Wie die Rinderseuche BSE zum Problem wurde

Eine längere Chronologie

seit 1732

Europa:

Scrapie, eine Krankheit, die bei Schafen in England beobachtet wird, ist seit dem 18. Jahrhundert bekannt. Scrapie zerstört Nervenzellen im Gehirn und im verlängerten Rückenmark und bildet Löcher in der Gehirnsubstanz. Viele Nervenfunktionen sind damit gestört. Die Tiere können nicht mehr stehen, brechen zusammen, verenden

Zu dieser Zeit gelten derlei Krankheiten als gottgegeben – die Tiermedizin ist ein Stiefkind der Medizin. Neue Erkenntnisse konzentrieren sich auf den Menschen


1913 / 1920

Der Neurologe Dr. Hans-Gerhard CREUTZFELDT von der bekannten Breslauer Universitäts-Nervenklinik bekommt im Juni 2013 eine neue Patientin: Berta ELSCHKER, Dienstmädchen in einem Kloster und 23 Jahre alt. Ihr Körper zittert plötzlich, ihr Gesicht bekommt einen verwirrten Ausdruck, auf Fragen reagiert sie nicht mehr. Wenige Wochen später ist sie tot.

CREUTZFELD untersucht ihr Gehirn: Es besteht nur noch aus einer aufgeschwollenen klebrigen Masse - Überreste von einstmals Millionen intakter Gehirnzellen. Zum Veröffentlichen seiner Ergebnisse kommt er nicht mehr: Inzwischen ist der (Erste Welt)Krieg ausgebrochen.

Erst 1920 kann CREUTZFELD seine Beobachtungen zu Papier bringen. Sie werden aufmerksam gelesen von Alfred JAKOB, ebenfalls Neurologie, aber in Hamburg. Er hat zu dieser Zeit ähnliche Beobachtungen gemacht.

Beide tun sich zusammen. Und jetzt hat die unbekannte Krankheit einen Namen: CREUTZFELD-JAKOB-Krankheit. Allerdings: Sie tritt nur selten auf. In Deutschland etwa 80 Mal pro Jahr. Sie führt deshalb ein Schattendasein - im öffentlichen Fokus steht sie nicht. Auch in der medizinischen Fachwelt führt die Krankheit, die im Tod endet, nur eine Nebenrolle


50er Jahre

Neu-Guinea:

Wissenschaftler untersuchen die Kuru (‚das Zittern‘)-Krankheit die ausschließlich beim Fore-Bergvolk in Neuguinea auftritt. Die Krankheit beginnt mit einem leichten Zittern in den Extremitäten und führt dann schnell zum Tod. Die Krankheit überträgt sich während einem traditionellen Ritual bei Beerdigungen: Das Gehirn des Toten wird den Trauernden im Gesicht verstrichen.

All dies sind Informationen, die niemand in einen Zusammenhang bringt. Es gibt auch keinen Anlass


1979

Weltweit und in Europa / EU:

Das Essen von Fleisch wird immer mehr zum alltäglichen Normalfall. Dies bedeutet auch, dass es nicht allzu teuer sein darf. Das wiederum erzeugt Kostendruck. 

In Großbritannien sinkt der Kurs des britischen Pfundes. Folge: Der Import von Soja wird immer teurer. Anschlussfolge: Jetzt wird dem Futter immer häufiger und immer mehr (gemahlenes) Tiermehl aus Tierkadavern zugesetzt. U.a. aus an Scrapie verendeten Schafen.

Dazu wird das Produktionsverfahren in den Tierkörperverwertungsanstalten geändert. Die Temperatur bei der Kadaververbrennung wird von 133 auf 80 Grad abgesenkt. Das spart weitere Zeit und Energie, sprich Kosten. Allerdings: Der tödliche Erreger in Gestalt von Scrapie, der bisher nur bei den Schafen auftrat, kann überleben und über das Futter an die Rinder weitergegeben werden. Darüber macht man sich wenig Gedanken.

Dass die Kadaver von toten Schafen Eingang in die Tiermehlproduktion von Rindern finden, hängt mit dem europäischen Prämienssystem zusammen, das britische Schafe begünstigt: Schafherden gibt es in unendlicher Zahl. Doch sind die Tier einmal tot, müssen die Kadaver irgendwo hin. Warum sie also nicht kostengünstig und ertragreich verwerten? So macht man es schon lange in der Chemie-Industrie: Dort sind in den 70er Jahren (schädliche) Holzschutzmittel auf PCP-Basis (Penta-Chlor-Phenol) ein lästiges Abfallprodukt der Chlorproduktion, mit denen man zusätzlich Umsätze generieren kann (mehr unter www.ansTageslicht.de/Schoendorf). Dass die Verbraucherprodukte giftig sind, stört die Hersteller nicht. So auch nicht die Fa. Desowag ("Xyladecor"), eine Tochter des Chemiegiganten BAYER.

In England,

dem Vereinigten Königreich, gibt eine Königliche Kommission unter dem Vorsitz von Lord ZUCKERMAN, die sich mit der Übertragung von Krankheitserregern im Verarbeitungsprozeß im allgemeinen befaßt, zu bedenken, ob es unter epidemiologischen Gesichtspunkten klug sei, verarbeitete tierische Abfälle an Wiederkäuer zu verfüttern? Ihre Überlegungen verhallen.
Unabhängig davon: Die Internationale Klassifikation von Krankheiten lässt erstmals die Angabe von Creutzfeldt Jakob (CJD) auf dem Totenschein zu. Nach über 60 Jahren seit zum ersten Male diese Erkrankungen dokumentiert wurden


Dezember 1984

David BEE, Tierarzt in West Sussex (England), ist erstmals mit einer neuen Rinderkrankheit konfrontiert, er nennt sie „Pitsham Farm Syndrome“. Die Symptome sind jene, die man später als BSE bezeichnen wird. Immer häufiger wird er zur Stent-Farm gerufen - die Fälle mehren sich


11.02.1985

Ein erster ‚BSE'-Fall wird im englischen Kent aktenkundig. Zu diesem Zeitpunkt hat die Krankheit noch keinen offiziellen Namen. Weitere Fälle sind zu diesem Zeitpunkt amtlich noch nicht bekannt. Das Tier verendet. 
Eine Pathologin vom zentralen Veterinäramt in Weybridge, im Südosten Englands, stellt bei der Untersuchung des zehnten am „Pitsham Farm Syndrome“ gestorbenen Rinds fest, dass das Hirn des Rinds ähnliche Schäden aufwies, wie die Scrapie-Krankheit sie auslöst. Konkret: im Hirn schwammartige Löcher.

Dr. Gerald WELLS (britischer Tierarzt, siehe ABC der Akteure) hält  die Schäden für durch toxische Schäden bedingt.

Inzwischen exportiert die britische Wiederkäuer-Futtermittelindustrie größere Mengen an (kosten)günstigem Tiermehl in andere EU-Länder. Ebenso werden mit britischem Tierfuttermehl herangezüchtete Rinder exportiert. Aufgrund des billigen englischen Pfundes sind Importe in anderen EU-Ländern finanziell attraktiv


November 1986

Wissenschaftler am Central Veterinary Laboratory in Weybridge bei London bestätigen, eine unbekannte Krankheit unter Rindern festgestellt zu haben. Sie hat jetzt einen Namen: bovine spongiforme encephalopathy - abgekürzt „BSE“. Es gibt erste Experimente, um die Übertragungswege zu rekonstruieren


1987

Inzwischen sind in England – offiziell - 4 große Rinderherden befallen. Was man erst 10 Jahre später, 1997, wissen wird: Tatsächlich sind knapp 48% aller in diesem Jahr neugeborenen Rinder infiziert. Die britische konservative Regierung unter der Premierministerin Margret THATCHER lässt jedoch offiziell erklären, das BSE nicht gefährlicher als die Schafskrankheit Scrapie sei. Und das Fleisch solcher Tier würde seit Jahrhunderten gegessen - immer ohne Folgen, also keine Gefahr.

USA:

Dort reagiert man anders: In den Vereinigten Staaten reagiert man schnell: Die USA erlässt ein Importverbot von britischen Fleisch.

In England

reagiert man nicht wirklich - die konservative Regierung versucht das Problem herunterzuspielen und auszusitzen – es stehen landwirtschaftliche Interessen auf dem Spiel.
Die einzige Maßnahme, zu der man sich durchringen kann: das Verfahren der selektiven Tötung. Tiere, die aller Wahrscheinlichkeit nach das höchste Ansteckungsrisiko durch verseuchtes Futter aufweisen, sollen identifiziert und getötet werden. Ihre Kadaver dann verbrannt. Die Transportwege aller Rinder, die an BSE verendet sind, werden jetzt im Landwirtschaftsministerium minutiös verfolgt, und die Regelung der selektiven Tötung gilt für Nachkommen von nachweislichen BSE-Fällen sowie für Tiere aus der gleichen Herde - z.B. Tiere, die ebenfalls verseuchtes Futter gefressen haben könnten. Bedenken, Warnungen oder andere Empfehlungen sind politisch unerwünscht.

Der britische Mikrobiologe Dr. Stephen DEALLER veröffentlicht einen Artikel über die Gefahr von BSE-belastetem Rindfleisch. Er gerät sofort unter Druck. 
Im November äußert sich ein Sprecher des Ministry of Agriculture in London so: "It is too early to come to conclusions, it might be caused by toxic products, or food, or it might be genetic." Einen Monat später wird die erste epidemiologische Studie abgeschlossen. Es gibt eine Theorie des Übertragungswegs: Fleisch- und Knochenmehle im Tierfutter können  für die neue Erkrankung verantwortlich sein.
Währenddessen wird man auch in anderen EU-Ländern auf die neue Tierkrankheit aufmerksam


1988

Nachdem Ratgeber der britischen Regierung ihre Besorgnis für das mögliche BSE-Risiko für Kinder äußern, kann sich die britische Regierung zu einem weiteren Schritt entschließen: Sie untersagt die Verfütterung von Schafsinnereien an Rinder sowie den Verkauf von Innereien und Milch infizierter Kühe.

Und sie setzt eine Expertengruppe unter der Leitung des Zoologie-Professors Richard SOUTHWOOD ein. Die Gruppe soll die Folgen von BSE für die menschliche Gesundheit beurteilen. Allerdings:

  • Die eingesetzte Gruppe, die aus hochkarätigen Wissenschaftlern besteht, arbeitet unter Ausschluss von Experten für Spongiforme Enzephalopathie.
  • Und sie hat auch nicht den Auftrag, sich zu zu den Konsequenzen der Verwendung von Fleisch- und Knochenmehl als Futtermittel zu äußern, wo Wiederkäuer mit ihnen in Berührung kommen könnten.

Sir Richard SOUTHWOOD wird Jahre später einem vom EU-Parlament eingesetzten Untersuchungsausschuss dies berichten:
Wenn Sie mich fragen, ob die Arbeitsgruppe, in der ich den Vorsitz führte, 1988 … die Auffassung vertreten hätte, daß ein Risiko für Herden in anderen Ländern bestünde, falls im Vereinigten Königreich (mit Fleisch- und Knochenmehl) hergestelltes Tiermehl exportiert würde, bin ich völlig sicher, daß wir diese Frage bejaht hätten. Da das Tiermehl fast sicher die Ursache des Ausbruchs im Vereinigten Königreich war, steht fest, daß es (ungeachtet des Gesetzes) unverantwortlich war, es anderswo als Futtermittel für Wiederkäuer zur Verfügung zu stellen“.

Von sich aus machen die Wissenschaftler aber ebenfalls nicht auf die ihnen wissenschaftlich bekannten Probleme und Vermutungen aufmerksam. Wer zu dieser Zeit Gutachten im Auftrag der Regierung haben möchte, darf sich nicht aus dem Fenster lehnen. Und schon garnicht dem politisch erwünschten Mainstream widersprechen.

Weil die Wissenschaftler nicht genügend ‚Dampf machen‘, reagiert die britische Regierung auch nicht auf die Sorge der SOUTHWOOD-Kommission wegen des möglichen Risikos für Kinder aufgrund homogenisierter Rindfleischerzeugnisse in Babynahrung und den Verzicht auf spezifizierte Rinderschlachtabfälle (SBM) in Babynahrung, die sie empfiehlt. Erst sehr viel später wird sie darauf reagieren.

Weil es jetzt erste gesetzliche Einschränkungen bei der lukrativen Verwertung des mit Kadavern angereicherten Tierfuttermehls auf der Insel gibt, wird das kadaverhaltige Tierfutter aufs Festland exportiert. Die Ausfuhren in die EG steigen von 12.543 t im Jahre 1988 auf das Doppelte: auf 25.005 t im Jahre 1989. Diese Zahlen nehmen nur Experten zur Kenntnis - die Öffentlichkeit erfährt davon so gut wie nichts. Es gibt auch keine Whistleblower, die darauf aufmerksam machen.

Die EU-Parlamentarier werden das einige Jahre später so in ihrem abschließenden Untersuchungsbericht festhalten:
Die zuständigen Behörden des Vereinigten Königreichs haben seit 1988 eine Vielzahl von Vorschriften erlassen, die die verschiedenen Aspekte des Schutzes vor möglichen BSE-Risiken abdecken. Somit besteht das Problem nicht im Fehlen geeigneter legislativer Vorkehrungen, sondern in der Haltung der Regierung, die weder die korrekte Anwendung der Vorschriften sichergestellt noch die erforderlichen Kontrollen durchgeführt hat.“
Und:
Außerdem hat die britische Regierung - wahrscheinlich auf Drängen der Fleischindustrie - ihrerseits Einfluß auf den Veterinärdienst der EU-Kommission genommen, um zu versuchen, die Angelegenheit auf den nationalen Rahmen zu beschränken und auf diese Weise gemeinschaftliche Inspektionen und die Verbreitung von Informationen über das wahre Ausmaß der Tierseuche zu verhindern, die einige Mitgliedstaaten um des Schutzes der Gesundheit ihrer Bürger willen zu einseitigen Maßnahmen veranlaßt hätten.“

Europa / EU:

Ein sehr großer Teil des (verseuchten) Tiermehlfutters geht nach Frankreich in die Bretagne. Dort verbreitet sich BSE. Allerdings nicht statistisch: Es gbt keine Statistiken, die erhoben werden. Denn auch die EU reagiert nicht. Weder erlässt sie ein Export-/Importverbot für britisches Tierfuttermehl, noch macht sie Anstalten, das Problem in den anderen Ländern zu beobachten bzw. die Auswirkungen zu verfolgen. Die EU ist vor allem eine Agrargemeinschaft – über 60% des EU-Etats geht in die Subventionen für die Landwirtschaft(sindustrie).

So werden erste wissenschaftliche Alarmsignale, dass bei BSE die Artenschranke sehr wohl übersprungen werden kann (Experimente mit Mäusen), sowohl auf der britischen Insel als auch auf dem europäischen Festland nicht ernst genommen.

England:

Weil sich im Vereinigten Königreich herausstellt, dass immer mehr Rinder ganz offensichtlich ‚verseucht‘ sind, kommt es zu Zwangsschlachtungen bei Verdachtsfällen, insbesondere in den Regionen in England, Schottland und Wales. Um die Bauern finanziell zu entlasten, werden sie zu 50% des Marktwertes ihrer Tier entschädigt. Weil dies für viele Bauern existenzbedrohend ist, wird dieses Programm kaum angenommen – die Wirkung verpufft.

Vor Jahresende, im Dezember, ergreift die Regierung noch eine Maßnahme: Sie verbietet die Verwendung von Milch von mutmaßlich erkranktem Vieh für jeden anderen Verwendungszweck als die Fütterung der eigenen Kälber. Dieses Vorgehen zeigt, daß die britischen Behörden bereits 1988 die Möglichkeit eines Risikos für die Volksgesundheit im Fall des Verzehrs von an BSE erkrankten Tieren nicht ausschließen wollen


09.02.1989

Die „SOUTHWOOD-Gruppe“, gibt bekannt, das BSE-Risiko für den Menschen sei „verschwindet klein“. Allerdings mit der Einschränkung, dass die Folgen für den Fall, dass man sich geirrt habe, sehr ernst sein dürften. Und die Wissenschaftler, die keine BSE- oder ähnliche Experten an Bord haben, dies offenbar auch nicht als mindernden Umstand empfinden, dies jedenfalls nicht öffentlich zu erkennen geben, sagen voraus, dass insgesamt nur 17.000 bis 20.000 BSE-Fälle zu erwarten seien und Rinder sogenannte „Dead-End-Hosts“ seien. BSE also mit diesen Rindern aussterben würde.

Und so werden die nächsten Jahre die Zahlen aussehen. Die Daten stammen von der World Organisation for Animal Health:


1989

Europa / EU:

Der Ständige Veterinärausschuss verhindert im Europäischen Parlament ein EU-weites Verbot für Säugetierproteine. Die EU ist in diesen Jahren v.a. ein System zur Subventionierung der Agrarwirtschaft(sindustrie).
Der (erst) im Jahr 1996 eingesetzte Parlamentarische Untersuchungsausschuss des EU-Parlaments wird dazu dies konstatieren:

Es muß darauf hingewiesen werden, daß der Wissenschaftliche Veterinärausschuß in der Zeit zwischen 1989 bis zur Sitzung am 22. März 1996 immer an dem Standpunkt festgehalten hat, daß es - wenn überhaupt nur ein äußerst geringes Risiko der Übertragbarkeit von BSE auf den Menschen gebe. Außerdem kann der Wissenschaftliche Veterinärausschuß in späteren Sitzungen, in denen man sich mit Fällen von infizierten Tieren befaßte, die im Anschluß an das Verbot der Verabreichung von Wiederkäuer-Proteinen geboren worden waren, immer zu der Feststellung, daß solche Fälle vorhersehbar waren und es nicht erforderlich sei, weitere Vorkehrungen zu treffen. Wie die Erfahrung gezeigt hat, nahm die Kommission auf der Grundlage der vorstehend erläuterten Argumente eine falsche Risikogewichtung vor. Zum anderen hätte die Kommission unter Inanspruchnahme ihrer eigenen Kapazitäten für eine wissenschaftliche Auswertung versuchen müssen, eingehend der Frage nachzugehen, aus welchen Gründen die Krankheit nicht verschwand; dabei hätte sie gegebenenfalls auch die Risiken einer vertikalen Übertragung berücksichtigen müssen.“ 

Und in einem Minderheitenvotum wird es heißen:

Ebenso wie dies im Bericht des Untersuchungsausschusses klar zum Ausdruck kam, wurde darin festgestellt, daß die KOMMISSION zwischen 1989 und 1997 schwere Unterlassungen, ja sogar Verstöße gegen den Vertrag über die Europäische Union begangen hat, und zwar bezüglich der Annahme und der Kontrolle von Maßnahmen zum Schutz der menschlichen und tierischen Gesundheit.“


Sommer 1989

Weil jetzt immer mehr Tiermehl aus dem Vereinigten Königreich nach Deutschland gelangt, reagiert die Bundesregierung: Sie erlässt ein Importverbot für britisches Tiermehl. Einen Monat später macht dies auch Frankreich. Im Herbst verhängt auch Italien ein solches Importverbot.

Im Juli erlässt die EU immerhin ein Exportverbot für Rinder aus Großbritannien in die Länder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EG), die vor dem 18.07.1988 geboren wurden sowie für Kälber von BSE-verdächtigen Kühen. Aber – etwa aus Sicherheitsgründen – kein generelles Exportverbot


später

Keith MELDRUM, Leiter des Veterinärdienstes im Vereinigten Königreich, gibt sich über die EU-Kommission verärgert. Er vertritt die Meinung, dass Inspektoren der Kommission nicht befugt sind, Nachforschungen über BSE im VK anzustellen.

Auf einer Sitzung des Ständigen Veterinärausschusses der EU erklärt er wortwörtlich:
 "Da für den Menschen keine Gefahr besteht, müssen wir bei unseren Vorschlägen erneut extreme Vorsicht walten lassen. Denn die Öffentlichkeit ist beunruhigt. Sie ist besorgt wegen dieser neuen Krankheit, und eigentlich handelt es sich eher um ein Vertrauens problem der Verbraucher als um ein Verbraucherschutzproblem."
Und:
"Wir behaupten jedoch, daß weder eine Gefahr noch Beweise für derartige Gefahren existieren."

Im Untersuchungsausschuss der EU wird sich Jahre später herausstellen, dass „das Vereinigte Königreich Druck auf die Kommission ausgeübt hat, um sie dazu zu bewegen, im Zuge der allgemeinen Inspektionen der Schlachthäuser, die im Zeitraum 1990-1994 regelmäßig im Zusammenhang mit der Anpassung der Anlagen an den Binnenmarkt durchgeführt wurden, auf die Untersuchung der BSE-Problematik zu verzichten."


1990

Mehrere Entwicklungen laufen parallel einher - in Großbritannien, Deutschland und anderswo:

  • Großbritannien weist einen Vorschlag der EU-Kommission, nach dem die Ausfuhr von Fleisch- und Knochenmehl untersagt werden soll, entschieden zurück. Gleichzeitig ist sich die britische Regierung des Problems schon bewusst: Weil die Maßnahme, die eigenen Rinderzüchtern nur mit 50% des Marktpreises potenziell BSE-infizierter Tiere zu entschädigen nicht wirklich funktioniert, werden ab sofort die dem MAFF überlassenen und notgeschlachteten Rinder zu 100% entschädigt. Jetzt steigen die Zahlen von 7.228 im Jahr 1989 auf über 14.000 bis Ende des aktuellen Jahres.
  • Nach außen hin tut die britische Regierung so, als gäbe es kein Problem. Landwirtschaftsminister John GUMMER verspeist zusammen mit seiner vierjährigen Tochter vor laufender Kamera einen Hamburger und betont dabei, dass britisches Rindfleisch vollkommen sicher ist. 
    Aus Urheberrechtsgründen können wir dieses Bild leider nicht zeigen. Es lässt sich aber sehr einfach über Google und "Bilder" mit den Stichworten "john gummer daughter burger" finden.
  • Im Dezember veröffentlichen der britische Virologe Dr. Stephen DEALLER sowie Prof. Richard LACEY in der angesehenen Fachzeitschrift Food Microbiology einen Artikel mit dem Titel "Transmissible spongiform encephalopathies: The threat of BSE to man". Inhalt: Die offenkundig hohe Infektionsrate von BSE-infizierten Rindern im Vereinigten Königreich stelle eine absolute Gefahr für den Menschen dar. Das MAFF weist diese Einschätzung als "Spekulation und Panikmache" zurück.
    Die Forscher stellen außerdem fest, dass es fast unmöglich ist, mit konkreten Daten wissenschaftlich zu arbeiten. Grund: Das MAFF, das Eigentümer aller BSE-infizierten Rinder ist, lässt nur die eigens beauftragten Wissenschaftler an das infizierte Material heran und schließt insbesondere unabhängige oder gar kritische Wissenschaftler aus.
  • In Deutschland erklärt das Bundeslandwirtschaftsministerium "Ein EG-weites Verbot der Verwendung von Tiermehl und Tierfett als Futtermittel wäre … unverhältnismäßig und nicht durchsetzbar."
    Anders im Bundesland Hessen. Dort stellt die Fraktion DIE GRÜNEN im Landtag den Antrag, Tiermehle im Tierfutter zu verbieten. Und ebenso den Import von Rindern aus potenziellen BSE-Ländern. Der zuständige Minister antwortet, dass "die jetzt gültigen tierseuchenrechtlichen Bestimmungen einem Einfuhrstopp gleichkommen".
  • Im Schlachthof von Bad Bramstedt (Schleswig-Holstein) fallen im August der dort zuständigen Tierärztin Dr. Margrit HERBST erstmals Rinder mit "traberartigen Bewegungsabläufen" auf. Sie beschlagnahmt 7 Tiere und holt sich fachliche Rückendeckung beim Direktor des Tiergesundheitsamtes in Hannover. Dort (!!!) arbeitet auch Prof. POHLENZ, der sich bereits in England mit den dortigen Untersuchungsmethoden vertraut gemacht hat. 
    Margrit HERBST beginnt nun, sich wissenschaftlich mit dieser neuen Krankheit zu beschäftigen. Sie wird bereits zu Beginn des neuen Jahres mit einem ersten Aufsatz dazu herauskommen: "BSE - Alte Krankheit mit neuer Problematik"? Sie erhält Schützenhilfe - viele renommierte Wissenschaftler warnen ebenfalls in Presse, Radio und Fernsehen: Z.B. Prof. W. MIELDS vom Bundesgesundheitsamt in der taz, die tageszeitung vom 8. Juni: !!!
    Ganz anders Prof. Dr. Dr. h.c. Otto Christian STRAUB. Er bemüht sich in verschiedenen Fachzeitschriften das Problem BSE herunterzuspielen
  • Frankreich handelt schnell: Es verbietet im Alleingang, heimische Rinder mit Tiermehr zu füttern. Ebenso handelt die Schweiz

1991 USA:

Der amerikanische Virologe, Biochemiker und Neurologe an der University of California, Prof. Stanley Ben PRUSINER, der 1997 einen Nobelpreis für Medizin erhalten wird, und jetzt schon an Prionen forscht, den Ursachen bisher seltener Krankheiten wie etwa der Creutzfeld-Jakob-Krankheit, warnt in London vor 300 Wissenschaftlern davor, die Öffentlichkeit in falscher Sicherheit zu wiegen: "Wenn wir Wissenschaftler gefragt werden, ob BSE auf den Menschen übertragbar ist, müssen wir ehrlicherweise sagen: Wir wissen es nicht."
Die EU kann sich mit den Regierungen ihrer Mitgliedsstaaten zumindest darauf einigen, dass ab sofort eine Anzeigepflicht für BSE-Fälle gilt: EU-weit


1992

Europa / EU:

Gleich zu Beginn des neuen Jahres, am 7. Februar, kommt es zu Unterzeichnung des Maastrichter Vertrages: Die EU soll von nun an mehr als ein einheitlicher Binnenmarkt sein. Kurzfristig sollen in den Bereichen Justiz und Inneres kooperiert werden. Ebenso ist eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik angedacht. Langfristig soll eine gemeinsame Wirtschafts- und Währungsunion entstehen.

Im schleswig-holsteinischen Schlachthof von Bad Bramstedthat die Tierärztin Dr. Margrit HERBST im vergangenen Jahr wiederum mehrere Tiere BSE-verdächtig diagnostiziert. Bis Ende des Jahres 1991 insgesamt 18. Dr. HERBST hat mehrere Proben an Prof. POHLENZ eingeschickt, der aber mit seiner Diagnosetechnik keine eindeutigen Beweise für BSE feststellen kann. "Keine eindeutigen Hinweise", lauten seine Befunde.
Weil sich die Fälle häufen und Margrit HERBST auch Meldung erstattet, kommt es zu einem Gespräch zwischen ihr und dem Landrat des Kreises Seegeberg, Georg GORRISSEN (SPD), dem das Veterinäramt Seegeberg sowie das untergordnete Fleischhygienamt unterstellt sind, das wiederum die Schlachthöfe kontrolliert. 
HERBST erläutert dem Landrat die Probleme, weist auf die Gefahren und akute Hygieneprobleme im Schlachthof hin und berichtet auch, dass sie in Kontakt mit anderen, kritischen Wissenschaftlern stehe, mit denen sie sich austausche und auch wissenschaftlich veröffentliche. Der Landrat empfiehlt ihr einen Antrag auf Nebentätigkeit zu stellen, der später auch genehmigt wird. Ansonsten sichert GORRISSEN der Tierärztin seine persönliche und volle Unterstützung zu. HERBST übergibt ihm zwei ihrer neuesten Veröffentlichungen.

Aus der Unterstützung, die der SPD-Landrat zusagt, wird nichts. HERBST wird gegen ihren Willen an das Schlachtband versetzt, wo die Tiere bereits zerstückelt sind und in hohem Tempo vorbeiziehen. Bis zu diesem Zeitpunkt war sie an der Eingangskontrolle tätig, wenn die Tiere angeliefert wurden. Jetzt kann sie nicht mehr verdächtige Tiere im Lebendzustand checken. Mit der Versetzung bedeutet man ihr zugleich, dass sie besser kündigen solle. Oder Wohlverhalten zeigen.
Schreiben an die Personalverwaltung mit der Bitte um Rückversetzung in ihren eigentlichen Job, für den sie eingestellt worden war, bleiben ohne Reaktion. Auch ein (erneutes) Schreiben an Landrat GORRISSEN bleibt ohne Antwort. HERBST kann nur noch sporadisch BSE-Verdachtsfälle diagnostizieren. Mehr unter Der Fall Dr. Margrit HERBST - eine Chronologie .

Dass BSE insbesondere ein britisches Problem darstellt, zeigt die nachfolgende Abbildung, in der auch die BSE-bekannten Fälle in anderen EU-Staaten eingetragen sind: Zahlenmäßig sind sie im Vergleich so gering, dass man sie kaum als sehr flache Kurven erkennen kann:


Und wieder ein toter Bauer: Peter WARHUST aus Nordengland, der die Milch seiner Kühe getrunken hatte. Als man seinen Schädel aufsägt, ist das Gehirn durchlöchert und geschrumpft: eindeutiges Indiz für das Creutzfeldt-Jakob-Syndrom (CJS), über das aber noch niemand offiziell redet


1993

Ab ersten November fällt das Thema (Volks)Gesundheit nach dem Maastrichter Vertrag in die Zuständigkeit der EU-Kommission, konkret der Generaldirektion V (GD V). Wie gut der EU-Apparat darauf vorbereitet ist und wie ernst er diese Aufgabe im Zusammenhang mit BSE wahrnimmt, wird im späteren Parlamentarischen Untersuchungsbericht so beschrieben: "Die GD V hat darüber hinaus, obwohl sie ausreichend Hinweise auf die mit BSE verbundenen Gefahren für den Menschen erhielt, nicht die notwendigen Schritte unternommen, um dem Gesundheitsschutz in der Gemeinschaft Geltung zu verschaffen, obwohl dies ihre Aufgabe ist. Sie hat die Erforschung der Zusammenhänge zwischen CJK und BSE zu einem Zeitpunkt verhindert, als die Gefahr für Menschen bereits weitgehend abschätzbar war."

DER SPIEGEL berichtet in seiner Ausgabe Nr. 13 unter dem Titel "Seuchenpfad aus der Tierwelt", dass sich der Virus bereits auf 19 Tierarten übertragen ließ. Eine sogenannte Artenschranke gibt es offenbar nicht.

Das sieht in Großbritannien auch Dr. Stephen DEALLER so, der von der Regierung und den von ihr beauftragten Wissenschaftlern gemieden wird. Bei ihm wird zuhause eingebrochen. Geld oder andere Vermögensgegenstände fehlen nicht. Nur eine Computerdiskette. Auf ihr gespeichert: Daten, die er für eine weitere Veröffentlichung gesammelt hat. Jetzt ist der Datenträger weg. DEALLER kann alles rekonstruieren, so dass der geplante Aufsatz trotzdem erscheinen kann: "Bovine Spongiform Encephalopathy (BSE): The Potential Effect of the Epidemic on the Human Population". In: British Food Journal (Vol. 95). DEALLER geht im übrigen von einer hohen Dunkelziffer nicht gemeldeter BSE-Fälle aus.

Wenig später treffen sich DEALLER und sein Kollege Prof. LACEY zu einem Gespräch mit Mitgliedern des regierungsberatenden Gremiums SEAC (Spongiform Encephalopathy Advisory Committee), den Herren Dr. TYRELL, WILESMITHund BRADLEY im MAFF-Pavillon auf Stoneleigh National Agricultural Showground. Prof LACEY und Dr. DEALLER verlassen das Treffen mit dem Gefühl, dass sie keine faire Anhörung hatten, sondern regelrecht vorgeführt wurden.

DEALLER: "It seemed initially that Professor Lacey and I were being treated as people who simply did not understand the subject and we had to be taught the truth so that we did understand. It was as if anything that we put forward was treated as invalid if it did not agree with their point of view whereas much of what they were saying the other way was accepted." Und: "The impression that I got from the meeting was that Dr Tyrrell was accepting MAFF's position on BSE as fact and as such it would be very difficult to get information to be assessed independently in the UK."

Als sich DEALLER wenig später als "Consultant" (Berater) auf andere Jobs bewirbt, wird er nirgendwo zum Vorstellungsgespräch eingeladen - DEALLER wird gemobbt. Schließlich wird ihm ein Brief des Public Health Laboratory Service zugespielt, in dem vor ihm gewarnt wird: Er sei inkompetent und für derlei Posten nicht geeignet.

In Deutschland 
veröffentlicht Dr. Magrit HERBST in der Fachzeitschrift Rundschau für Fleischhygiene und Lebensmittelüberwachung (Nr. 1): "Die bovine spongiforme Enzephalopathie - eine neue Gefahr für Mensch und Tier?"

Als im Dezember zum Jahresausklang in Berlin ein großer BSE-Kongress stattfindet, auf dem sich führende Wissenschaftler aus der ganzen Welt treffen, bestreiten die britischen Experten jeglichen Zusammenhang zwischen BSE und der Creuzfeldt-Jakob-Krankheit


1994

Das Bundeslandwirtschaftsministerium gibt Anfang des Jahres bekannt, dass bereits vor zwei Jahren ein aus England importiertes Rind an BSE zugrunde gegangen ist - ein Einzelfall angeblich.

Bundesgesundheitsminister Horst SEEHOFER (CSU) erklärt im April vor dem Deutschen Bundestag: Man müsse davon ausgehen, dass BSE auf den Menschen übertragen werden könne!

Grund genug für das Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft, Forsten und Fischerei (MELFF) in Schleswig-Holstein, ein dreiseitiges Schreiben an alle Landräte und Bürgermeister kreisfreier Städte zu verschicken: "Maßnahmen zur Bekämpfung der Bovinen Spongiformen Enzephalopathie":

Die wichtigsten Inhalte:

  • "Niemand kann derzeit ausschließen, daß der BSE-Erreger auch die Barriere Rind/Mensch zu überschreiten vermag"
  • "Diese Erkenntnisse machen unter Abwägung des Gefahrenpotentials a) Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, b) Ausmaß und Gewicht des zu erwartenden Schadens eine neue Risikobewertung erforderlich"
  • Deswegen seien "Maßnahmen zum Schutz des Verbrauchers vor möglichen Gesundheitsgefahren unabdingbarer Vorrang vor wirtschaftlichen Gesichtspunkten einzuräumen."

Landrat im Kreis Segeberg und Margrit HERBST's oberster Vorgesetzter, Georg GORRISSEN (SPD) ist einer der Empfänger dieses internen Schreibens. Dr. Margrit HERBST kennt dieses Schreiben nicht. Sie hat, obwohl inzwischen lange krank geschrieben und am Arbeitsplatz vor allem am Schlachtband eingesetzt, bereits "Tier 24" als BSE-verdächtig ausgemacht. Weitergehende Untersuchungen werden ihr aber vom Seegeberger Amtstierarzt verweigert. Das Tier wird freigegeben und gelangt in die Nahrungskette.

HERBST wendet sich an die Medien. Die Seegeberger Zeitung titelt "Dem Rinderwahnsinn ist Dr. Herbst auf der Spur". Jetzt melden sich auch andere Kollegen von HERBST zu Wort. In der NDR-Sendung "DAS! Das Abendstudio" vom 20. Juli beanstanden vier Veterinäre, die im Schlachthof Bad Bramstedt gearbeitet haben, unhaltbare hygienische Mängel. Und dass nicht wirklich auf BSE geprüft würde


31. August 1994

Dr. Margrit HERBST tritt im Fernsehen auf: Bei "Einspruch, Meyer!" auf SAT1.


danach

Das schleswig-holsteinische MELFF leitet anlässlich der Vorwürfe, die in der NDR-Sendung laut geworden sind, eine Untersuchung ein. Und die Staatsanwaltschaft führt auf dem Schlachthof eine Razzia durch.

Die Norddeutsche Fleischzentrale (NFZ), die besagten Schlachthof in Bad Bramstedt betreibt, strengt eine Schadensersatzklage gegen Margrit HERBST an: Die Landwirtschaftsindustrie will sie mundtot machen. Bis zu 500.000 DM Ordnungsgeld werden ihr angedroht, sollte sie weiter ihren Verdacht öffentlich kommunizieren.

Anfang Oktober legt das MELFF die Ergebnisse seiner Untersuchung vor: Die unhygienischen Zustände werden bestätigt. Folge: Der Chef des Schlachthofes wird entlassen. Was die Vorwürfe in Sachen BSE-Verdacht betrifft, so beruft sich das MELFF auf die nicht eindeutigen Untersuchungsergebnisse von Prof. POHLENZ aus Hannover. Ohne zu begreifen, dass POHLENZ einen Verdacht nie einhundertprozentig ausgeschlossen, sondern immer nur konstatiert hatte, dass es "keinen eindeutigen"Befund gäbe. Das MELLF macht in seinem Bericht daraus: "eindeutig keinen"Befund.

Am 16. November geht Dr. Margrit HERBST nochmals bei stern tv vor die Kamera, setzt sich kritisch mit dem MELFF-Bericht auseinander. Gleichzeitig erscheint in der Printausgabe des stern eine Geschichte, in der auch Margrit HERBST auftaucht: "Rinder aus England? Das können wir regeln!". Stern-Reporter prüfen die Informationen nach, nach denen auf illegalem Wege britische Rinder nach Deutschland gelangen: konkurrenzlos billig - weil verboten. Die Informationen, die auch HERBST hatte, bestätigen sich. Rund 12.000 Tiere sind es aktuell, die monatlich den Weg nach Deutschland finden.

Während der Fernsehsendung von stern tv, bei der auch der Vorsitzende des Niedersächsischen Landvolkverbandes und Multifunktionär der bundesdeutschen Agrarindustrie, Wilhelm NIEMEYER, teilnimmt, vernimmt HERBST aus dessen Mund die folgende Information: Dass sie gekündigt ist.

Gekündigt wird HERBST tatsächlich: einen Monat später - am 16. Dezember 1994. 


immer noch 1994

England:

Was Dr. Margrit HERBST in Deutschland passiert, hat ein Pendant in Großbritannien. Dort trat im April die finnische Veterinärin Marja-Liisa HOVI eine Stelle in Bolsover/Chesterfield an. Sie soll in einer größeren Veterinärpraxis amtstierärztliche Untersuchungen durchführen. U.a. die Hygienestandards beim Exportschlachthof Alec Jarret Ltd. überwachen.

Als Amtstierärztin gehört u.a. zu HOVI's Zertifikate auszustellen, damit die Tiere in den Export gehen dürfen. Dazu müssen ihr u.a. die Begleitpapieren des Schlachtviehs vorliegen, in denen bestätigt wird, dass die Kühe aus Herden stammen, in denen seit zwei Jahren keine BSE aufgetreten ist. Ihr fällt auf, dass der Großteil der Rinderherden ohne die nötigen Begleitpapiere im Exportschlachthof JARRETTS Ltd. ankommen. Der überwiegende Teil der Rinder stammt aus dem Südwesten England, das als „durchseucht“ gilt: 85% der Milchkuhherden in dieser Region sind von BSE betroffen. Im Exportschlachthof werden täglich bis zu 200 Milchkühe geschlachtet. Wird das Fleisch als unbedenklich deklariert, geht es vor allem nach Frankreich; aber auch nach Italien, Irland und in die Niederlande. HOVI werden in einem Zeitraum von mehreren Wochen nur drei gültige Zertifikate von Lieferanten vorgelegt. Sie verweigert die Unterschrift, mit der das Rindfleisch für den Export freigegeben werden soll.

Folge: HOVI wird entlassen. Mehr unter Wie man in Grossbritannien mit Kritikern umgeht.

Bis zum Jahresende werden in England 140.000 Tiere getötet sein: wegen BSE


1995

In Großbritannien sterben weitere Menschen an CJK. Im Mai zum Beispiel der 19jährige Stephen CHURCHILL aus Wiltshire. Dessen Todesursache BSE bzw. die Creutzfeld-Jakob-Krankheit wird zum ersten Mal von der National CJD Surveillance Unit bestätigt. Jetzt ist es amtlich, dass BSE auch für den Menschen tödlich ausgehen kann.

Als am 13. November die BBC in einer Dokumentation aufdeckt, dass Farmer weiterhin BSE-erkrankte oder BSE-verdächtige Rinder an die Schlachthöfe verkaufen und sogar solche mit eindeutigen Symptomen von den zuständigen Inspektoren akzeptiert werden, ist im Vereinigten Königreich der Skandal perfekt: Jetzt will niemand mehr Rindfleisch essen. Der Absatz bricht rapide ein.

Gleichzeitig geht aber auch die Häufigkeit BSE-erkrankter Tiere zurück - 10 Jahre nach Ausbruch der Seuche:


1996

Der seit 1993 amtierende deutsche Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Jochen BORCHERT (CDU), bezeugt: "Deutsches Rindfleisch ist sicher." Der französische Staaspräsident Jaques CHIRAC bestreitet einen Rinderwahn. Er führt alles zurück auf einen "Medienwahn". Zeitgleich veröffentlicht Dr. Stephen DEALLER sein Buch: "Lethal Legacy: The Search for Truth". Es ist seine 'Abrechnung' mit dem BSE-Problem in Großbritannien. Dort sind inzwischen 160.000 Rinder an BSE eingegangen oder mussten getötet werden

Im Vereinigten Königreich platzt derweil die Bombe:

Der britische Gesundheitsminister Stephen DORRELL muss am 20. März vor dem House of Commons zwei Dinge eingestehen:

  • erstens, dass es eine Verbindung zwischen BSE und einer neuen Form des Creutzfeldt-Jakob-Syndroms gebe
  • zweitens, dass dieser Zusammenhang die "wahrscheinlichste" Erklärung für den Tod von bisher 10 Menschen in den letzten Monaten sei.

Die britischen Medien reagieren deutlich. Jetzt werfen sie der (konservativen) Regierung Irreführung der Öffentlichkeit mit tödlichen Folgen vor. 

Europa / EU:

Und jetzt reagiert auch die EU-Kommission: Sie verhängt ein neues totales Exportverbot für alle britischen Rindfleischprodukte, auch für britische Milch.

Kurz darauf steigen jetzt auch die ersten Medien groß in das Thema ein:
Le Monde berichtet am 16. Juni, dass Experten des EU-Gesundheitsausschusses die Kommission bereits 2 Wochen vor DORELL's Erklärung über die Risiken von BSE gewarnt und Sofortmaßnahmen gefordert habem. Die Kommission habe diese Informationen aber bewusst zurückgehalten, um "die Öffentlichkeit nicht zu beunruhigen"

Das Journal du Dimanche veröffentlicht am 30. Juni das Memo eines französischen Kommissionsbeamten aus dem Jahr 1991, die sog. Castillet-Notiz, wie sie später heißen wird: Ein Kommissionsvertreter habe bei einem Treffen des EU-Gesundheitsausschusses das gesagt:

  • "Man muss Ruhe bewahren." Um die Märkte nicht zu verunsichern
  • "Nicht mehr über BSE sprechen. Dieser Punkt darf nicht auf der Tagesordnung stehen"

Grund für die Abgeordneten des Europäischen Parlaments, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu forden. Der soll die Anschuldigungen aus der Presse klären: die zögerliche Umsetzung des Exportverbots und die mangelhafte Information der Öffentlichkeit.

Ab jetzt setzt das ein, was man eine informelle Zusammenarbeit zwischen Parlamentariern und Journalisten bezeichnen könnte. Die enthüllenden Vorlagen und Dokumente der Medienvertreter setzen die Volksvertreter in die Lage, die Authentizität der Informationen durch die Kommission überprüfen zu können. Und: Der bürokratische EU-Kommissionsapparat kann diese Dokumente nicht mehr zurückhalten


1997

Am 7. Februar legt der Parlamentarische Untersuchungsausschuss im EU-Parlament seine Ergebnisse vor: Bericht über behauptete Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht bzw. Mißstände bei der Anwendung desselben im Zusammenhang mit BSE unbeschadet sder Zuständigkeiten der nationalen und gemeinschaftlichen Gerichte. Es ist eine detaillierte Auflistung aller Versäumnisse. Sehr vieler Versäumnisse. Insbesondere eine Darstellung des Systems der Verantowrtungsvermeidung zwischen Experten, Beamten und Politikern.

Prof. Dr. Dr. h.c. Otto Christian STRAUB, der 1990 noch bemüßigt war, das BSE-Problem herunterzuspielen, sieht das inzwischen anders. Zusammen mit dem Briten John W. WILESMITH veröffentlicht er ein Buch, in dem beide allen EU-Staaten vorwerfen, BSE-Fälle verborgen zu haben. Insbesondere richtet sich die Kritik auch an Deutschland: Hier sei das Wegschauen und Verschweigen sehr ausgeprägt gewesen.

Im Dezember erhält der US-amerikanische Virologe, Biochemiker und Neurologe Stanley B. PRUSINER den Nobelpreis für Medizin. Er hatte als erster sog. Prionen nachweisen können - Erreger, die auch für BSE und die Creuzfeldt-Jakob-Krankheit verantwortlich sind.

England:

Und zwei Tage vor Weihnachten - die Torys haben gerade die Wahlen verloren - setzt das Britische Parlament mit der Mehrheit der Labour-Abgeordneten unter Tony BLAIR einen eigenen Untersuchungsausschuss unter der Leitung von Lord PHILLIPS ein. Er soll die Verantwortlichkeiten klären: beim Umgang und bei der öffentlichen Kommunikation zum Thema BSE. Der Bericht wird erst im Jahr 2000 fertig und veröffentlicht werden.
Zum Zeitpunkt der Einsetzung des parlamentarischen Untersuchungsausschusses im Vereinigten Königreich sind - nach offizieller britischer Statistik - 169.947 Rinder tot. Das jetzt anstehende Problem: Wie wird man die Massen an toten Rinderkadavern los?


1999

Europa / EU:

Jetzt hat man ein Verfahren für einen BSE-Schnelltest herausgefunden. Er wird EU-weit ab 1. Januar 2001 vorgeschrieben: durch Entnahme von Gewebeproben aus dem Gehirn. Die werden in zwei Gruppen geteilt: Die eine wird mit einem Enzym behandelt, die Kontrollgruppe nicht. Mittels einer weiteren Behandlung lässt sich dann ein BSE-Fall erkennen oder auch nicht


2000

Deutschland:

Kaum ist der Schnelltest praktikabel, gibt es jetzt auch in Deutschland - offiziell - BSE-Fälle. Die ersten werden in Schleswig-Holstein - jetzt ganz offiziell - entdeckt. Zum Beispiel auf dem Hof von Peter LORENZEN. Er muss sicherheitshalber alle seine 160 Rinder töten. Und jetzt bricht hierzulande auch eine leichte Panik aus. Selbst dieBILD-Zeitung steigt auf das Thema BSE auf der ersten Seite ein:

Denn jetzt klettern die Zahlen auch hierzulande nach oben: auf über 50 zum Jahreswechsel 2000/2001 (siehe schwarze Kurve in der Grafik):

Die Deutschen sind geschockt. Und jetzt reagiert auch die Politik in Deutschland - mit "Hauruck-Gesetzen und Zügen von Hysterie", wie das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL meint: Frankenfood aus dem Labor

Bundeskanzler Gerhard SCHRÖDER (SPD), der seit 1998 zusammen mit den GRÜNEN regiert, kündigt ein umgehendes Verbot der Tiermehlfütterung an. Es ist eine Eilmaßnahme, sie tritt bereits nach wenigen Tagen in Kraft. So bleiben die 35 deutschen Tiermehlhersteller auf über 2 Millionen Tonnen Schlachtabfällen und 360.000 Tonnen Tierkadavern sitzen. Daraus hätten sie gerne 700.000 Tonnen Tiermehl und 310.000 Tonnen Tierfett gemacht. Jetzt ist ersteinmal Schluss damit

Derweil legen die Parlamentarier in England jetzt ihre Ergebnisse aus der BSE-Inquiry vor (PILLIPS-Bericht): alles andere als eine Schmeicheleinheit für die alte Regierung unter Margaret THATCHER und dessen Nachfolger John MAJOR sowie das britische MAFF


2001

In Deutschland treten die Bundesminister für Landwirtschaft, Karl-Heinz FUNKE (SPD), sowie für Gesundheit, Andrea FISCHER (GRÜNE), von ihren Ämtern zurück, nachdem jetzt 10 BSE-Fälle bekannt geworden sind. FISCHER hatte ihrem Lanadwirtschaftskollegen Warnungen aus Brüssel vorenthalten. FUNKE wiederum vermochte nicht die Notwendigkeit einer Argrarwende einzusehen.

Unabhängig davon: Es werden weitere Fälle bekannt, nachdem der Test da ist.

Nachfolgerin für das alte Landwirtschaftsministerium bzw. Andrea FISCHER (GRÜNE), der schlechtes Krisenmanagement vorgeworfen wird, wird Renate KÜNAST (GRÜNE). Sie leitet einen Paradigmenwechesel ein: "Klasse statt Masse" - auch beim Fleisch. Und das Ministerium nennt sich fortan "Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz."

Der SPIEGEL titelt deshalb groß: Zurück zur Scholle? Neue Landwirtschaft zwischen Agrarfabrik und ÖkoHof .

Und auch die Wochenzeitung DIE ZEIT geht in Stellung, veröffentlicht ein ganzes Dossier zur unerwarteten Agrarwende und die vielen tradierten Widerstände: "Die Wahnsinns-Lobby"

Und jetzt beginnt tatsächlich auch die Wende: immer mehr "Klasse statt Masse" - die Marktanteile artgerechten und biologischen Anbaus wachsen


danach

Im Jahr 2004 wird BSE-Fall Nummer 300 gezählt. Im Jahr 2006 werden es 400 offizielle Fälle sein


2006

Das BSE-Problem scheint nicht mehr virulent und gerät aus dem öffentlichen Fokus. Dafür taucht ein neues Problem auf: Gammelfleisch. Ein vergleichsweise harmloses Phänomen: nur unappetitlich, nicht gefährlich. Dazu mehr unterwww.ansTageslicht.de/Gammelfleisch

 Vermutlich ist BSE noch nicht ausgestanden - die Forschung ist erst seit einigen Jahren angelaufen. Mehr dazu unter



(DeGa/EM/SPG)