Zwischen Gas und Geld: Nordstream 2

Wie Deutschland in die Abhängigkeit des Kreml geriet. Eine Chronologie.

Vorbemerkung:

Das obige Stage-Bild, das wir für diese Geschichte benutzen, ist eines der Nord-Stream AG, die ihren juristischen und formalen Sitz in der Steuersparoase Zug in der Schweiz hat. Unter Wer wir sind werden nur sehr wenige Informationen preisgegeben. Dass Ex-Bundeskanzler Gerhard SCHRÖDER (SPD) in diesem Unternehmen involviert ist, steht dort nicht. Man erfährt eigentlich nur, dass auch das russische Unternehmen Gazprom dahinter steckt.

Gazprom ist vielseitig aufgestellt. Über diverse Tochtergesellschaften kontrolliert diese Firma sehr viele Medienunternehmen in Russland, die sich allesamt durch eine absolut Kreml-treue Berichterstattung auszeichnen und einen massiven Einfluss auf die Unterdrückung der 'Pressefreiheit' ausüben, die es in Russland ohnehin praktisch nie wirklich gegeben hat. Bis auf wenige Ausnahmen, die inzwischen aber alle verstummt sind (mehr unter www.ansTageslicht.de/Mut).

Die nachfolgende Geschichte der Nordstream 2 können Sie direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/Nordstream.


"So wahr mir Gott helfe“!

Es ist kurz nach zwei Uhr mittags am 22. November 2005. Angela MERKEL (CDU) hat vor dem Bundestag ihren ersten Amtseid geschworen. Vorgänger Gerhard SCHRÖDER (SPD) muss im Bundeskanzleramt den Schreibtisch übergeben. Das passiert laut Protokoll drei Stunden später. „Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Wahl“, sagt er da noch einmal höflich. Im gleichen Monat noch hat der Ex-Kanzler erfahren, dass er nach dem Willen des russischen Gazprom-Konzerns bald als gut dotierter Aufsichtsratschef den Bau der Pipeline Nord Stream 1 durch die Ostsee begleiten soll, so gesteht SCHRÖDER selbst später in einem Interview. Wann dies genau war, vor oder nach der MERKEL-Wahl - dazu gibt es nur Gerüchte, Konstrukte, Spekulationen.

Zwischen Gas und Geld. Hier ist der Weg aufgezeichnet, auf dem eine der führenden Wirtschaftsnationen der Welt über Jahrzehnte in die Abhängigkeit von russischem Gas geriet, wie sie alle Warnungen davor in den Wind schieben konnte und welche Personen dabei wichtige Rollen spielten. Deutschland glaubte immer gute Gründe zu haben: Es ging um den Friedenserhalt in Europa, auch um preiswerte und verlässliche Energieversorgung. Heute ist klar: Das war zumindest blauäugig.

Das Erdgas-Röhren-Geschäft    

Die 1950er

Wenige Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs entdecken Länder in und um Europa wertvolle Schätze in ihren Böden. Die Niederlande stoßen bei Groningen auf Erdgasfelder, Mittelmeeranrainer Algerien tut das in der Wüste und die Sowjetunion im südlichen Ural. Die Kernkraft ist in diesen Jahren auf einem Siegeszug. Aber auch Erdgas scheint eine Energie der Zukunft zu werden. Nicht das Stadtgas ist gemeint, produziert aus Kohle. Die junge Bundesrepublik Deutschland, auf dem Weg ins Wirtschaftswunder, heizt ja oft noch archaisch: Mit Kohle, Holz und Öl. Nur Oldenburg in Niedersachsen setzt schon komplett auf den neuen Stoff - und wird zur ersten deutschen Stadt, die sich mit Erdgas aus den Niederlanden versorgt.

1958

Im Weltsaal des Auswärtigen Amtes in Bonn sitzen sieben Herren in dunklen Anzügen vor einem ovalen Tisch. Es sind hochrangige Vertreter der Bundesrepublik und der Sowjetunion. Eineinhalb Jahrzehnte zuvor noch haben sie sich aus den Schützengräben bekämpft. Jetzt unterschreiben sie ein ehrgeiziges  Handelsabkommen. Es sieht vor, dass sich der Warenaustausch beider Länder bis 1960 verdoppeln soll. Das lässt in den Zentralen der Ruhrindustrie Konzernmanager bei den Konzernen Hoesch, Thyssen und Mannesmann die Ohren spitzen. Sie wollen die Chance nutzen und schließen schnell erste deutsch-sowjetische Lieferverträge ab. Das Produkt: Röhren. Bis 1962 werden sie 600 000 Tonnen davon an Staatsbetriebe der nuklearen Supermacht im Osten verkaufen, die so Europa mit Gas bedienen will.

1962

Politisch herrscht Kalter Krieg. Im Jahr nach dem Mauerbau in Berlin will Kreml-Chef Nikita CHRUTSCHOW Atomraketen vor der US-Küste auf  der Insel Kuba stationieren. Die Amerikaner antworten mit einer Seeblockade. 13 Tage steht die Welt am Rand eines Atomkriegs - nachzulesen bei uns unter Die Kubakrise.

Dann gibt Chrutschow nach. Ein halbes Jahr später holen die USA ihre Atomwaffen aus der Türkei ab. Ein klassischer Hinterzimmer-Deal. Doch das Ost-West-Verhältnis bleibt gespannt. Als bekannt wird, dass aus Westdeutschland weitere 163 000 Tonnen Röhren für den Bau einer „Druschba“-Pipeline zwischen dem sowjetischen Tatarstan und Schwedt in der DDR geliefert werden sollen, zieht US-Präsident John F. KENNEDY die Reißleine. Amerika fürchtet, dass die sowjetische Militärmacht durch solche Geschäfte gestärkt werden könnte. Washington setzt in der Nato ein Lieferembargo durch. Westdeutschland beugt sich. Erstmals hat sich ein Konflikt im westlichen Lager abgezeichnet, der im Lauf der nächsten sechs Jahrzehnte immer wieder aufflackern wird.

1963

Bundeskanzler Konrad ADENAUER (CDU), der die amerikanischen Embargopolitik bisher, murrend zwar, umgesetzt hat, wird in hohem Alter als Regierungschef durch seinen Parteifreund Ludwig ERHARD abgelöst. Erhard, der zehn Jahre zuvor die Gründung eines Ost-Ausschusses der deutschen Wirtschaft vorangetrieben hatte, hält wenig von Embargo-Eingriffen in die Vertragsfreiheit der Unternehmen. Der Ost-Ausschuss, den von Otto Wolff von AMERONGEN bis Klaus MANGOLD große Namen der Wirtschaft führen werden, gewinnt Einfluss auf politische Entscheidungen und dient bis ins Jahr 2022 als diskrete Lobby- und Kontaktstelle für wertschöpfende deutsch-russischen Gespräche.

Auch die oppositionellen Sozialdemokraten stellen außenpolitische Weichen. Auf einer Tagung der politischen Akademie in Tutzing am 15. Juli redet der Sprecher des Berliner Senats, Egon BAHR, über eine künftige Friedenspolitik. Als Kernelement nennt er den „Wandel durch Annäherung“. BAHR, damals schon einer der engsten Mitarbeiter des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Willy BRANDT (SPD), sagt später, die Kursbestimmung habe er in Diskussionen mit BRANDT entwickelt. Der Grundsatz wird Vorgabe für Regierungen und Kanzler der Zukunft und Basis ihrer Außenpolitik. „Wer Handel miteinander treibt, schießt nicht aufeinander“, wird später Helmut SCHMIDT bestätigen. Unionspolitiker wie Helmut KOHL und Angela MERKEL sehen das genau so und richten sich danach.

1966-1968

Den bayerischen Wirtschaftsminister Otto SCHEDL (CSU) ärgert, dass Amerika die deutsche Exportwirtschaft mit vermeintlich sicherheitspolitisch begründeten, aber vielleicht doch eigennützigen Embargobeschlüssen ausbremst. Vor allem aber sucht er Quellen, um seinen Freistaat, den er industrialisieren will, mit preiswerten Gas zu versorgen. Als der Christsoziale erfährt, dass das benachbarte Österreich an einem für Wien sehr günstigen Gas-Vertrag mit Moskau arbeitet, nimmt er als erster Deutscher in der östereichischen Hauptstadt Gespräche mit der sowjetischen Seite auf. Zeitgleich korrigieren die Amerikaner, die gerade tief in den Vietnamkrieg verstrickt werden, ihre Haltung. Sie wollen das politische Klima zwischen Ost und West in Europa beruhigen. Das von der Nato 1962 verhängte Embargo wird, was die Röhren betrifft, aufgehoben.

Im Herbst 1966 kommt es in Bonn zu einem Koalitionswechsel. Die  Sozialdemokraten werden erstmals Partner in einem Bündnis mit der Union, Willy BRANDT wird Außenminister im Kabinett von CDU-Kanzler Kurt Georg KIESINGER. BRANDT sieht in der sich verändernden Lage eine Chance. Sowjetisches Gas, das nun auch in den Weiten Sibiriens entdeckt wurde, soll nach Westdeutschland fließen. Aus ökonomischen Gründen natürlich, aber auch aus politischen und um die Ost-West-Spannungen mit der deutschen Frage als ein zentrales Problem zu entschärfen. Das ist BRANDTs Langfristziel.

SPD-Wirtschaftsstaatssekretär Klaus von DOHNANYI fliegt 1968 nach Moskau, um zu verhandeln. Zum Ärger des Bayern SCHEDL sorgen die mitregierenden Sozialdemokraten in Bonn auch dafür, dass der zentrale Verhandlungspartner des Kreml auf Wirtschaftsseite aus dem sozialdemokratisch geführten Nordrhein-Westfalen kommt: Die Essener Ruhrgas AG.

1969

"Auf kleiner Flamme“ heißt der Bericht, der im August im SPIEGEL erscheint. Danach steht Ruhrgas-Chef Herbert SCHELBERGER vor einem Verhandlungsabschluss. Das Nachrichtenmagazin spricht vom „größten und bedeutsamsten Ost-West-Geschäft der Nachkriegszeit“.

Im Spätherbst tritt eine bundespolitischen Zeitenwende ein. In der Bundestags-Wahlnacht im November führen SPD und FDP plötzlich eine knappe Mehrheit im neuen Parlament an. BRANDT (SPD) und FDP-Chef Walter SCHEEL einigen sich schnell auf eine Koalition. BRANDT wird Kanzler. Nur Wochen danach legt Ruhrgas-Chef SCHELBERGER den fertigen Vertragsentwurf vor. Der Inhalt: Westdeutsche Röhren gegen sowjetisches Erdgas, parallel dazu ein finanzierender Kreditvertrag zwischen der sowjetischen Außenhandelsbank und 17 westdeutschen Instituten unter Führung der Deutschen Bank in Höhe von 1,2 Milliarden Mark, um den Sowjets Geld fürs Röhrenlegen zu beschaffen. Der Zinssatz liegt bei sechs Prozent und ist damit extrem günstig. Die Bundesregierung schützt 50 Prozent der zunächst geheim gehaltenen Vertragssumme über eine Hermes-Kreditversicherung.

1970

Im Essener Hotel Kaiserhof kommt es am 1. Februar zur feierlichen Vertragsunterzeichnung. Danach liefert der Mannesmann-Konzern aus seinem Werk Duisburg-Mündelheim, an dem auch der Thyssenkonzern beteiligt ist, bis 1972 1,2 Millionen Tonnen Großrohre für eine 2000 Kilometer lange Leitung. Auch die Unternehmen Hoesch und Salzgitter machen mit.

Die Sowjets verpflichten sich im Gegenzug, innerhalb von 20 Jahren 52 Milliarden Kubik Erdgas im Wert von 2,5 Milliarden Mark nach Westdeutschland zu pumpen. Schnell wird klar: Das ist der von Egon BAHR 1963 propagierte Wandel durch Handel, der wirtschaftliche Vorgriff auf die Ostpolitik der neuen Bundesregierung.

Damit wird ein bayerischer Standort zum westlichen Endpunkt der Leitung, bevor das Gas ins nationale Netz gepumpt wird. Es ist das Trostpflaster für den Münchner Minister SCHEDL.

Das Erdgas-Röhren-Geschäft, wie es jetzt offiziell heißt, stößt in der westlichen Welt nicht überall auf  Zustimmung. Der Bonner Wirtschaftsminister reist wenige Wochen nach Vertragsunterzeichnung zu einem Routinebesuch nach Paris zu seinem Amtskollegen Valery GISCARD d'ESTAING und wird gerüffelt. Giscard stört sich am niedrigen Zinssatz im deutsch-sowjetischen Vertrag: „Das macht uns die Preise kaputt“. SCHILLER: „Das ist ein Ausnahmefall“. Auch die US-Regierung unter Präsident Richard NIXON warnt Bonn. Sie fürchtet eine Abhängigkeit ihres europäischen Verbündeten von den Sowjets und prüft neue Sanktionen.

Am 6. Juli des Jahres ist das erste Mannesmann-Rohr fertig. In Mülheim an der Ruhr tauft man es passend „Ludmilla“. Ein Lkw transportiert es Richtung Osten, geschmückt mit Tannenzweigen.

1970

Der Anteil russischen Gases an der Gasversorgung in der Bundesrepublik Deutschland beträgt 0,0 Prozent. Er wird von jetzt an schnell steigen.

1972 - 1974

Öl als Waffe – Fahrverbote in Deutschland

Das neue Jahrzehnt steht unter unterschiedlichen Vorzeichen: Im Ost-West-Verhältnis gelingt zunächst eine politische Entspannung. Als brisanter Konfliktherd erweist sich dagegen der Nahe Osten. Seit dem Ende des Sechstage-Kriegs zwischen Israel und den arabischen Staaten im Juni 1967 ist der Frieden instabil. Terroranschläge und Flugzeugentführungen folgen in kurzen Abständen.

Bei den Olympischen Spiele in München nimmt der „Schwarze September“ 1972 Israels Olympiamannschaft als Geiseln. 17 Menschen sterben bei einer missglückten Befreiungsaktion. Im Herbst 1973 bricht am höchsten israelischen Feiertag der Jom Kippur-Krieg aus, Ägypten und Syrien kämpfen gegen Israel. Israel siegt, wenn auch mühsam. Aber die arabische Welt wird bald ihre Energie, das Öl, als Waffe einsetzen - mit dramatischen Folgen für die Weltwirtschaft.

Die Bundesrepublik Deutschland bezieht am 1. Oktober 1973 das erste Gas aus der Sowjetunion. Fast zeitgleich drosselt die Vereinigung der Ölförderländer, die OPEC, in der arabische Staaten das Sagen haben, die Ölförderung an den Westen. So will die Anti-Israel-Koalition die westliche Unterstützung für den jüdischen Staat im Jom Kippur-Krieg bestrafen.

Binnen Jahresfrist verdreifacht sich der Ölpreis an den Börsen, und Europa wird von einer bis dahin unvorstellbaren Wirtschaftskrise erfasst. Die Autofahrer befällt Wut beim Tanken. Und die Inflation steigt mit der Folge zweistelliger Lohnforderungen der Gewerkschaften und Streiks. In der Bundesrepublik versucht die sozialliberale Koalition mit Fahrverbot für Privatautos an vier Sonntagen und einem Tempolimit bei 100 km/h auf Autobahnen gegenzusteuern.

Das Gas aus Sibirien fließt verabredungsgemäß immer stärker in die Bundesrepublik, so dass die Sowjetunion selbst Lieferprobleme bekommt. Der Kreml löst sie, in dem er der eigenen Bevölkerung das Gas abdreht.

Im Winter 73/74 verschärft sich die Versorgungslage in Städten wie Leningrad und in der Ukraine massiv. Kochen und Heizen wird zum Roulette. Die Deutschen dagegen danken den Sowjets das unfreiwillige Opfer. Sie sehen in der Sowjetunion einen überraschend verlässlichen Partner, jedenfalls vertrauenswürdiger als die Ölscheichs. Dieser Glaube wird das nächste halbe Jahrhundert halten.

Erste Warnungen

1975 - 1983

Willy BRANDT stürzt 1974 über den DDR-Spion Günter GUILLAUME und über Gegner in der eigenen Partei. Sein Parteifreund Helmut SCHMIDTwird sein Nachfolger. SCHMIDT setzt die Handel und Wandel-Politik des Friedensnobelpreisträgers fort. Die Jahre seiner Amtszeit stehen politisch im Zeichen von Abrüstungsverhandlungen zwischen Ost und West. Gleichzeitig werden neue wirtschaftliche Lebensadern angelegt. Einer der großen Treiber dieser Entwicklung auf der Seite der Wirtschaft ist der Unternehmer Otto Wolff von AMERONGEN, der Präsident des Industrie- und Handelstages und „heimliche Osthandelsminister“, wie er genannt wird.

Drei weitere kleinere Pipelines entstehen in deutsch-sowjetischer Kooperation. Mitte der 1970er Jahre kommt es auf Vorschlag der Sowjets zu Gesprächen über eine Gasleitung, die vom nordsibirischen Jamal-Gebiet über Weißrussland (Belarus) und Polen nach Westeuropa führen soll, rund 5.000 Kilometer.

Als Abrüstungsgespräche in Sackgassen geraten und die Sowjets nach Afghanistan einmarschieren, feuert das erneut Auseinandersetzungen zwischen Bonn und Washington über die Handelspolitik der westdeutschen Regierung an. Wieder sind Sanktionen im Gespräch. Wolff von AMERONGEN vermittelt.

Ungeachtet dessen unterschreiben Die Ruhrgas AG, die längst zu den führenden deutschen Konzernen („Deutschland AG“) gehört, und Soyuzgazexport 1981 Verträge über das Jamal-Projekt. Bis 2008 sollen zwölf Milliarden Kubikmeter nach Westen gepumpt werden. Prompt warnen 1982 amerikanische Stellen wieder, diese Geschäfte würden „dem Feind helfen“. Dem zum Trotz stellen 1983 Ruhrgas, das DDR-Kombinat „Verbundnetz Energie“ und Soyuzgasexport ein großes Gas-Lieferungspaket für den Westen des geteilten Berlin sicher.

1980

10 Jahre, nachdem die erste Mannesmann-Röhre in die Sowjetunion verfrachtet wurde, ist der Anteil russischen Gases an der Gasversorgung in der Bundesrepublik Deutschland auf 21,9 Prozent angestiegen. Fast ein Viertel des gesamten Verbrauchs.

1983

Fast wieder ein (Atom)Krieg

Im Herbst lebt der Kalte Krieg auf. Es kommt durch fast zeitgleiche Ereignisse zu einer Situation, die in der Rückblende gefährlicher eingeschätzt werden wird als die Kuba-Krise von 1962:

  • Der Streit um die Aufstellung atomater Mittelstreckenraketen in Europa erreicht einen Höhepunkt. Der sowjetische Oberst Stanislaw PETROW erkennt in einer unterirdischen Kommandozentrale bei Moskau einen Fehlalarm der sowjetischen Warnsysteme und verhindert einen geplanten russischen Vernichtungsschlag gegen US-Großstädte.
  •  Eine Boeing 747-Passagierjet der Korean Airlines (Flug 007) auf dem Weg von Paris nach Seoul, die die sog. Polarroute nimmt, wird über der sowjetischen Halbinsel Sachalin abgeschossen, als sie sich dort offenbar verirrt hat: alle 269 Menschen an Bord sterben. Der US-amerikanische Präsident Ronald REAGAN lässt im UNO-Sicherheitsrat eine Tonbandaufnahme abspielen: Die Gespräche der sowjetischen Abfangjäger mit der Kommandozentrale in Moskau und deren Abschussbefehl. Es ist das erste Mal, dass die Welt von den technischen Möglichkeiten einer Institution Kenntnis erhält, die erst sehr viel später wirklich bekannt wird: die US-amerikanische NSA.
  • Der Westen startet in Europa sein Militärmanöver „Able Archer“.

Der schwer kranke Kreml-Führer Jurii ANDROPOW sieht darin eine Absicht des Westens, die Sowjetunion anzugreifen. Er will mit einem Präventivschlag zuvorkommen und befiehlt den Fall „Ryan“, den Einsatz von Atomwaffen. Durch geheime diplomatische Kontakte, so genannte „Backchannels“, und einen in London tätigen Doppelagenten ein Atomkrieg noch eben verhindert werden. Ähnlich wie 21 Jahre zuvor bei der Kuba-Krise.

1984

ANDROPOW stirbt im Februar 1984. Die weltpolitische Lage beruhigt sich. In Sachen Jamal-Projekt geben die Amerikaner nach. Die Pipeline wird gebaut, wie es Helmut SCHMIDT wollte. Aber SCHMIDR ist da schon seit mehr als einem Jahr durch den Kanzler Helmut KOHL und seine CDU/FDP-Regierung abgelöst worden. Durch Liefer- und Planungsprobleme gebremst wird die neue Gasleitung erst zehn Jahre später in Betrieb gehen.

1985 - 1990

Im Osten Europas finden tiefgreifende Veränderungen statt. Der Reformer Michail GORBATSCHOW wird 1985 sowjetischer Staats- und Parteischef.

Glasnost und Perestroika, also Offenheit und Umgestaltung, sind seine Ziele. GORBATSCHOW sieht, dass die Sowjetunion und viele Staaten des Warschauer Paktes vor der Pleite stehen. Auch die Einnahmen aus dem Gasgeschäft helfen nur noch bedingt.

Nachdem in Polen die Gewerkschaft Solidarnosc mächtig werden konnte und in Ungarn liberalere KP-Politiker die Macht übernommen haben, fällt am 9. November 1989 die Mauer in Berlin.

In Schritten demokratisiert sich die DDR. Am 3. Oktober 1990 wird Deutschland wiedervereinigt. KOHL gilt als „Kanzler der Einheit“ und kann weitere acht Jahre regieren.

Jetzt fließen zweistellige Milliardensummen Unterstützung aus Bonn in die Kasse des Kreml und, wie sich später herausstellt, unkontrolliert in die Taschen von Oligarchen und Militärs.

1992 bricht die Sowjetunion auseinander. Die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen werden selbstständig. Auch die Ukraine erkämpft die Selbständigkeit und lässt sich - bei Verzicht auf eigene Atomwaffen - ihre Unabhängigkeit per Vertrag mit Russland bestätigen. GORBASCHOW stürzt über die epochalen Veränderungen. Boris JELZIN übernimmt die Führung des neuen russischen Staates.

In seinem Schatten gelingt es alten Geheimdienstlern der „Petersburger Gruppe“ unter Führung von Wladimir PUTIN, neue und teilweise bis heute undurchsichtige Macht- und Finanzstrukturen zu schaffen.

Noch unter GORBATSCHOW ist im Zug der Perestroika aus dem sowjetischen Gasunternehmen Soyuzgazexport der russische Gazprom-Konzern und damit der größte Gaskonzern der Welt geworden. Sitz ist St. Petersburg. Eine halbe Million Beschäftigte arbeiten für das Unternehmen. 1992 wird daraus eine Aktiengesellschaft. Der russische Staat hält 50 Prozent plus eine Stimme und hat damit das Sagen.

1990

Der deutsche Tochterunternehmen "BASF Wintershall" trifft mit Gazprom eine Vereinbarung über die Vermarktung russischen Erdgases im wiedervereinigten Deutschland. 1993 gründen beide Unternehnmen zusammen das Joint Venture Wingas.

Der Anteil russischen Gases an der Gasversorgung in der Bundesrepublik Deutschland steigt auf jetzt 35,7 Prozent.

Beginn einer Männerfreundschaft  

1995

Gazprom entwickelt die Idee einer ganz anderen Gaspipeline. Sie soll die unabhängige Ukraine umgehen und zunächst über Finnland, Schweden und Dänemark westwärts geführt werden.

1997 wird das finnische Unternehnmen Fortum in eine Machbarkeitsanalyse der finnisch-russischen North Transgas OY  einbezogen, wobei eine viel radikalere Lösung entsteht: Eine zehn Jahre zuvor erstmals angedachte  Unterwasser-Pipeline etwa aus der Höhe von St. Petersburg durch die Ostsee direkt nach Deutschland.

Gas gewinnt durch eine aufkommende Debatte über die wissenschaftlich festgestellte Erderwärmung an Bedeutung. Im Kyoto-Protokoll einigen sich die Industriestaaten auf die Absenkung schädlicher Treibhausgase bis 2020. Erdgas gilt für den Klimaschutz als weniger schädlich als die CO 2-freisetzende Kohle.

1998

Erstmals kommt es zu einer Beteiligung eines deutschen Gasunternehmens an Gazprom. Die Essener Ruhrgas steigt mit einem Anteil von 3,5 Prozent ein. 2012 berichtet das Handelsblatt von einem Brief, wonach der Handel über Andrej BYKOW, einem Ex-Diplomaten, PUTIN-Vertrauten und hoch umstrittenen Lobbyisten gelaufen sein soll. Ruhrgas weist eine angebliche Hilfestellung BYKOW's zurück.

Deutschland erhält eine neue Regierung. KOHL muss nach 16 Jahren an der Macht das Kanzleramt räumen. Im November treffen sich der gerade zum Bundeskanzler einer rot-grünen Koalition gewählte Gerhard SCHRÖDER und der ebenso frisch angetretene Ministerpräsident Russlands Wladimir PUTIN. In Berichten wird von einer eher distanzierten Begegnung gesprochen. Eine massive Rubel-Krise und große Unsicherheiten darüber, wer das Land in Zukunft führen wird, bilden offenbar den Hintergrund für die Vorsicht SCHRÖDER's. Die neue Bundesregierung gibt sich, was finanzielle Hilfen betrifft, zurückhaltend.

1999

In einem St. Petersburger Magazin erscheint ein Text PUTINs, in dem der Autor, der schon zu Energiefragen promoviert hat, die Wichtigkeit der russischen Rohstoffwirtschaft - Öl und Gas - hervorhebt. Sie sei die wichtigste Grundlage, Russland in naher Zukunft wieder zur wirtschaftlichen Großmacht zu machen und auch „für die Verteidigungsmacht des Landes“.

Es ist PUTIN's Kursbestimmung.

Die ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten Polen, Tschechien und Ungarn treten dem westlichen Verteidigungsbündnis NATO bei. Russische Vorhaltungen, in den Gesprächen über die deutsche Einheit habe es eine mündliche Zusage eines Verzicht auf eine Nato-Osterweiterung gegeben, weist der Westen zurück. Auch der frühere Staatschef Michail GORBATSCHOW, der die Verhandlungen führte, kann so eine Zusage  nicht bestätigen und bezeichnet sie als „Mythos“.

2004 folgen den drei Ländern noch Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien - alles ehemalige Satellitenstaaten der inzwischen untergegangenen Sowjetunion. Die NATO-Osterweiterung wird zu einem zunächst noch unterschwelligen, aber bald schon heftigeren Streitpunkt zwischen Moskau und dem Westen.  

2000

Wladimir PUTIN wird als Nachfolger von Boris JELZIN Präsident in Russland. Wenige Tage nach Amtsantritt kommt es in Abständen von jeweils wenigen Tagen zu terroristischen Vorfällen: Zuerst explodiert in einem Kaufhaus nahe der Kremlmauer eine Bombe. Ein Kunde wird getötet. Fünf Tage später finden 64 Menschen, russische Militärangehörige und ihre Familien, den Tod, als ein Wohnhaus nahe der tschetschenischen Grenze bei einem Attentat zerstört wird. 100 Menschen kommen ums Leben, als nach weiteren fünf Tagen in einer Moskauer Vorstadt ein Sprengsatz zündet. 700 Kinder und Erwachsene werden verletzt. Wieder fünf Tage später und wieder die gleiche Vorstadt: 124 Tote in einem Wohnkomplex.

Die Regierung spricht von tschetschenischen Terroristen, die die Anschläge verübt haben. Viele Bürgerrechtler sehen das anders und vermuten dahinter Geheimdienstkreise rund um PUTIN, der sich so mehr Machtinstrumente sichern wolle. Für PUTIN jedoch ist dies der Anlass, den zweiten Krieg in Tschetschenien zu beginnen. Er wird brutaler als der erste von 1994, bei dem JELZIN die föderale Ordnung im neuen Russland wieder herstellen wollte (mehr unter www.ansTageslicht.de/Tschetschenien).

PUTIN und SCHRÖDER treffen sich bald nach Amtsantritt - wohl in einer Sauna. SCHRÖDER erzählt später über den Schwitz-Moment, in dem ein Feuer ausbrach und die enge „Männerfreundschaft“  begann. „Wladimir sagte, es beginnt zu brennen. Wir müssen raus. Ich habe gesagt, ich will erst mein Bier austrinken“. PUTIN bestätigt die Erinnerung: „Er hat erst sein Bier ausgetrunken. Ich auch“.

Der russische Präsident lädt den deutschen Kanzler und seine Familie zum orthodoxen Weihnachtsfest nach Russland ein. Anfang 2001 fahren die SCHRÖDERs und die PUTINs gemeinsam Schlitten. In den nächsten sieben Jahren der Amtszeit des Kanzlers werden sich die beiden Politiker etwa 40 mal sehen - weit öfter, als es andere Politiker tun. 

2001

Wladimir PUTIN ernennt seinen engen Vertrauten Alexej MILLER zum Chef von Gazprom. Er reist nach Berlin und kann am 25. September vor dem Plenum des Deutschen Bundestags sprechen. Er beherrscht die deutsche Sprache, ein Überbleibsel der Jahre, als er in der DDR vor 1989 KGB-Agent in Dresden war. Er lobt das Gastgeber-Land und dessen „technisches Denkvermögen und das kaufmännische Geschick“. Das Herz der Russen sei offen „für eine vollwertige Zusammenarbeit und Partnerschaft“. Die Abgeordneten begeistert er, als er sagt: „Der Geist der Demokratie und der Freiheit hat die überwiegende Mehrheit der russischen Bürger ergriffen“, Sein Volk habe „gute Lehren aus dem Kalten Krieg und aus der verderblichen Okkupationsideologie gezogen“ und sei für die Einigung Europas. „Der Kalte Krieg ist vorbei“. Der Bundestag spendet stehend Ovationen.

2002

In Deutschland steht eine wirtschaftliche Mammut-Hochzeit bevor. Der größte bundesdeutsche Stromkonzern E.ON will mit dem größten deutschen Gaskonzern Ruhrgas fusionieren. Das Bundeskartellamt muss darüber entscheiden, befürchtet Monopol-Situationen und sagt Nein.

Die Bundesregierung bestehend aus roten und grünen Ministern setzt sich über alle Einwände hinweg, hebt die Kartellamtsentscheidung durch eine Ministerentscheidung auf und genehmigt den Zusammenschluss. Die beteiligten Politiker, Wirtschaftsminister Werner MÜLLER (parteilos) und sein Staatssekretär Alfred TACKE, der für MÜLLER die Genehmigung unterschrieben hat, wechseln bald in den Verbund der Unternehmen, die von dem Unternehmensumbau betroffen sind. Das löst Kritik („Gschmäckle“) aus. TACKE macht klar, dass es das Ziel der Genehmigung  ist, „nicht nur Gas zu importieren, sondern sich auch verstärkt zum Beispiel bei der Gazprom zu beteiligen“.

Der Vorsitzende der Monopolkommission Jürgen KÜHLING sieht 2022 die Vorgänge von 2002 als die entscheidende falsche Weichenstellung: „Was wir gebaut haben, ist ein Monopolist. Dieser Monopolist hat sich dann in der Folge auch noch von russischen Unternehmen abhängig gemacht“.

Hintergrund:

Unter der schwarz-gelben KOHL-Regierung, die nach der Wende mit dem Ausverkauf des ‚politischen Tafelsilbers‘ begonnen hatte, wurde eine wesentliche Einrichtung der relevanten Energie-Infrastruktur privatisiert: der zum Teil immer noch in Staatsbesitz befindliche VEBA-Konzern, zu dem Unternehmen wie ARAL, Stinnes, Raab-Karcher, PreussenElektra u.a.m. gehörten. Der wurde erst zusammen mit der ebenfalls staatseigenen VIAG fusioniert (Beteiligungen an den Energieunternehmen Bayernwerk, BEWAG in Berlin u.a.), die dann im Jahr der Jahrtausendwende unter dem neuen Namen "e.on" auf dem Börsenparkett auftauchte. Damit hatte die Politik,

  • erst schwarz-gelb,
  • dann rot-grün,

wesentliche Einflussmöglichkeiten aus der Hand gegeben und die Energieversorgung dividendenhungrigen Großkonzernen und deren Aktionären überlassen.

Die rot-grüne Koalition unter Kanzler Gerhard SCHRÖDER gewinnt erneut die Bundestagswahl.

2003

Die russische Gazprom übernimmt das russisch-finnische Planungskonsortium für eine Pipeline durch die Ostsee. Das Projekt wird in Nordeuropäische Gaspipeline (NEGP) umbenannt. Jahre später wird die Pipeline "Nord-Stream" heißen.

2004

Russlands lange Liste von Militäroperationen, die es seit 1991 in der Kaukasusregion und in anderen ehemaligen Volksrepubliken der Sowjetunion wie  Ossetien, Transnistrien, Tadschikistan und Tschetschenien führte und die unter PUTIN noch verschärft werden, sorgt weltweit für Misstrauen. Politiker und Wissenschaftler aus der ganzen Welt zeigen sich besorgt. Prominente wie der spätere US-Präsident Joe BIDEN, die ehemalige US-Außenministerin Madelaine ALBRIGHT, Carl BILDT als Ex-Regierungschef von Schweden, Tschechiens früherer Präsident Vaclav HAVEL und aus Deutschland die Grünen Cem ÖZDEMIR und Reinhard BÜTIKOFER mahnen in einem offenen Brief die Regierungen des Westens, einen härteren Kurs gegenüber Moskau zu fahren. „In der Vergangenheit hat der Westen allzu oft geschwiegen“, schreiben sie, „die Außenpolitik Präsident PUTINs ist mehr und mehr von einer drohenden Haltung gegenüber Russlands Nachbarn und gegenüber der Energiesicherheit Europas gekennzeichnet... und von der Weigerung, die international vertraglichen Verpflichtungen Russlands einzuhalten“.

In der Präsidentschaftswahl der Ukraine gewinnt der russlandfreundliche Wiktor JANUKOWITSCH. Doch Vorwürfe einer Wahlmanipulation werden laut. Straßen füllen sich mit Demonstranten. Es kommt zur „Orangenen Revolution“, genannt nach der Farbe, unter der der prowestliche Kandidat Viktor JUSCHTSCHENKO seinen Wahlkampf führte. Nach Ausgang der vom Verfassungsgericht angeordneten Wiederholungswahl steht fest, dass JUSCHTSCHENKO in den nächsten Jahren das Land regieren wird.

 Der Kanzler trotzt allen Einwänden und Ängsten. SCHRÖDER nennt PUTIN in einer Talkshow einen „lupenreinen Demokraten“. Und auch die persönlichen Beziehungen der Familie des Bundeskanzlers nach Russland werden enger. Im August adoptieren Gerhard SCHRÖDER und seine Ehefrau Doris SCHRÖDER-Köpf die dreijährige Viktoria aus einem Kinderheim in St. Petersburg. SCHRÖDER habe den Adoptionswunsch privat seinem Freund PUTIN vorgetragen, so ein Kreml-Sprecher laut Hamburger Abendblatt: „Die Adoption ist in völliger Übereinstimmung mit der russischen Gesetzgebung und auf Grund eines Beschlusses eines russischen Gerichts erfolgt“.

Das Kinderhilfswerk „Terre des Hommes“ will das wegen des 57 Jahre hohen Altersunterschieds des 60-jährigen SCHRÖDER zu seiner Adoptivtochter öffentlich kritisieren. Das Landgericht Hamburg verbietet die Kritik über eine einstweilige Verfügung. 2006 folgt eines zweite Adoption der Familie SCHRÖDER aus Russland, die von Gregor, der im gleichen Jahr geboren wurde.

2005

Möglicherweise als Reaktion auf den Wahlausgang zugunsten des prowestlichen Kandidaten JUSCHTSCHENKO kündigt Russland im März den Gasvertrag mit der Ukraine, durch die auch das Gas für Westeuropa transportiert wird. Moskau verlangt eine Zahlung „marktorientierter“ Preise, faktisch eine drastische Erhöhung. Über ein Jahr ziehen sich Verhandlungen hin und bleiben ergebnislos. Zum 1. Januar 2005, mitten im Winter, stellt Russland die Gaslieferungen an Kiew ein. Als das zu Lieferausfällen für mehrere europäische Staaten führt, nimmt Moskau 2006 die Maßnahme zurück.

Am 11. April treffen sich Gazprom-Vertreter in Hannover mit westdeutschen Gasunternehmen. Gerhard SCHRÖDER und Wladimir PUTIN sind dabei. Unterzeichnet wird eine Grundsatzvereinbarung über die Beteiligung von Wintershall/BASF am Bau der neuen nordeuropäischen Gaspipeline, die seit 1997 in der Planung war. Sie wird über 1224 Kilometer direkt unter der Ostsee in den ausschließlichen Wirtschaftszonen von Schweden, Finnland und Dänemark verlaufen und später "Nord Stream" heißen.

Die Endpunkte sind Wyborg (Russland) und Lubmin bei Greifswald (Deutschland). Länder wie Polen und die baltischen Staaten, aber auch die Ukraine fühlen sich übergangen und machen massiv Front gegen das Vorhaben. Sie fürchten nicht nur um die Durchleitungsgebühren, die sie bisher erhalten, sondern auch, dass sie bald unter Preisdiktaten leiden und je nach Moskaus Laune von der Gasversorgung abgekoppelt werden könnten - wie gerade in der Ukraine geschehen. Aber der Plan hat zunächst die Rückendeckung der EU als „Transeuropäisches Netz“.

Als  Eckdaten werden bekannt: Jährlich könnten etwa 55 Milliarden Kubikmeter Gas befördert werden. Die Kosten des Baus liegen bei 7,4 Milliarden Euro. 30 Prozent werden aus Eigenmitteln der beteiligten Unternehmen Gazprom (51 Prozent Anteil) und den deutschen Konzernen E.ON und Wintershall/BASF (je fast 25 Prozent Anteil) finanziert und 70 Prozent über Kredite. Die Anteile der deutschen Unternehmen werden später zugunsten von  französischen und niederländischen reduziert, die je neun Prozent Anteil erhalten. Sitz der Gesellschaft wird Zug in der Schweiz sein, wo ausländische Konzerne so gut wie keine Steuern bezahlen (müssen).

Zweites Halbjahr 2005

In Deutschland neigt sich die Ära des Kanzlers Gerhard SCHRÖDER dem Ende zu. Eine große Arbeitsmarktreform (Hartz IV) führt zu Demonstrationen im Land und zu Unruhe auch in seiner SPD. Die Partei rutscht in Umfragen ab. Als im Mai die Landtagswahlen in NRW verloren gehen und das bevölkerungsstärkste Bundesland an die CDU fällt, kündigt SCHRÖDER noch am Abend eine um ein Jahr vorgezogene Bundestagswahl im Herbst an. Im Spätsommer besagen die Umfragen, dass die SPD auch die Bundestagswahl verlieren wird, und das Magazin „Focus“ meldet zeitnah unter Berufung auf russische Kreise, PUTIN wolle für diesen Fall Gerhard SCHRÖDER beruflich auffangen und in russischen Gaskonzernen unterbringen. Später bestätigt die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung", dass die Entscheidung dazu vor der Wahl gefallen sein soll.    

Im Frühjahr war festgelegt worden, dass der endgültige Vertrag über den Bau der neuen Ostsee-Pipeline im Oktober unterzeichnet werden soll. Doch die Regierungen in Berlin und Moskau ziehen die Unterzeichnung auf einen Termin vor der Bundestagswahl vor, wohl um die Realisierung vom Wahlausgang unabhängig zu machen. So treffen sich am 8. September, zwei Wochen vor der Wahl, PUTIN und SCHRÖDER in Berlin im Hotel Intercontinental und unterschreiben. Es ist der Start für das Projekt Nord Stream. Man feiert. „Ein historischer Tag“, stellt SCHRÖDER fest. „Ich nehme für mich in Anspruch, dass ich in langen Gesprächen mit dem Herrn Präsidenten für ein Umfeld gesorgt habe, das diese Form der Zusammenarbeit ermöglicht hat“. PUTIN's Antwort: Er werde, ungeachtet der Position SCHRÖDERs, mit „dem Herrn Bundeskanzler weiter sehr gute Beziehungen unterhalten“.  Seine gute Stimmung gibt SCHRÖDER auf Wahlkundgebungen weiter: „Heute sind Deutsche und Russen einander so eng verbunden wie nie zuvor“.

Am 22. September verlieren Gerhard SCHRÖDER und seine rot-grüne Regierungskoalition nach sieben Jahren Amtszeit bei der Bundestagswahl ihre Parlamentsmehrheit. CDU/CSU haben einen sehr knappen Vorsprung vor den Sozialdemokraten und unter ihrer Spitzenkandidatin Angela MERKEL die Möglichkeit einer Koalitionsbildung. Wochenlange Verhandlungen beginnen, an deren Ende die Bildung einer großen Koalition mit der CDU-Kanzlerin MERKEL stehen. SCHRÖDER wird die politische Bühne verlassen.

Was in den Tagen nach der Wahl und während den folgenden Wochen der Koalitionsverhandlungen hinter den Berliner Kulissen vor sich geht, bleibt in Teilen über Monate und Jahre oder auch bis heute unklar.

  • Am 10. Oktober berichten deutsche, britische und russische Medien, Gerhard SCHRÖDER sei eine Position bei Gazprom angeboten worden. Die SPD weist das als „übles Gerücht“ zurück“.
  • Am 28. Oktober unterschreibt Bundeswirtschaftsminister Wolfgang CLEMENT (SPD) die Vorlage für eine Bürgschaft über eine Milliarde Euro. Mit ihr soll sichergestellt werden, dass die Nord Stream-Gesellschaft eine auf russischem Boden zu bauende Zubringerpipeleine zum ausgehandelten Unterwasser-Projekt finanziell schultern kann.
  • Der Vorgang bleibt zunächst geheim und wird erst fünf Monate später durch ein Schreiben des Bundesfinanzministeriums an den Bundestag bekannt, um das Parlament über die eingegangene finanzielle Verpflichtung zu informieren. Es handelt sich um die höchste Bürgschaft, die je von einer Bundesregierung abgesichert wurde. Wusste SCHRÖDER davon? „In meiner Regierungszeit hatte ich keinerlei Kenntnis von einem solchen Vorschlag und war deshalb auch nicht damit befasst“, versicherte er 2006. Nord Stream verzichtet auf die Inanspruchnahme der Bürgschaft.
  • Anfang November erhält SCHRÖDER, da immer noch amtierender Kanzler, Unterlagen über den geplanten Spatenstich von Nord Stream am 9. Dezember.
  • Am 22. November wird Angela MERKEL im Bundestag zur Kanzlerin gewählt und löst Gerhard SCHRÖDER ab.
  • Am 9. Dezember findet bei Babajewo nördlich von Moskau der erste Spatenstich des Milliardenvorhabens Nord Stream statt. Gleichzeitig informiert Gazprom, Alt-Bundeskanzler SCHRÖDER werde den Aufsichtsratsvorsitz der Gazpromtochter Nord Stream übernehmen. Sein  Jahresgehalt in dieser Position liegt offiziell bei 250 000 Euro, die er neben seinen Einnahmen als Altkanzler bezieht.

Zum Datum des Gazprom-Angebots, den Chefposten beim Aufsichtsrat von Nord Stream zu übernehmen, äußert sich der Ex-Kanzler in einem Handelsblatt-Interview am 02.April 2006 so:

Handelsblatt: Wann haben Sie sich denn für die Übernahme des Mandats entschieden?

SCHRÖDER: "Ich bin mit dieser Frage im November 2005 konfrontiert worden und hatte zunächst abgelehnt. Nicht der Sache wegen, sondern weil ich mich eigentlich auf Beratung konzentrieren und beruflich keine festen Bindungen eingehen wollte."

Handelsblatt: Aber einige vermuten, dass Vorentscheidungen bereits im September fielen, also noch in Ihrer Amtszeit?

SCHRÖDER: "Das ist falsch. Wie gesagt wurde das Thema erstmals im November an mich herangetragen. Am 9. Dezember bin ich dann der Bitte des russischen Präsidenten nachgekommen. Ich kann daran nichts falsches sehen."

 PUTIN's Kampfansagen

2006

Im  März wird Gerhard SCHRÖDER formal Aufsichtsratsvorsitzender bei Nord Stream, Matthias WARNIG übernimmt den Vorstandsvorsitz. Die neue Bundeskanzlerin, aufgewachsen in der DDR und mit perfekten russischen Sprachkenntnissen, redet mit PUTIN. Manche ihrer Begegnungen, wie die ein Jahr später, verlaufen sichtbar unfreundlich. Der russische Präsident holt bei einem Moskauer Gespräch seinen schwarzen Labrador ins Zimmer, der den Gast beschnüffelt. MERKEL hat Angst vor großen Hunden. PUTIN weiß das eigentlich, glaubt sie, und ist darüber bis heute wütend. Dennoch verläuft die politische Zusammenarbeit zwischen Berlin und Moskau zunächst reibungslos. Alte Vertraute SCHRÖDER's arbeiten an Schaltstellen im Kabinett MERKEL, so die Sozialdemokraten Peer STEINBRÜCK als Finanz- und Frank-Walter STEINMEIER als Außenminister. STEINMEIER vertritt in dieser Zeit die freundliche SCHRÖDER'sche Haltung gegenüber PUTIN und seinem Gasimperium. SCHRÖDER selbst erklärt, er wolle zu Hause „nicht meiner Frau auf den Wecker gehen“, sondern für die Pipeline arbeiten - und fährt bei der Lobbyarbeit erste Erfolge ein: Er heuert mehrere ehemalige skandinavische Top-Politiker als Projekt-Berater an. 

Polen ist jetzt seit zwei Jahren Mitglied in der EU und fühlt sich im Stich gelassen. Das Land beklagt erneut, der frühere Kanzler hätte sich vor seiner Unterschrift unter den Nord Stream-Vertrag mit Polen abstimmen müssen. Warschaus Verteidigungsminister Radek SIKORSKI vergleicht im Mai den Deal mit dem „Molotow-Ribbentrop-Pakt“ von 1939, damals ein Waffenstillstandsabkommen zwischen HITLER und STALIN mit einem geheimen Zusatzabkommen über die Teilung Polens.

Warschau erhält überdies statistische Rückendeckung für seine Befürchtungen, Moskau könne sie mit Gaslieferungen und Gaspreisen unter Druck setzen. Eine Studie des schwedischen Wissenschaftlers Robert LARSSON (siehe Cover der Veröffentlichung) aus dem gleichen Jahr ergibt, dass die Ukraine, die baltischen Staaten, Belarus, Georgien und Moldawien zwischen 1991 und 2006 schon 55 mal durch Moskau und Gazprom erpresst wurden, dass ihnen die Preise verdoppelt und die Gaslieferung von einem auf den anderen Tag abgedreht wurde.

2007

In München findet im Februar die 43. Sicherheitskonferenz statt. Wladimir PUTIN nutzt sie zu einem spektrakulären Auftritt und zeigt sich von einer harten und scheinbar verletzten Seite. Er greift die NATO an, die sich „bis an unsere Grenzen“ erweitert habe, und die USA, die eine Hegemonie und die „monopolare Weltherrschaft“ anstrebe und andere Länder mit Gewalt überziehe. Sie dränge anderen Ländern „Regeln auf, die sie nicht wollen“. So ein Modell sei „für die Welt unannehmbar. Es ist vernichtend, auch für den Hegemon selbst“. 

Die NATO fühlt sich durch die Rede brüskiert. Sie sieht darin „einen Bruch“. Der deutsche Verteidigungsminister Franz Josef JUNG (CDU) zeigt hingegen Verständnis für den russischen Präsidenten. „Ich hoffe, wir können beim  nächsten Nato-Russland-Rat darüber  sprechen“. Auch SPD-Chef Kurt BECK warnt: „Man muss den Dialog mit Russland intensiver führen“.

Versucht der Kreml hinterrücks, seinen wirtschaftlichen Einfluss in Deutschland zu stärken? Nicht nur, dass Gazprom-Vorstand MILLER mehrfach betont hat, sein Konzern wolle in der Bundesrepublik ins direkte Geschäft mit den Endverbrauchern einsteigen. Im Frühjahr wird der nordrhein-westfälischen Landesregierung nach Angaben ihres Regierungssprechers Andreas KRAUTSCHEID ein Schriftwechsel bekannt , aus dem hervorgeht, dass die Ruhrkohlee AG über einen Vermittler Kontakt zur russischen Regierung und Gazprom aufgenommen hat. Danach denke Russland über eine strategische Beteiligung an dem westdeutschen Bergbaukonzern nach, der vor einem großen Umbau und einem Börsengang steht. Terminabsprachen für ein Gespräch zwischen RAG-Chef Werner MÜLLER, der zuvor als Minister im SCHRÖDER-Kabinett gearbeitet hatte, und Russlands Vizepremier MEDWEDEW sollen in dem Brief einer Consulting-Agentur erwähnt sein.

Die CDU/FDP-Regierung in Düsseldorf will einen Einstieg nicht dulden. FDP-Landtagsfraktionschef PAPKE sagt, „hier sind strategische Interessen des Landes tangiert“. Die RAG-Führung bestreitet, mit Gazprom Verhandlungen zu führen, betont aber, Gazprom sei ein Investor „wie jeder andere“. Es gebe keine Vorbehalte, „jeder kann Aktien kaufen, wenn wir an der Börse sind“. Gazprom beschwert sich über den Landeseingriff und die öffentliche Diskussion: „Uns begegnen immer wieder antirussische Vorbehalte“. Der Plan, sollte es ihn tatsächlich so gegeben haben, platzt.            

Ein Jahr nach der Gründung der Nord Stream-Gesellschaft schlagen Warnungen von Ermittlungsbehörden und Militärexperten auf. Das Bundesamt für Polizei der Schweiz, das auch geheimdienstliche Zuständigkeiten hat, stellt im Juni in einer vertraulichen Strategischen Analyse über „Organisierte Kriminalität und Nachrichtendienst aus der GUS“ fest, dass „russische Nachrichtendienste und kriminelle Organisationen großen Einfluss auf den russischen Rohstoffhandel nehmen“. Ein längerer Absatz dieser Analyse geht auf eine jüngste Entwicklung ein und nennt Namen: „Generell lässt sich feststellen, dass die Nachrichtendienste bei Geschäften im Ausland vermehrt ihren Einfluss geltend machen und dabei auch auf nachrichtendienstliche Verbindungen mit anderen Staaten zurückgreifen. Das lässt sich beispielsweise bei der 2005 in Zug gegründeten Firma Nord Stream veranschaulichen“. Der Schweizer Polizeibericht verweist darauf, dass sich PUTIN und der deutsche Nord Stream-Chef Matthias WARNIG bereits aus der Zeit der Zusammenarbeit von KGB und Stasi kennen könnten. Beide waren Geheimagenten.

Massive Bedenken äußérn auch schwedische Verteidigungsexperten gegen die Anlage der Pipeline-Röhren. In einem 100seitigen Report schreiben sie: „Ein Taucher würde ausreichen, um eine Sprengladung anzubringen“. Ihr Szenario: Die Sprengladung wird unter 'falscher Flagge' montiert „und dann die russische Ostseeflotte heranbefohlen, um die Pipeline zu 'schützen'“, wie Mike WINNERSTIG, einer der Autoren, der Zeitung "Dagens Nyheter" später sagen wird.

Anderswo ist Gazprom willkommener. Das Unternehmen wird Hauptsponsor des deutschen Bundesligisten Schalke 04. In den nächsten 15 Jahren werden neun Millionen Euro aus der Kasse des Gaskonzerns in den Verein fließen. Dafür werben die Gelsenkirchner Fußballprofis auf ihren blauen Trikots für das Unternehmen. Nord Stream-Chef und Ex.KGB-Mann WARNIG zieht in den Aufsichtsrat ein.

2008

Auf dem Nato-Gipfel in Bukarest kommt es zur Auseinandersetzung über einen möglichen Beitritt der Ukraine zum westlichen Verteidigungsbündnis, der von den Vereinigten Staaten unterstützt wird. Frankreich und Deutschland melden erhebliche Bedenken an. Bundeskanzlerin Angela MERKEL warnt davor, Russland mit einem Beitritt der Ukraine zu reizen. Es drohe eine Destabilisierung in Osteuropa. Hinter der Bühne gibt es zudem einige Bedenken wegen der politischen Stabilität und vielleicht fehlender rechtsstaatliche Maßstäbe in der Ukraine. Am Ende bleibt es bei einer „grundsätzlichen Beitrittsperspektive“

2009

Wieder in einem kalten Januar dreht Russland der Ukraine die Gaslieferung ab. Ursache ist eine Uneinigkeit über einen Folgevertrag. Diesmal sind die südosteuropäischen Staaten Bulgarien, Moldawien und Serbien mitbetroffen, wo es zu erheblichen Engpässen kommt. EU und auch die Bundesregierung vermitteln. Ende Januar wird der Lieferstopp beendet.

Dänemark, Schweden und Finnland erteilen die Bauerlaubnis für Nord Stream. Wenig später folgt Deutschland.     

2010

Der Anteil russischen Gases an der Gasversorgung in der Bundesrepublik Deutschland ist etwas gesunken und beträgt 31,9 Prozent.

Anfang des Jahres wählt die Ukraine einen neuen Präsidenten. Der eher russlandfreundliche Wiktor JANUKOWITSCH siegt in der Stichwahl gegen Julija TIMOSCHENKO.

Die Planung von Nord Stream betrifft skandinavischen Ostsee-Anliegerstaaten in ihren Küstenbereichen. Rund 400 000 Tonnen alter Kriegsmunition auf dem Meeresboden werden zum Problem. 134 Stellen können durch Kampfmittelräumdienste gesäubert werden. Weitere werden umgangen. Die Pipeline soll knapp an der schwedischen Insel Gotland vorbeilaufen. Schwedische und dänische Naturschützer, aber auch skandinavische Politiker haben im Detail noch Einwände. Stockholm will eine 70 Meter hohe russische Wartungsplattform vor Gotland verhindern, was auch gelingt. Gazprom beschließt, eine Universitäts-Studie über langschwänzige Enten in den Sandbänken vor Gotland mit 800 000 Euro und die Modernisierung eines Hafens auf der Insel, über den auch Röhrenteile an die Baustelle transportiert werden, mit mehreren Millionen zu finanzieren. Der Widerstand in Schweden wird überwunden.

2011

In Mecklenburg-Vorpommern befürchten die Umweltorganisationen WWF und BUND schwere Schäden von Flora und Fauna in und an der Ostsee und wollen  mit Klagen gegen das Planfeststellungsverfahren den Bau der Pipeline stoppen. Nord Stream, dessen deutscher Ankerpunkt in dem Bundesland liegt, erweitert seine Kontakte. Es jetzt finanziert Jugend- und Umweltprojekte. In Reaktion auf die Klagedrohungen entsteht die „Naturschutzstiftung Deutsche Ostsee“. WWF Deutschland und BUND Mecklenburg Vorpommern tragen sie. Nord Stream gibt zehn Millionen Euro Stiftungskapital. Im Gegenzug verzichten BUND und WWF auf die Klagen. So kann in Lubmin bei Greifswald am 8. November die Nord Stream-Pipeline in Betrieb genommen werden. 500 Ehrengäste sind dabei, an der Spitze Bundeskanzlerin Angela MERKEL und der russische Präsident Dmitri MEDWDEW. MEDWEDEW und PUTIN hatten für vier Jahre die Posten getauscht, PUTIN steht aber jetzt kurz vor der Rückkehr ins Präsidentenamt.

Ende des Jahres gehen in Moskau und anderen russischen Städten die Menschen auf die Strasse, demonstrieren gegen dieses abgekartete Machtkartell (mehr unter www.ansTageslicht.de/Russland).

2012

Die Ukraine und die Europäische Union schließen Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen ab. Innerhalb der Ukraine und auch der EU bleibt es aber strittig, ob der ausgehandelte Vertragsentwurf unterschrieben werden soll. Auch die Regierung MERKEL gehört zu den Skeptikern.

2013

Die Lage in der Ukraine spitzt sich zu. Ukrainische Oppositionsgruppen rufen zu einem Sturz von Präsident JANUKOWTISCH auf und wehren sich gegen Verhandlungen mit Russland über einen möglichen Beitritt des Landes zu einer von Russland gesteuerten Zollunion. JANUKOWITSCH erwartet für diesen Beitritt von PUTIN als Gegenleistung niedrigere Preise für Russland-Gas. Ende November erklärt die Regierung in Kiew, dass sie das Abkommen mit der EU nicht unterzeichnen wird.

Das löst in den nächsten Wochen und Monaten  Massendemonstrationen und Unruhen aus, die nach dem Schauplatz Maidan in Kiew „Euromaidan“ genannt werden und bei denen mehr als 100 Menschen ums Leben kommen. In Moskau erklärt Präsident PUTIN, der Westen habe die Unruhen angestachelt und finanziere sie.

Die Ukraine im Krieg

2014

Nach einem Fluchtversuch von Präsident JANUKOWITSCH setzt das ukrainische Parlament den Präsidenten ab. Eine Übergangsregierung übernimmt die Arbeit. Im Frühjahr besetzen russische Truppen die zur Ukraine gehörende Halbinsel Krim. Moskau erklärt sie im März gegen bestehende Verträge zu russischem Staatsgebiet. Russlandfreundliche Rebellen bringen weitere Teile im ostukrainischen Donbass  unter ihre Kontrolle. Im Osten des Landes kommt es zu Kämpfen. Der Westen beantwortet die Annexion der Krim mit einer Reihe von Sanktionen.

Im Juli wird eine Boeing 777 der "Malaysian Airlines" auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur wahrscheinlich aus Versehen von einer Rakete getroffen. Beim dem Absturz von Flug "MH 17" sterben 298 Menschen, darunter 50 Kinder. Nach niederländischen Untersuchungen steht fest, dass eine russische BUK-Rakete von Rebellen bei möglicherweise russischer Untertstützung abgefeuert wurde und die zivile Boeing traf. Der Abschuss verschlechtert das russisch-amerikanische Verhältnis weiter.

Gazprom startet Überlegungen für den Bau einer zweiten, unmittelbar parallel zu Nord Stream verlaufenden Pipeline durch die Ostsee nach Deutschland. Ungeachtet der Entwicklung in der Ukraine und neuen Sanktionen führen Deutschland und Russland schon bald intensive Gespräche auf Regierungsebene über das Projekt, das "Nord Stream 2" heißt.

2014 findet der erste „Russlandtag“ in Rostock in Mecklenburg-Vorpommern statt, kurz nach dem Abschuss von "MH 17". Gerhard SCHRÖDER wird der Festredner. Er kritisiert die Sanktionen gegen Moskau.

Im Jahresrückblick der ARD, in dem die Annexion der Krim, die Besetzung in Teilen des Donbass durch russlandfreundliche Rebellen und der Abschuss von MH 17 eine Rolle spielen, beharrt Bundesaußenminister Frank-Walter STEINMEIER auf der deutschen Position: „Ich sehe nicht, dass es jenseits der Krim im Augenblick Begehrlichkeiten in Richtung der Ost-Ukraine gib - jedenfalls in Richtung einer Annexion und Eingliederung in russisches Staatsgebiet“ . Er sei nach wie vor für eine Politik der „Annäherung durch Verflechtung“

2015

Der Anteil russischen Gases an der Gasversorgung in der Bundesrepublik Deutschland ist wieder gestiegen: auf 39,2 Prozent.

Der französische Präsident Francois HOLLANDE, Deutschlands Kanzlerin Angela MERKEL, Russlands Präsident Wladimir PUTIN und Petro POROSCHENKO, Staaspräsident der Ukraine, handeln das "Minsker Friedensabkommen" aus.  Es wird am 12. Februar unterzeichnet und sieht ein Ende der Kampfhandlungen im Osten der Ukraine sowie eine politische Beilegung des Konflikts vor. Noch im gleichen Jahr kommt es zu neuen Kampfhandlungen, die von russlandtreuen Rebellen ausgehen.

Nord Stream-Anteilseigner Wintershall übergibt im Rahmen eines Tauschgeschäfts Deutschlands größtes Gaslager im niedersächsischen Rehden an die Gazprom-Tochter Gazprom Germania (bzw. deren Tochter Astora). Die Bundesregierung unter Kanzlerin MERKEL sieht keinen Anlass, regulierend in die Übergabe einzugreifen, durch die ein russisches Unternehmen erstmals direkt auf die deutschen Gasreserven und die Gasversorgung Zugriff erhält. 

Dass Russland gerade die Krim, die zur Ukraine gehört, mehr oder weniger mit Waffengewalt einkassiert und als russisches Staatsgebiet deklariert hat, stört weder die Kanzlerin noch den Bundeswirtschaftsminister Sigmar GABRIEL.

Am 4. September 2015 wird der Gesellschaftervertrag für das Projekt Nord Stream 2 unterzeichnet. Die Baukosten werden zwischen sieben und neun Milliarden Euro liegen. Die schwarz-rote Bundesregierung erklärt das Projekt zu einer "privatwirtschaftlichen Angelegenheit". Zeitgleich führt vor allem der deutsche Wirtschaftsminister Sigmar GABRIEL (SPD) zahlreiche Gespräche, teilweise unter vier Augen, mit führenden russischen oder deutschen Gazprom-Vertretern.

Dazu gibt es eine Aufstellung, die die Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag im Rahmen einer sogenannten Kleinen Anfrage an die Bundesregierung zwei Jahre später durchsetzten wird: in der Drucksache 19/283, die sich auf den Zeitraum vom 7. Februar 2015 bis zum 30. Januar 2017 erstreckt und rund 20 Gespräche umfasst.

Danach trifft Wirtschaftsminister GABRIEL in dieser Spanne Gazprom-Chef Alexej MILLER, Nord Stream-Vorstand Matthias WARNIG, Aufsichtsratschef Gerhard SCHRÖDER und weitere Vertreter von Nord Stream in engem zeitlichen Abstand. 2015 am 7. und 27. Februar, 7. Juli, 16. September, am 6., 8. 23.,28. und 29. Oktober und am 26. November. 2016 gab es Treffen am 11. Mai, am 5. Juli, 7. September und 16. November. 2017 kommen zwei Treffen GABRIEL's als Wirtschaftsminister und noch drei in seiner neuen Position als Außenminister im März, Mai und Juni dazu. Weitere Gespräche führen leitende Beamte der Ministerien für Wirtschaft und Auswärtiges. Ob diese Aufstellung lückenlos ist, sei nicht feststellbar, wird die schwarz-rote Regierung erklären. Über Inhalte gebe es keine systematische Erfassung.

2016

Die Eigentümergemeinschaft bei Nord Stream 2 wird eine andere sein als bei Nord Stream 1. Die polnische Regierung erreicht über Kartellbehörden, dass Nord Stream 2 nicht gemeinsam von Westeuropäern und Russen betrieben werden kann. Gazprom kontrolliert das Projekt jetzt zwar vollständig weiter, die westlichen Partner dürfen aber nur als Finanziers und Unterstützer dienen. So schießen Uniper (früher E.ON Ruhrgas AG), Wintershall DEA und Unternehmen aus Frankreich und Österreich sowie Shell zusammen fünf Milliarden Euro Kredit zum Bau zu. Verwaltungsrats-Vorsitzender auch bei Nord Stream 2 ist Gerhard SCHRÖDER.

Mai 2016

Im Deutschen Bundestag stellt im Mai die Fraktion der GRÜNEN einen Antrag, den Bau von Nordstream 2 nicht zu 'sponsorn'. Gründe:

  • Nord Stream 2 sei "schlecht vereinbar mit europäischem Ernergierecht und der Diversifizierung von Energiequellen und der geplanten europäischen Energiewende"
  • und es bestünde die Gefahr, die EU spalten, wenn Deutschland eine 'Germany First'-Politik betreibe. Im Europäischen Rat und dem Parlament hätte das ohnehin keine Mehrheit.
  • Außerdem solle die Regierung sicherstellen, dass aus der "privatwirtschaftlichen" Realisierung von rein fossilen Infrastrukturmaßnahmen "keine notwendigen Anschlussaufgaben entstehen, die durch die öffentliche Hand zu finanzieren sind."

Im übrigen müsse die Ukraine Teil des europäischen Gasversorgungssystems bleiben. Ganzprom könne sonst "monopolistische Märkte" schaffen, "wodurch sich die Abhängigkeit von dem russischen Unternehmen erhöhe, das zunehmend die gesamte Gasversorgungskette kontrolliere."

Den Antrag der GRÜNEN nehmen die Abgeordneten Regierungskoalition (CDU/CSU und SPD) nicht ernst. Er bleibt unbearbeitet liegen und erledigt sich ein Jahr später "durch Ablauf der Wahlperiode", wie das im Bundestagsdeutsch heißt.

Jahresende 2016

Ende des Jahres sorgt ein personeller Abgang im Bundeswirtschaftsministerium unter Sigmar GABRIEL (SPD) für Unruhe. Die Leiterin des Referats II B 6 "Energie- und Klimafonds", Marion SCHELLER, wechselt aus ihrer Position unmittelbar zur Gazprom-Tochter Nord Stream 2.

2018

Der Bau der Pipeline Nord Stream 2 beginnt. Die 100 000 Einzelrohre liefern wie beim Erdgas-Röhren-Geschäft fast fünf Jahrzehnte zuvor zu einem großen Teil deutsche Firmen. Das betont auch der Ostausschuss der deutschen Wirtschaft und versichert gleichzeitig, die neue Pipeline werde dazu beitragen, die Gaspreise in Deutschland stabil zu halten und das Klima zu schonen. Scharf zurückgewiesen werden in der Stellungnahme Äußerungen des US-Präsidenten Donald Trump, Russland nehme so die deutsche Politik „zur Geisel“. Beweise dafür bleibe Trump schuldig.

Polen und die USA denken an ein gemeinsames Projekt einer Konkurrenzleitung in Nord-Süd-Richtung von Norwegen nach Polen. "Baltic Pipe" soll bis 2022 fertig sein.

2019

Im Dezember wird die Verlegung der Röhren gestoppt. Zwei Schweizer Spezialschiffe, die dafür geheuert wurden, werden abgezogen. Anlaß der zeitweiligen Einstellung der Arbeiten  sind amerikanische Drohungen von Sanktionen in einem Gesetzentwurf des US-Repräsenantenhauses zum Verteidigungshaushalt. Erstmals sind sie gezielt gegen mit dem Bau beschäftigte westliche Firmen gerichtet und betreffen auch die Schiffe, die die Pipeline verlegen. Bundesaußenminister Heiko MAAS (SPD) verurteilt die geplanten US-Sanktionen. Europas Energiepolitik werde in Europa entschieden, nicht in den USA, sagt er. Eingriffe von außen und Sanktionen mit extraterritorialer Wirkung lehne man grundsätzlich ab. Die Verlege-Arbeiten an der Leitung können fortgesetzt werden, weil russische Schiffe dies übernehmen.

Der Kurs der Vereinigten Staaten gegen den Pipeline Nord Stream 2 und die deutsche Politik gegenüber Russland verschärft sich unter dem republikanischen Präsidenten Donald TRUMP. Sein Botschafter in Berlin, Richard GRENELL,  schreibt warnende Briefe an deutsche Unternehmen, die an dem Pipeline-Bau beteiligt sind und fordert sie auf, das Engagement zu beenden. Die Regierung MERKEL rückt indes nicht von ihrer zustimmenden Haltung zu Nord Stream 2 ab.

2020

Im August wird auf Alexej NAVALNY ein Giftanschlag verübt. PUTIN's gefährlichster Widersacher überlebt knapp, weil er in letzter Sekunde in die Berliner Charite ausgefliegen darf, um sich dort behandeln zu lassen. NAVALNY, der in den staatlichen Medien absolut totgeschwiegen wird, enthüllte regelmäßig Korruption und Misswirtschaft bei führenden Politikern und staatlichen Unternehmen (mehr unter www.ansTageslicht.de/NAVALNY). Trotz aller Warnungen kehrt er nach Moskau zurück, wird direkt am Flughafen verhaftet. Ein Gericht verurteilt ihn zu einer mehrjährigen Haftstrafe in einem Straflager in Sibirien. PUTIN ist ihn ersteinmal los. 

Zu SCHRÖDER's russischen Aktivitäten hat NAVALNY eine klare Meinung, die er noch während seines Krankenhausaufenthaltes in Berlin in einem Interview mit der BILD-Zeitung vermittelte (siehe Layout: Anklicken öffnet das Interview auf www.bild.de).

Obwohl Alexej NAVALNY in einem Straflager eingekerkert ist, sind seine Mitarbeiter weiter aktiv - obwohl NAVALNY's Büro und seine Stiftung gegen Korruption in Russland inzwischen aufgelöst und verboten ist. Im Sommer 2022 geht ein eineinhalbstündiges Video mit dem Titel "Putin.Miller.Gazprom" online, das die Verflechtungen der russischen Nomenklatura aufzeigt und den Luxus z.B. des Gazprom-Chefs Alexej MILLER. Hier auf dem Screenshot zu sehen: Das Haupthaus des häuslichen Anwesens des Gazprom-Chefs.

Es ist wie bei den Scheichs in Arabien: Energie, auf die der Rest der Welt angewiesen ist, verhilft auch in Russland zu unermesslichem Reichtum.

2021

Der Anteil russischen Gases an der Gasversorgung in der Bundesrepublik Deutschland erreicht seit der Inbetriebnahme von Nord Stream 1 mit 54,5 Prozent einen bisherigen Höchststand.

Weitere wichtige Lieferanten sind Norwegen (30 Prozent) und die Niederlande (13 Prozent). Die Bundesrepublik ist das EU-Land mit der höchsten Abhängigkeit von Gas. Auf Platz 2 folgt Italien.

In Mecklenburg-Vorpommern gründet der ehemalige Ministerpräsident Erwin SELLERING (SPD) die Stiftung Klima- und Umweltschutz MV", die offenbar amerikanische Sanktionen umgehen soll. Ein „Nebenzweck“ der Stiftung ist laut Landesregierung, „der zusätzliche Auftrag, wenn nötig mit einem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb zur Fertigstellung von Nord Stream 2 beizutragen“. Im Juni findet in dem Bundesland der mittlerweile vierte „Russlandtag“ statt.

Im September des Jahres wird die Pipeline Nord Stream 2 fertiggestellt. Sie ist mit zehn Milliarden Euro deutlich teurer geworden als am Anfang erwartet. Bis zum Jahresende werden die neuen Röhren mit Gas befüllt, um den nötigen Druck zum baldigen Gastransport aufzubauen. Die Gasversorgung selbst wird allerdings noch nicht aufgenommen.

Nach der Wahl zum 20. deutschen Bundestag, bei der Angela MERKEL nicht mehr angetreten ist, ergibt sich in Berlin eine neue Parlamentsmehrheit. Sozialdemokraten, Grüne und FDP bilden eine „Ampel“-Koalition. Kanzler wird Olaf SCHOLZ (SPD). Bald nach der Regierungsbildung zeichnet sich ab, dass die größte außenpolitische Herausforderung der neuen Regierung im Osten liegen wird. Russische Truppen werden in der Nähe der ukrainischen Grenze zusammengezogen. Russlands Präsident PUTIN beschuldigt die ukrainische Führung des Faschismus. Der ukrainische Präsident Wolodimir SELENSKY sucht in westlichen Staaten Verbündete.

2022

Anfang des Jahres ist die Lage in Osteuropa zum Zerreißen gespannt. Nord Stream-Aufsichtsratschef und Altkanzler Gerhard SCHRÖDER positioniert sich erneut an der Seite Russlands. Er appelliert an die ukrainische Regierung, mit dem „Säbelrasseln“ aufzuhören.

Da ein Krieg Russland gegen die Ukraine droht, legt die neue Bundesregierung am 22. Februar die Zertifizierung für die fertig gestellte Leitung Nord Stream 2 auf Eis. Offizieller Begründung: Es fehle die Freigabe durch beteiligte Behörden.

Am Morgen des 24. Februar 2022 überfallen russische Truppen ukrainisches Staatsgebiet. Mit scharfen Worten kritisiert der neue Bundeskanzler Olaf SCHOLZ (SPD) Moskau für die Agression. 

PUTIN's Racheplan: Blackout in Deutschland:

Für den Morgen des 4. April plant der Kreml die Rache für diese ablehnende Haltung in Berlin: Millionen Wohnungen sollen an diesem Montag kalt bleiben, nirgendwo Wasser aus den Duschköpfen fließen, das Licht nicht funktionieren. Kein ICE soll fahren, keine Ampel blinken. Die deutsche Wirtschaft soll lahmgelegt werden, nichts soll mehr gehen. Alles ganz einfach: Die Versorgung läuft zum allergrößten Teil über die deutschen Stadtwerke. Und die sind Kunden des quasi staatseigenen russischen Energiekonzerns Gazprom:

Blackout im ganzen Land.

So hätte es am 4. April 2022 passieren sollen. 

Doch der Mut zweier russischer Männer macht möglich, dass dieser Alptraum ausbleibt. Die beiden Informanten haben die Bundesregierung 50 Stunden vor dem geplanten heimtückischen Sabotageakt des Kreml gewarnt, über den sie Donnerstag zuvor einem Treffen im Berliner Hotel Ritz Carlton am Potsdamer Platz unterrichtet worden waren. Er sollte durch ihren Arbeitgeber, das Unternehmen Gazprom Germania und seine zahlreichen deutschen Tochterfirmen, gesteuert werden und schlagartig 250 Stadtwerke und weitere 250 Unternehmen von der Versorgung abkoppeln und „größtmöglichen Schaden“ anrichten. 
 

Die "Ampel" handelt. Schnell und zielgerichtet.

Die neue Regierung, erst seit kurzem im Amt, berät an diesem Wochenende schnell und agiert. Sie entmachtet juristisch die Führung der Gazprom Germania, die von der Gazprom-Mutter in Moskau kurz zuvor an eine ominöse Firma namens JSC Palmary unter der Führung eines DiscJockeys scheinverkauft worden war. Kanzler und Wirtschaftsminister überantworten die Regie im deutschen Versorgungsnetz treuhänderisch der Bundesnetzagentur in Bonn. Bundeswirtschaftsminister Robert HABECK (GRÜNE) teilt diese Entscheidung unmittelbar in einer Pressekonferenz mit. Über die wahren Hintergründe und die dramatischen Stunden davor schweigt er. Erst eineinhalb Jahre später, im Dezember 2023, veröffentlicht das „Handelsblatt“ diese Vorgänge über sechs Zeitungsseiten bis ins Detail.

Die Bundesregierung verstaatlicht im Herbst 2022 Gazprom in Deutschland. Der deutsche Staat übernimmt die Regie über die Leitung Nord Stream 1. Gazprom Germania muss Insolvenz anmelden. Mehrere hundert Beschäftigte werden entlassen. Zug um Zug verringert Russland ab Juli die Gaslieferungen an Deutschland unter verschiedenen Vorwänden wie Wartungen, eine angeblich defekte Turbine und schließlich wegen der westlichen Sanktionen, deren Aufhebung Moskau fordert. Nach dem Austausch der Turbine fließen noch 20 Prozent der alten Gasmenge. Ab dem 30. August strömt kein Gas mehr.  

Gazprom lässt auch den unter seit 2015 unter seiner Regie stehenden größten deutschen Gasspeicher in Rehden bis auf wenige Prozent Füllstand leer stehen, was in Deutschland große Sorge auslöst. Doch bis zum Herbst können die Gasfüllstände in den deutschen Speichern wieder auf mehr als 97 Prozent angehoben werden.

Die mit finanzieller Unterstützung durch Gazprom in Mecklenburg-Vorpommern gegründeten Stiftungen werden aufgelöst.

Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler Robert HABECK setzt Paragraphen für einen Gasnotstand in Kraft, so dass die Bundesregierung rechtliche und finanzielle Maßnahmen für eine ausreichende Gasversorgung im Winter 22/23 einleiten kann. Gleichzeitig handelt Berlin Gaslieferverträge u.a. mit Katar, Norwegen und den USA aus.

26. September 2022

Am 26. September 2022 zerreissen mehrere Explosionen die Gasleitungen Nord Stream 1 und Nord Stream 2 nahe der dänischen Insel Bornholm. Über viele Meter sind die Rohre zerstört, es werden vier Lecks lokalisiert. Dänische Experten führen dies auf einen Sabotageakt zurück, EU und NATO sprechen von „vorsätzlichen Handlungen“. Spekulationen über Russland als Täter weist der Kreml als „dumm und absurd“ zurück.

Das deutsche Gasbezug aus Russland sinkt massiv. Die Bundesnetzagentur stellt Mitte Oktober 2022 fest, dass dieser Rückgang nur durch Daten von Nord Stream 1 belegt werden kann. Über andere Leitungen könne Gas aus Russland nach wie vor auch in größerem Umfang kommen. Die genaue Herkunft sei dort nicht feststellbar.

Oktober 2022

Das Rechercheteam Correctiv.org veröffentlicht die Ergebnisse seiner Ermittungsarbeit: Die Gazprom-Lobby, auf die wir auch hier verlinken: ein subtiles und stilles Lobbygeflecht, das seit Jahren offenbar daran arbeitet, den russischen Einfluss auf die deutsche Gazabhängigkeit von Russland stetig auszubauen.

In der Online-Veröffentlichung der Correctiv-Kolleg:innen heißt es im Abschnitt "Ein Netzwerk für russisches Gas in Sachsen", in dem vom "Deutsch-Russischen-Rohstoff-Forum" die Rede ist:

"Immer wieder mit dabei sind auch der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU). Dreizehnmal fand das Rohstoff-Forum statt. Sigmar Gabriel, damals SPD-Wirtschaftsminister, sprach sich hier 2016 für das Ende der Russland-Sanktionen aus und noch 2021 trat der amtierende sächsische CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer auf."

Sigmar GABRIEL war jener Wirtschaftsminister, der sein ok 2016 dafür gegeben hatte, dass Gazprom über sein diverses Firmengeflecht Deutschlands größten Erdgasspeicher kaufen konnte. Jetzt verklagt GABRIEL das Rechercheteam Correctiv.org. Sein Anwalt aus Hamburg, der auch regelmäßig für Gerhard SCHRÖDER in Sachen Nordstream/Gazprom regelmäßig unterwegs ist, Michael NESSELHAUF:

Der Satz, GABRIEL "sprach sich hier 2016 für das Ende der Russlandsanktionen aus" könne den „Eindruck erwecken“, er habe ein bedingungsloses Ende der Sanktionen gefordert. Vielmehr sei Sigmar GABRIEL „nie für das Ende der Russlandsanktionen“ eingetreten, sondern immer nur für „deren schrittweisen Abbau“.

Offenbar hat der Ex-Minister nicht viel anderes zu tun als Journalisten wegen eines Halbsatzes juristisch zu belangen, über den er 'not amused' ist. Über seine eigene politische Verantwortung - zumindest nachträglich - nachzudenken, Deutschland in die russische Gasfalle geführt zu haben, lässt Sigmar GABRIEL bis jetzt nichts verlauten.

Correctiv hat dem Ansinnen GABRIEL's, den fraglichen Halbsatz zu streichen, widersprochen. Deshalb will jetzt sein Rechtsvertreter Michael NESSELHAUF gegen Correctiv vor Gericht ziehen.

Der Anteil an russischem Gas geht bis zum Ende des Jahres auf Null zurück.

1. Dezember 2022

Eine neue Initiative hat sich gebildet: www.gas.lobby-melden.de/. Gesucht werden Hinweisgeber (wenig Informationen) und Whistleblower (ausführlichere Informationen). Die Initiatoren wollen die Gaslobby transparenter machen, die - immer noch - erheblichen Einfluss hat. Trotz der bereits getroffenen energiepolitischen Entscheidungen. 

Denn immer noch gilt: "Wir sind abhängig von einem Rohstoff, der zur Erderhitzung beiträgt, abhängig von Autokraten und abhängig von Energiekonzernen." So heißt es auf der Website.

Wie Informationen (ge)sicher(t) weitergegeben werden können, um sich nicht selbst zu gefährden, wird dort ebenfalls erklärt.

Bilanz Angela MERKEL

Alt-Bundeskanzlerin Angela MERKEL (CDU) sieht heute keine Fehler, die sie in ihren 16 Regierungsjahren in der Russland/Gas-Politik gemacht haben könnte. Das macht sie auf einer Preisverleihung in Lissabon Mitte Oktober 2022 klar. „Rational und nachvollziehbar“ sei es gewesen, angesichts der gewollten Energiewende Gas aus Russland zu beziehen und auch angesichts der Tatsache, dass Russland-Gas billiger gewesen sei als Flüssiggas aus den USA, Saudi-Arabien oder Katar. Russland sei selbst im Kalten Krieg ein „zuverlässiger Energielieferant“ gewesen.  Sie habe nie an den Grundsatz „Wandel durch Handel“ geglaubt, aber an „Verbindung durch Handel. Und insofern bereue ich die Entscheidungen überhaupt nicht, sondern glaube, dass das aus der damaligen Perspektive richtig war“.

Bilanz Frank-Walter STEINMEIER

Bundespräsident Frank-Walter STEINMEIER (SPD), der die Russland-Kontakte als Außenminister MERKELs noch intensiver befürwortete, sieht das drei Monate nach dem russischen Überfall auf die Ukraine anders: „Mein Festhalten an Nord Stream 2, das war eindeutig ein Fehler. Wir haben an Brücken festgehalten, an die Russland nicht mehr geglaubt hat und vor denen uns unsere Partner gewarnt haben“, sagt er im April 2022. Und fügt einen finalen Satz über eine „bittere Bilanz“ hinzu: Wir sind gescheitert mit der Einrichtung eines gemeinsamen europäischen Hauses, in das Russland einbezogen wird“.                                                                      

Rekonstruktion und Text: Dietmar SEHER (DS)

Quellen: Jürgen ROTH: „Gazprom, das unheimliche Imperium“, Piper-Verlag 2014. Catherine BELTON: „PUTIN's Netz“, Harper Collins 2020. Jens HOOVSGARD: „Gier, Gas und Geld“, Europaverlag 2019. Bundestags-Drucksache 19/283. Schweizerisches Bundesamt für Polizei, dort: Strategischen Analyse über „Organisierte Kriminalität und Nachrichtendienst aus der GUS“. „DER SPIEGEL“. „Focus“. „stern“. Verschiedene Tagesmedien. Eigene Recherchen.  

Online am: 02.11.2022
Aktualisiert am: 24.03.2024


Inhalt:

Zwischen Gas und Geld: Nordstream 2


Tags:

Energie | Gas + Öl | Gazprom | Gerhard SCHRÖDER | Lobbyismus | Nordstream | PUTIN | Russland | Ukraine

Heizen - Energie - Politik

Dies sind - bisher - die Themen, die unter dem o.a. Themenfeld online gegangen sind:

"Aktenöffner" zu Nordstream 2

Gerhard BLEY von der Transparency Deutschland-Regionalgruppe Mecklenburg-Vorpommern hat sich ebenfalls mit Nordstream 2 auseinandergesetzt (www.aktenoeffner.de) und in einer Chronologie Daten zur Entstehungsgeschichte dieser Pipeline ab dem Jahr 1997 zusammengestellt: teilweise detaillierter als bei uns. Unsere Darstellung versucht vor allem, den Roten Faden im Gesamtzusammenhang seit den 50er Jahren herzustellen, weshalb wir nicht so tief ins Detail gehen.