene und ein Whistleblower


Export der ersten Probleme

Rex Asbestwerke

Im schwäbischen Vellberg hat die Firma ihre textile Asbestverarbeitung eingestellt. Und den gesamten Maschinenpark nach Südkorea exportiert. Jetzt wird dort im Rahmen eines Joint Ventures "Jeil & Rex" weiterproduziert.

1989 hatte ein engagierter Hausarzt in der BILD-Zeitung von Umweltproblemen bei Rex und von 60 Todesfällen gelesen und Anzeige wegen "fahrlässiger Körperverletzung" und "fahrlässiger Tötung" erstattet. Die Staatsanwaltschaft stellt nach fünf Jahren, 1995, das Verfahren ein. Keiner der zu Rate gezogenen Gutachter sah sich in der Lage, nach so vielen Jahren "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" den frühen Tod auf die regelmäßige Überschreitung der seitens der Behörden vorgegebenen Richtwerte zurückzuführen. Denn diese Richtwerte lagen so hoch, "daß auch bei ihrer Einhaltung das Auftreten gesicherter oder tödlich verlaufender Asbestosen nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen ist, sondern im Gegenteil durchaus wahrscheinlich war", so die Staatsanwaltschaft in ihrem Einstellungsbeschluss. 

'Abwrackprämien' in Indien

Weil Schiffe, die bisher gebaut wurden, zu einem großen Teil mit Asbest versehen werden (Maschinen, Schonstein, Heizung, Lüftungssysteme, Schotten, Kabinen u.a.m.) und eine Entsorgung in den Industrieländern wegen der vielen Arbeitsschutz- und Gesundheitsvorschriften zu teuer ist, wird die Endverwertung nach Asien exportiert. Einer der bevorzugten Standorte ist Alang in Indien, wo Arbeiter alles mit der Hand auseinandernehmen - Vorschriften gibt es dort nicht, aber Ein Toter jeden Tag, wie DER SPIEGEL rapportiert. 

So wird ein Teil der technischen und gesundheitlichen Folgewirkungen erneut auf jene überwälzt, denen noch nicht die Gefahren ins Bewusstsein gedrungen sind 


verbleibendes Problem: Asbest-Sanierung

Nicht mit den bloßen Händen, sondern mit hoch isolierten Schutzanzügen geht man in Deutschland und anderswo seither der Asbestsanierung zu Leibe. Nur Spezialisten dürfen diese Arbeit machen und die Entsorgung ist aufwändig und teuer. Asbest darf nur als hoch toxischer Sondermüll entsorgt werden.

Da der Rohstoff in verarbeiteter Form in rund 3.000 Produkten enthalten war, vom Hausbau angefangen bis in die Küche (Toaster, Backofen) und das Bad (Haartrockner), in Kunststoffböden und in Fenstersimsen, auf Garagendächern und sonstnochwo, wird es dauern, bis alles asbestfrei ist.

In Berlin beispielsweise versteckt sich das Mineral offenbar noch in annähernd 100.000 Wohnungen, wie die Berliner Zeitung 2018 melden wird. Das Problem anzugehen, ist schwierig. Auf dem leergefegten Wohnungsmarkt gibt es für die Mieter keinerlei Ausweichmöglichkeiten. In Hamburg hatte man zuletzt im Dezember 2018 Asbest im Fernsehhochhaus des NDR entdeckt.

So wird das Asbestproblem auch im zweiten Jahrhundert - über einhundert Jahre nach der Enthüllung seiner Gefährlichkeit - ein Dauerthema bleiben


zunehmende Krebsfälle - sinkende Anerkennungen - explodierende Kosten

Es kommt, wie es kommen muss:

  • Die sogenannten Verdachtsanzeigen auf asbest- bzw. berufsbedingten Krebs (BK 4104) steigen: von 1.331 Meldungen im Jahr 1994 auf 3.709 im Jahr 2010. Eine Zunahme um rd. 280%.
  • Ebenso steigen die Ausgaben des Systems der Gesetzlichen Unfallversicherung in diesem Zeitraum: von 12,7 Millionen Euro auf 44,4 Millionen. Eine Steigerung um rd. 350 Prozent.
  • Gleichzeitig sinkt die Quote der Anerkennungen: Wurden 1994 noch 45% der Verdachtsanzeigen anerkannt, so werden es 2010 nur (noch) 19% sein.

Und trotzdem explodieren die Schadensersatzleistungen, z.B. in Form von Rentenleistungen wegen Berufsunfähigkeit.

Würden die Berufsgenossenschaften ihre Anerkennungsquote von 45 % beibehalten, so müssten sie im Jahr 2010 statt 44,4 Millionen mehr als das Doppelte ausgeben. Und auf die Unternehmen umlegen, nämlich 98 Millionen Euro. Nur für die Folgen von asbest- und berufsbedingtem Lungenkrebs.

So entwickeln sich diese Zahlen, die die DGUV für den beruflich bedingten asbestverursachten Lungenkrebs (BK 4104) kommuniziert:

Das ist nicht im Interesse des Systems. Und so hält das System dagegen. So einfach und überzeugend die Faserjahr-Formel klingt, so sehr steckt der Teufel im Detail. Dass die Anerkennungen ab 1994 kontinuierlich abnehmen, hängt mit den diffizilen Strategien der Berufsgenossenschaften (BGen) zusammen, die alle vom zentralen Dachverein des Systems aus gesteuert werden. Einheitlich gesteuert werden.

Und mit diesen subtilen Strategien müssen sich seither jene auseinandersetzen, die krank und geschädigt sind, nicht mehr arbeiten können. Bzw. die dann gegebenenfalls beauftragten Rechtsanwälte, wenn es vor Gericht geht. Die Wahrscheinlichkeit, dort zu obsiegen, ist gering. Sie beträgt - nach offiziellen Angaben der Bundesregierung - um die 10%. Mal neun, mal elf, im Durchschnitt zehn Prozent.

Da wird bei der Berechnung der Faserjahre nicht die 8-stündige Arbeitszeit als durchgehende Asbeststaubbelastung ("Exposition") zugrunde gelegt, sondern alle möglichen Zeiten abgezogen. Zeiten, in denen beispielsweise ein Dachdecker nicht nur flext, wo er mit bis zu 60 Millionen Weißasbestfasern pro Kubikmeter konfrontiert ist, sondern die bereits geflexten Platten auf dem Dach auslegt. Wieviel Prozent einer 8-Stunden-Schicht entfällt also auf das Flexen? Wieviel auf das Stapeln der geflexten Platten? ist das in der Nähe der Flex-Arbeitsstelle? Oder weiter entfernt? Wieviele Stunden ist er auf dem (Asbest)Dach beschäftigt? Hat man bei jeder Baustelle Asbest benutzt? Und bei wievielen nicht? War das jedes Jahr so? Anders gefragt: Wie sieht das Verhältnis zwischen Asbestbaustellen und Nicht-Asbestbaustellen aus? 

All das muss in einem Anerkennungsverfahren nachgewiesen werden, um auf "25 Faserjahre" kommen zu können.

Lassen sich solche Informationen nach Jahren eruieren, so rechnet eine Berufsgenossenschaft im nächsten Schritt eine beispielsweise halbstündige Extremdosis an Staubbelastung mit 30 oder 60 Millionen Fasern auf den ganzen 8-Stundentag um - die Belastung wird einfach heruntergerechnet. Anders gesagt: Der eingeatmete Asbeststaub wird rechnerisch verdünnt.

Undsoweiter. 

Weil sich nach 20, 30 oder 40 Jahren nicht mehr alles rekonstruieren lässt - die gesetzliche Aufbewahrungspflicht von betrieblichen Unterlagen beträgt 10 Jahre - wird der Nachweis schwierig, meistens unmöglich. Da greift die Berufsgenossenschaft gerne auf Statistiken und sonstige gemittelte Erfahrungswerte zurück, die aber nicht unbedingt den Einzelfall treffen.  


36 Jahre: 11 Gutachter, 30 Gutachten und kein Ende

Aber genau das sind die Probleme im einzelnen Fall. Im Fall des hessischen Dachdeckers, der bereits 1978 im Rahmen der "Hessischen Baustellenstudie" erfasst und untersucht worden war, wird Hans-Joachim WOITOWITZ insgesamt 10 Male als Gutachter zu Rate gezogen. In diesem ein- und demselben Fall ist es zwischen den unterschiedlichen Gutachtern - darunter OTTO, Chef des Mesotheliomregisters, und VALENTIN, Doyen der bundesdeutschen Arbeitsmedizin - sowie der Berufsgenossenschaft strittig, ob der längst Tote

  • 40
  • oder 21
  • oder 6
  • oder 31,6 
  • oder 37,2

"Faserjahren" ausgesetzt war. Genau davon hängt aber eine Rentenzahlung ab. Dieser Fall ist in einem eigenen Kapitel rekonstruiert unter 36 Jahre: 11 Asbest-Gutachter, 30 Gutachten und kein Ende.


ab Mitte der 90er Jahre

So spielen sich die Kontroversen die nächsten zwei Jahrzehnte auf unterschiedlichen Ebenen ab:

  • der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zwischen Hans-Joachim WOITOWITZ versus Herbert OTTO und Helmut VALENTIN sowie deren Schüler, wobei OTTO und VALENTIN aus ihrer geistigen (und finanziellen) Nähe zum GUV-System längst kein Geheimnis mehr machen
  • auf der anderen Seite im täglichen Kampf von beruflich krank Gewordenen, die nicht mehr arbeiten können und mit einer in der Regel sehr kleinen Berufsunfähigkeitsrente leben müssen, wenn sie von der Gesetzlichen Unfallversicherung ihren Gesundheitsschaden nicht anerkannt bekommen. 

die nächsten zwei Jahrzehnte

Der Kampf um das Asbestverbot in Deutschland ist jetzt entschieden, und ebenso die Frage, ob Asbest überhaupt gefährlich ist. Jedenfalls in Europa, denn da wird das Asbestverbot 2005 in Kraft treten. 55 Länder weltweit werden die nächsten Jahre einen Bann verhängen.

Dennoch bleibt der Rest der Welt - wirtschaftlich gesehen - für die Asbestindustrie groß genug, um weiterhin da, wo es noch geht, die Multifunktionalität von Asbest so zu kommunizieren, dass man damit auch sicher umgehen kann. So hat die "International Chrysotile Association (ICA)" beispielsweise solche Ratschläge zur Hand: 

Da die Asbestproduktion und deren Verwertung in Ländern, in denen es bekanntlich aus politischen Gründen keinerlei Umweltprobleme gibt wie etwa in Russland, Indien oder China oder anderen Staaten, macht es Sinn, mit eigenen Experten den Wissenschaftsstreit am Leben zu erhalten. "Doubts must remain" hatte die Strategie von Hill & Knowlton geheißen, an die noch immer Früchte trägt.

So sind beispielsweise in den USA Männer wie der Toxikologe David M. BERNSTEIN, Ph.D. unterwegs oder der Pathologe Prof. Victor ROGGLI, die entweder in Fachzeitschriften publizieren oder als Sachverständige vor Gericht und gegen satte Honorare auftreten. Etwa, um das Schlimmste bei Schadensersatzklagen zu verhindern. Indem sie mit ihren Argumenten und Zweifeln die Richter von einem juristischen Vergleich überzeugen. Das ist für die Asbestunternehmen immer noch die kostengünstigere Variante. Beim "volkswirtschaftlich förderungswürdigen" Unternehmen W.R. Grace & Co. zum Beispiel wird sich der finanzielle Aufwand, wenn bis 2002 rund 325.000 Klagen aufgelaufen sind, auf 1,9 Milliarden Dollar belaufen. Pro Entschädigungsfall sind das durchschnittlich knapp 6 Millionen Dollar.

Zu dieser Zeit entsteht in einigen wenigen Fachjournalen eine neue Gattung an medizinwissenschaftlicher Literatur. Da in immer mehr Gerichtsverhandlungen immer mehr Details bekannt werden, wie Unternehmen eigene Untersuchungen mit ungünstigen Ergebnissen selbige in der Schublade haben verschwinden lassen und/oder staatliche Behörden angelogen haben, wird dies jetzt wissenschaftssoziologisch aufgearbeitet. Einer der bekanntesten Autoren ist der Epidemiologe, Arbeits- und Public-Health-Mediziner David EGILMAN. Mehr unter Asbest in den USA: Fake Science und ein Whistleblower   


Wechsel beim Mesotheliom-Register 2006

In Deutschland gibt es eine solche Wissenschaftsdisziplin nicht. Und ethische Fragen spielen nur 'für die Galerie' eine Rolle. Inbesondere wenn sie von jenen Fachgesellschaften aufgetischt werden, deren Mitglieder überwiegend eine ausgeprägte finanzielle Nähe zum System der Gesetzlichen Unfallversicherung haben, deren Dachverband ab 2007 "Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e.V." heißen wird, abgekürzt "DGUV" (mehr in einem etwas anderen Zusammenhang unter www.ansTageslicht.de/DGUV).

Kurz zuvor gibt es am Deutschen Mesotheliomregister einen Wechsel und die OTTO-Schule wird jetzt durch einen neuen Namen vertreten: Frau Prof. Dr. med. Andrea TANNAPFEL, die gleichzeitig auch "Direktorin des Instituts für Pathologie der Berufsgenossenschaftlichen Kliniken 'Bergmannsheil' Bochum und Lehrstuhlinhaberin für Pathologie der Ruhr-Universität Bochum (und damit Nachfolgerin von Herrn Prof. Dr. Morgenroth)" wird, wie allen Berufsgenossenschaften mitgeteilt wird. Und wieder mit der unmissverständlichen Aufforderung versehen, das Lungengewebe hierher zu senden, "damit dort evtl. erforderliche ergänzende Untersuchungen zur Bestimmung der Menge und Qualität der in die Lunge eingelagerten Asbestpartikel erfolgen können."

Das "Deutsche Mesotheliomregister" wird die zentrale Institution der (Deutschen) Gesetzlichen Unfallversicherung: das zentrale Monopol für die Deutungshoheit. Man gibt sich nach außen hin gerne "unabhängig". De facto ist das Mesotheliomregister fest in das GUV-System integriert, wie wir es detailliert rekonstruiert haben im Kapitel Deutsches Mesotheliomregister, aus dem auch das Schaubild stammt:

Prof. TANNAPFEL über ihre Funktionen und ihre Einbindung in dieses Geflecht:

"Die Geldgeber [DGUV] nehmen keinen Einfluss auf die wissenschaftliche Arbeit des Instituts oder speziell geförderter Arbeiten. Die unabhängige wissenschaftliche Arbeit findet im Rahmen universitärer Forschung statt."

"Universitäre Forschung" indes, die in Bochum von der (Deutschen) Gesetzlichen Unfallversicherung finanziert wird. Denn ebenso gehört auch das gesamte Universitätsklinikum "Bergmannsheil" dem Apparat der GUV. 

Jetzt läuft der wissenschaftliche Streit zwischen WOITOWITZ und TANNAPFEL. Anders gesagt: zwischen der nicht an finanziellen Interessen ausgerichteten Arbeitsmedizin am IPAS Giessen und dem zentralen Mesotheliomregister des Systems "DGUV e.V.". In Bochum hat man inzwischen rund 42.000 (in Worten: zweiundvierzigtausend) "Staubanalysen" durchgeführt, in über 2.000 Fällen Minimalasbestose-Fällen als Gutachter entschieden und längst allen Gutachtern, die für die DGUV oder einer ihrer Berufsgenossenschaften tätig sind, angeboten, auch als 'Subunternehmer' Asbestose-Untersuchungen durchzuführen.

Die zentrale Monopolstellung beginnt sich - wie erwartet - im wahrsten Sinne des Wortes auszuzahlen - in dem Sinne, dass die Berufsgenossenschaften jedes Jahr weniger Geld für Asbestkranke auszahlen müssen - die Anerkennungsquoten sinken weiter.

WOITOWITZ hat sich inzwischen, um der massiven Übermacht etwas entgegen halten zu können, von einem Kollegen Unterstützung erhalten: Prof. Dr. med. Xaver BAUR. Der war 1990 bis 1991 Leiter des BG-eigenen Pneumologischen Klinikums Bergmannsheil in Bochum und des DGUV-Forschungsinstituts "IPA". Weil er bei seiner Forschung und seinen Gutachten in Sachen 'berufskrank oder nicht' den Missfallen seines Arbeitgebers hervorrief, weil er eine zu arbeitnehmerfreundliche Linie praktizierte, hatte man ihm zuerst die Klinikleitung weggenommen. Dann wurden seine arbeitsmedizinischen Forschungsaktivitäten eingeschränkt. Bis zu seinem Ruf an das Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf ("UKE") leitete er nur noch das BG-eigene Forschungsinstitut BGFA. 

Von Bochum in Hamburg angekommen erregte er als Chef der Arbeitsmedizin am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) ebenfalls Unmut: über seinen unabhängigen Wissenschaftsstil und seine arbeitsmedizinischen Entscheidungen, die nicht so ganz dem Mainstream der von der DGUV geförderten Arbeitsmedizin entsprachen (mehr zu der Frage nach den Besonderheiten der Arbeitsmedizin unter Humanmedizin versus Arbeitsmedizin). 

So fahren nun beide ihre Argumente und Fakten auf, wie sie international anerkannt und Standard sind, aber vom Mesotheliomregister - wie schon zu OTTO-Zeiten - einfach nicht zur Kenntnis genommen werden. Ein Monopol lebt bekanntlich auch von seiner Selbstherrlichkeit und Selbstgefälligkeit.

"How conflicted authors undermine the World Health Organization (WHO) campaign to stop all use of asbestos: spotlight on studies showing that chrysotile is carcinogenic and facilitates other non-cancer asbestos related diseases" ist einer der Publikationen von Prof. BAUR und Prof. WOITOWITZ übertitelt. Mit der These "Die Asbestkörperchen-Theorie ist tot. Deutsches Mesotheliomregister – was nun?" im "Zentralblatt der Arbeitsmedizin" will WOITOWITZ erneut die Diskussion anfachen. Und Xaver BAUR stellt diese Frage in der wissenschaftlichen Community: "Asbestos: Socio-legal and Scientific Controversies and unsound Science in the Context of the Worldwide Asbestos Tragedy – Lessons to be learned?"  


der wissenschaftliche Showdown

Der wissenschaftliche Zankapfel ist unverändert. Es geht um 3 Fragen. Beziehungsweise Meinungen.

  1. Wie steht es um die sog. Biopersistenz, also die Beständigkeit der feinen dünnen und innen hohlen Fasern des Chrysotilasbests (Weißasbests)? Bleibt sie stabil oder schwächelt sie?
  2. Wie steht es dann um die Nachweisbarkeit dieser Fasern bzw. Asbestkörperchen im menschlichen Körper?
  3. Und: Löst das eine Krankheit aus, also entweder eine Asbestose oder einen Lungenkrebs (Bronchialkrebs oder anderes) oder ein Mesotheliom?

Das sind die 3 strittigen Punkte.

In den letzten Jahrzehnten - und eigentlich auch schon zuvor - hatte man international nach und nach gelernt, dass die Beständigkeit von Chrysotilfasern gering ist, dass sie verschwinden, weshalb WOITOWITZ in Deutschland den Begriff des "Fahrerfluchtphänomens" geprägt hat, um das besser verständlich machen zu können. Im englischsprachigen Raum spricht man vom "hit and run - phenomenon". Soweit zu den Fragen 1 und 2.

Dass Asbest gefährlich ist - siehe Frage 3 - und den Menschen auf unterschiedliche Weise schädigen kann, ist - eigentlich - auch unbestritten. 

So sollte man denken, müsste  - eigentlich - alles paletti sein.

Ist es nur nicht. Denn immer wieder tauchen Thesen auf, die versuchen, die bisherigen Erkenntnisse in die ein oder andere Richtung zu lenken.


David BERNSTEIN, Ph.D., USA

In den USA ist es der Toxikologe David BERNSTEIN, der inzwischen im schweizerischen Genf domiziliert und von dort aus für die Asbestindustrie vor den Gerichten in den USA als Gutachter auftritt und fleißig Veröffentlichungen publiziert, nachdem er Gleiches jahrelang zuvor für die Tabakbranche gemacht hatte: Tabak muss nicht besonders gesundheitsgefährlich sein. Jetzt experimentiert er ständig mit Asbestfasern, vorzugsweise Chrysotil

Bevor er seine Versuche an Ratten durchführt, behandelt er die Fasern, sprich: unterzieht sie einem "pre-treatment", und kommt bei seinen toxischen Messungen zu diesen Antworten:

Antwort auf Frage 1 und 2: Die Chrysotilfasern sind nicht ganz so beständig wie die Blau- und Braunasbestfasern. Sie lösen sich offenbar trotzdem in der Lunge auf. Und es gebe gewisse Unterschiede. Je nachdem aus welcher Mine das Mineral komme.

Was Frage 3 betrifft, so lautet die Antwort: die Chrysotilfasern (seiner Auftraggeber) sind weniger gefährlich als die der Blau- und Braunasbestindustrie (für die er nicht arbeitet).

In keiner seiner Publikationen hatte BERNSTEIN je erklärt, dass und wie das "pre-treatment" seiner Fasern aussieht. Dass es so ist, wird nur durch folgenden Umstand bekannt: In der Zeitschrift "international Journal of Occupational and Environmental Health" erschien eine kritische Würdigung seiner Thesen unter dem Titel "Chrysotile Biopersistence. The Misuse of Biased Studies" und der Kritiker war der Meinung, dass BERNSTEIN zu seinen Ergebnissen nur mit Hilfe eines "agressive pre-treatment" kommen könne.

Normalerweise meldet sich der so Kritisierte zu Wort. Das geschieht nicht. Stattdessen steigen zwei andere Wissenschaftler in den Ring, die der Meinung sind, dass dies ein übliches Vorgehen darstelle und dass die Ergebnisse, zweitens, nichts damit zu haben würden, dass diese Studien von der Industrie finanziert würden. Und Unterschiede zwischen BERNSTEIN und "unabhängigen Studien" würden sich, drittens, aus dem unterschiedlichen Verhalten der Fasern selbst erklären. 

Um ihren Erklärungen Nachdruck zu verleihen, weisen beide darauf hin, dass sie "not allied to any asbestos manufactoring company nor any pro-asbestos pressure group, nor being in receipt of funds from any such source" seien. 

Wie es so geschieht in den USA, wo die Transparenz von Gerichtsprozessen erheblich größer ist als hierzulande, wird bekannt, dass einer der beiden Fürsprecher natürlich für ein Asbestunternehmen gutachterlich tätig war und dafür etwa 6.000 Dollar erhalten hatte. Und dass BERNSTEIN selbst 850.000 $ aus derselben Quelle bekommen hatte. Und dass BERNSTEIN für deren Fürsprecherschreiben sogar selbst Formulierungen vorgeschlagen hatte. Dieser Vorgang datiert aus dem Jahr 2009.

Zwei Jahre zuvor musste sich David BERNSTEIN schon einmal einem gerichtlichen Kreuzverhör unterziehen. Da hatte er ein Honorar in Höhe von 400.000 $ einräumen müssen (S. 96): für "wissenschaftliche" Veröffentlichungen wiederum finanziert von der Asbestindustrie (S. 95). Und er musste zugeben, dass er - im Gegensatz zu seinen Behauptungen - nie für die US-amerikanische Umweltbehörde EPA noch für die EU-Kommission in Europa tätig geworden ist (S. 100). Dass er schließlich konzedieren musste, dass er mit seiner Meinung und seinen Veröffentlichungen weitgehend alleine dasteht, versteht sich fast von selbst (S. 138 ff). 

David BERNSTEIN, Ph.D. - ein wissenschaftlicher Scharlatan?


Prof. TANNAPFEL in Deutschland

Um mögliche Krebsfolgen von Asbestkranken kleinzureden, gibt es zwei Möglichkeiten:

  • Variante 1: Entweder sagt man, dass die Chrysotilfasern beständig sind und man sie finden müsse, und wenn man eben keine finden kann, dann kann ein Lungenkrebs nicht durch Asbest verursacht sein.
  • Variante 2: Oder man konzediert, dass sich die Chrysotilfasern wegen der geringen Beständigkeit (doch) auflösen, was zwar den Nachweis erschwere, aber weil sie ja nicht mehr vorhanden sind, können sie dann auch keine oder nur geringe toxische Wirkungen entfachen.

Im Deutschen Mesotheliom-Register wird mal so, mal anders geredet. Je nachdem.

Unter Prof. OTTO galt die Variante 1 in Theorie und Praxis: Die Fasern sind beständig, man kann sie deshalb nachweisen. Und wenn man keine oder nur zu wenig findet, dann war es nicht der Asbest. So hatte OTTO beispielsweise im Fall des Hessischen Dachdeckers begutachtet (36 Jahre: 11 Gutachter, 30 Gutachten und kein Ende). Und einen Asbestzusammenhang verneint. 

Die OTTO-Linie war inhaltlich insofern logisch und konsistent, weil man den Umstand der geringen Bio-Beständigkeit nicht zur Kenntnis nehmen wollte. OTTO hatte seine Erkenntnisse aus der Silikoseproblematik einfach auf Asbest übertragen. 

Bei Prof. TANNAPFEL sieht das anders aus. Sie hatte nichts mit Silikose im Sinn.

So konzediert sie, dass die Bio-Beständigkeit doch nicht so groß ist, wie OTTO es propagiert hatte. Einer ihrer Standardformulierungen in Gutachten:

"Die Chrysotilfasern flüchten also in der Regel bevor ein bleibender Schaden entstanden ist. Damit liegt eine Fahrerflucht ohne irreversible Schadenseinwirkung vor."

TANNAPFEL huldigt demnach der Variante Nummero 2. Und so konnte man das auch lange auf der Website des Mesotheliomregister lesen:

"Chrysotil wird in der Regel sehr schnell wieder aus der Lunge eliminiert, während Amphibole dauerhaft in den Lungen verbleiben (sog. Biopersistenz)."

Ab August 2017 liest sich das auf der Website plötzlich anders. Die neue Interpretation wird der alten einfach als zusätzlicher Absatz hinzugefügt - ohne zu merken, dass sich jetzt ein Widerspruch auftun muss:

"Chrysotil wird in der Regel sehr schnell wieder aus der Lunge eliminiert, während Amphibole dauerhaft in den Lungen verbleiben (sog. Biopersistenz).

Doch auch der Chrysotil ist sehr biobeständig und ein kleiner Teil kann die Lungenbläschen erreichen. Wird er dort abgelagert, so kann er im Lungengewebe auch viele Jahre nach Beendigung der Exposition nachgewiesen werden. Die geringere Fähigkeit des Chrysotil, sich im Lungengewebe an zu reichern erklärt dessen geringere kanzerogene und fibrogene Potenz, aber auch Chrysotil ist kanzerogen und fibrogen." 

Ein Sinneswandel?  Neue Erkenntnisse, die eine andere Interpretation notwendig machen? Die Beständigkeit der Fasern in der Lunge nun doch auf einmal groß? Aber dennoch nur eine "geringere kanzerogene und fibrogene Potenz", sprich eine "geringere" toxische Wirkung?

Die Erklärung liegt wohl in einer neuen Publikation "New Insights into the Chrysotile Debate", die Andrea TANNAPFEL zusammen mit vier Personen ihres Mitarbeiterteams im August 2017 in der Fachzeitschrift "European Respiratory Journal", dem "wissenschaftlichen Flaggschiff" der Europäischen Lungenfachgesellschaft, veröffentlicht. Da stellen TANNAPFEL und ihr Team, aufbauend vor allem auf Erkenntnissen der US-Amerikaner Victor ROGGLI und David BERNSTEIN, die Ergebnisse ihrer Studie vor, von der sie sagen: "the first [study] to present longitudinal intra-individual data about the asbestos fibre burden in living human lungs."

Ihr methodisches Vorgehen: Prof. Andrea TANNAPFEL und ihr Team hatten eine Stichprobe gezogen, die in sechs Stufen ablief. Aus 23.955 potenziell in Frage kommenden Personen (in Worten: dreiundzwanzigtausend-neunhundertund-fünfundfünzig) wurden 825 ausgewählt, die bereits 2 Male in einem Zeitraum von 4 bis 21 Jahren auf die Asbestkonzentration in ihrer Lunge untersucht worden waren. Davon hatten 77 das notwendige Kriterium von mindestens 500 Asbestkörperchen pro Gramm Lunge erreicht und davon wiederum gelangten 12 von ihnen in das endgültige Sample. Bei letztlich 6 hatte man zusätzlich eine Untersuchung mit dem Elektronenmikroskop durchgeführt (siehe die originale Grafik).

In dem 12-toten-Personen-Sample sind unterschiedliche Altersgruppen vertreten. Über deren sonstigen Lebensumstände - die Expositionszeit ausgenommen - und/oder gesundheitliche Veranlagungen wird nichts gesagt. Die neuen Erkenntnisse einer - nun auf einmal - a) hohen Biobeständigkeit von Chrysotilfasern einer bestimmten Länge und deren b) geringen Gefährlichkeit stützen sich auf nicht einmal 1 Prozent des relevanten Datensamples. Genau gesagt auf 0,05%: 12 Tote, deren Lungen man untersucht hatte, von insgesamt rund 24.000. 


Prof. WOITOWITZ und Prof. BAUR

Dies bleibt natürlich nicht unwidersprochen: "Misleading 'new Insights into the Chrysotile Debate'" übertiteln Hans-Joachim WOITOWITZ und Xaver BAUR ihre Kritik. Und ihre Vorhaltungen fallen deftig aus, machen deutlich, dass man diese Publikation im Zusammenhang mit den "hohen Hürden" sehen muss, die die Berufsgenossenschaften errichten, um möglichst viele Anerkennungen 'beruflich verursacht' verweigern zu können:

"Die hierfür angeführten Daten sind inkonsistent, basieren auf offensichtlichen Fehlmessungen oder methodischen Problemen. Sie widersprechen dem wissenschaftlichen Kenntnisstand, Statements der WHO, der IARC und anderer maßgebender unabhängiger internationaler Organisationen ebenso wie unserer gesamten diesbezüglichen Erfahrung. Derartige Faserzählungen sind allgemein beschränkt auf wissenschaftliche Fragestellungen; sie werden in keinem anderen Land für die Diagnostik und Begutachtung eingesetzt."

Die das schreiben, haben ebenfalls Erfahrungen. Am IPAS in Giessen hatte WOITOWITZ über 350 Lungen von Asbestkranken und 150 ohne Asbestexposition untersucht und war zu anderen Ergebnissen gekommen. Mit einer Stichprobe von 12 Personen, sprich 0,05% des relevanten Datensamples hätten sich beide nicht zufrieden gegeben. Denn das ist das wissenschaftliche Grundproblem, wenn man aus einer derart winzigen Stichprobe den Umkehrschluss zieht und die beobachteten faktischen Gegebenheiten auf die restlichen 99,05% übertragen will: die Wahrscheinlichkeit, dass man aus der Wirklichkeit flüchtet, ist groß. Denn zu unterschiedlich sind die genetischen Anlagen als auch die Arbeits- und Lebenssituationen der Menschen und deren Wechselwirkungen. 

Aber Statistik und Empirie sowie deren Aussagekraft sind und waren schon immer ein Problem in der Ausbildung der Medizin. Insbesondere der Arbeitsmedizin.

Prof. Andrea TANNAPFEL hält auf Nachfrage an ihrer Bewertung fest: "Dies ist ein weltweit einzigartiger Datensatz und daher wissenschaftlich besonders wertvoll." Und: "Die wissenschaftliche Aussagekraft ist gegeben."

Die unterschiedlichen Positionen der Wissenschaftler und die Finanziers dieser Positionen sind hier in einer kleinen Synopse zusammen gefasst: BERNSTEIN/ROGGLI + TANNAPFEL et al gegen den Rest der Welt


Die Zahlen. Die Kranken. Und die Toten

Aber ob nun die Chrysotilasbestfasern beständig, weniger beständig oder überhaupt nicht beständig sind, ob und wie lange sie in der Lunge verbleiben, also "Fahrerflucht" begehen, und wie sich das auf die Möglichkeit auswirkt, Krebs auslösen zu können oder nicht, darum geht es beim Mesotheliomregister offenbar gar nicht in erster Linie. Die zentrale Monopolposition und deren Deutungshoheit in Sachen Asbest, die Prof. Herbert OTTO begonnen hatte und die nun von Prof. TANNAPFEL weitergeführt wird, hat offensichtlich Früchte getragen. Egal, mit welcher Position.

Denn es geht um die Zahlen. Um die Kranken und um die Ausgaben, die dafür seitens der Unternehmen über ihre Berufsgenossenschaften zu leisten wären.

Als OTTO 1965 zum ersten Male konkrete Zahlen zu Asbestkranken genannt hatte, lagen die im einstelligen Bereich. Und die Anerkennungsquote hoch: 61% bei der Asbestose, 90% beim Asbestlungenkrebs. Es betraf die Ära der Latenzzeit.

In den 80er Jahren war es damit vorbei, die Zahlen stiegen. Nicht auszudenken (bzw. auszurechnen), was es kosten würde, wenn die hohen Anerkennungsquoten beibehalten worden wären:

Bleiben die Toten. Jene, die vorzeitig wegen Asbestschäden aus dem Leben gerissen wurden. In der Regel qualvoll. Und die dann nicht nur finanzielle Probleme ihren Familien hinterlassen. Denn wer von einer Berufsgenossenschaft nicht entschädigt wurde und wegen Nichtvollendung der üblichen Anwartschaftszeiten nur eine kleine Erwerbsunfähigkeitsrente erhielt, hinterlässt seiner Familie davon nur einen Bruchteil als Witwenrente.

Für das Jahr 2017 weist die Statistik beim Lungenkrebs 605 Tote aus. Bei der Asbestose 174 und beim Mesotheliom 843. Zusammen 1.622 Asbesttote. 

Das sind die offiziellen Zahlen. Als "berufsbedingt tot" gilt in der Definition des GUV-Systems aber nur, wer zu Lebzeiten eine Berufskrankheit überhaupt anerkannt bekommen hatte. Bei allen drei asbestbedingten Gesundheitsschäden liegt diese Quote zusammengenommen bei 44%. Rechnet man das auf alle Anzeigen, also auf 100% hoch, so sind das 4.268 Asbesttote - eine Dunkelziffer nicht mit eingerechnet. Zum Vergleich: Beim Strassenverkehr beklagen wir 3.280 Tote. 

Die Zahl der Asbesttoten liegt damit in der Größenordung, die 1981 ein Mitarbeiter des Umweltbundesamtes nach der Veröffentlichung der Studie "Luftqulitätskriterien. Umweltbelastung durch Asbest und andere faserige Feinstäube" in einer Fernsehsendung prognostiziert hatte, weshalb die Asbestindustrie das UBA auf Unterlassung verklagen wollte: Wenn es soweit ist, jedes Jahr etwa 4.000 Tote. 

Doch soweit hätte es - eigentlich - nicht kommen müssen. Um die Gefahren wusste man schon seit über einhundert Jahren 


Anmerkung: Inzwischen hat auf der Ebene der Landessozialgerichte ein Umdenken begonnen. In Sachen Asbest akzeptieren sie nicht mehr die Theorien des Mesotheliomregisters. Was bedeutet, dass man sich bis in diese Instanz hinaufklagen sollte, wenn eine BG eine asbestbedingte Berufskrankheit ablehnt, die auf Gutachten fußt, die mit der Zählung von Asbestkörperchen argumentieren. Dies sind die bisher ergangenen Urteile:

  • LSG Nordrhein-Westfalen, 13.05.1997, Az. L 15 U 55/93
  • LSG Nordrhein-Westfalen 11.12.1997 Az. L15 U274/97
  • LSG Rheinland-Pfalz, 25. 1. 2000, Az. L7U158/98
  • Bayerisches LSG 28.03.2001, Az. L 17 U 57/96
  • LSG Niedersachsen/Bremen, 6.9.2018, Az. L 14 U 48/18

Mehr zur Auseinandersetzung zwischen dem Mesotheliomregister und dem Rest der Welt findet sich im Kapitel Deutsches Mesotheliomregister. Im Kapitel Das System der (Deutschen) Gesetzlichen Unfallversicherung. Wie es gedacht war. Was daraus wurde. Und warum ist die aktuelle Situation beschrieben. Hinweise und Tipps gibt es unter Was kann man tun bei Asbest?


(JL)