In einer finsteren Nacht

Lina Hatje hatte keine Chance, ihrer Enkelin Caroline zu begegnen. Lina Hatje wurde in Auschwitz vergast. Caroline Hatje kämpft in Stuttgart für ein Haus, in dem früher die Gestapo wütete. Zwei Frauen, eine Geschichte.
Von Michael OHNEWALD, Stuttgarter Zeitung 18.2.2010


An einem nasskalten Nachmittag steht Caroline Hatje an der Karlspassage und liest in Gesichtern. Unter ihrem gefütterten Wintermantel trägt sie zwei dicke Pullover. Sie schützen gegen die Kälte, aber nicht gegen jede Art davon.

Einen Moment blickt sie hinüber zu einem grauen Haus. Sie kennt es. Die Mauern ziehen oft durch ihre Träume. Eigentlich sind es nur Steine, die schweigen. Manchmal ist Schweigen zum Schreien. Caroline Hatje hat ein Gesicht entdeckt, das hoffen lässt. „Darf ich Ihnen einen offenen Brief an die Firma Breuninger mitgeben?“

Stuttgart, im Winter 1942. Ein Mittwoch, der nichts hat, was sich im Nachhinein als Vorzeichen deuten lässt. Es ist der Tag, an dem Lina Hatje zum ersten Mal in dieses Haus kommt. Der 23. Dezember, Johanns Geburtstag. Ihr Mann gönnt sich einen Kinobesuch. Gezeigt wird „Die goldene Stadt“, einer der ersten Filme in Agfacolor. Seine Frau bleibt mit Tochter Elsa zu Hause. Der Umstände wegen.

Lina Hatje, Näherin von Beruf, ist 1888 in Breslau als Kind jüdischer Eltern geboren. Das hat lange keine Rolle gespielt. Jetzt ist das anders. Seit 1914 ist sie mit Johann verheiratet. Lina Hatje, hochgewachsen, schwarze Haare, dunkler Teint, ist eine imponierende Erscheinung. Sie hat zwei Kinder. Gerhard ist in jenem Winter 27, seine Schwester Elsa fünf Jahre jünger.

Die Umwälzungen der Zeit treffen die Hatjes doppelt. Vater Johann, der im Ersten Weltkrieg als Feldeisenbahner in Warschau war, hat in Stuttgart als Bezirksleiter der Eisenbahnergewerkschaft gearbeitet. Im Mai 1933 wurden die Gewerkschaften zerschlagen. Die neuen Machthaber stürmten ins Gewerkschaftsbüro und verlangten die Kasse. Als er sich weigerte, das Geld herauszugeben, steckten ihn die Nazis in die Büchsenschmiere, ein Gefängnis in der Büchsenstraße. Seitdem hält Johann Hatje die Familie mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Er arbeitet als Baupolier für die Reichsgartenschau auf dem Killesberg und später als Schweißer bei Eberspächer in Esslingen.

Der Gewerkschafter trifft sich heimlich mit Sozialdemokraten. Einmal kommt die Polizei ins Haus und nimmt verbotene Bücher mit. Lina Hatje ist der Fels in der Brandung düsterer Zeiten. „Das läuft sich tot“, sagt sie. Ihr Mann ist weniger optimistisch.

Nach den Nürnberger Rassengesetzen führen Johann und Lina Hatje eine „privilegierte Mischehe“. Sie gelten als „privilegiert“, weil sie Kinder haben. Viel wert ist das nicht. Die Städte im Deutschen Reich sollen judenfrei werden, und die Geheime Staatspolizei leistet ganze Arbeit. Auch in Stuttgart gibt es eine Zentrale – das Hotel Silber in der Dorotheenstraße 10.

Einen Steinwurf von diesem Ort entfernt steht Caroline Hatje in der Gegenwart, um über die Vergangenheit zu reden. „Breuninger verweigert den Dialog“, sagt sie. Vor der Einkaufspassage flanieren Menschen. „Wussten Sie, dass dort drüben früher die Gestapozentrale war?“ Eine Dame, flachsblondes Haar, reife Haut, bleibt stehen. „Was Sie bei dieser Kälte auf sich nehmen, ist bewundernswert“, sagt sie.

Caroline Hatje, Jahrgang 1956, verteilt zum ersten Mal in ihrem Leben Flugblätter. Mutter von drei Kindern ist sie und keine, die ihren Kopf so lange über dem Teller schüttelt, bis sie ein Haar in der Suppe findet.
Das hat sie vom Vater. Gerd Hatje war nach dem Krieg in Stuttgart Verleger und hat mit seinen Kunstbüchern über ein halbes Jahrhundert Maßstäbe gesetzt.

Das Leben kann lustig sein. Caroline Hatje geht gerne in Altenheime. Sie gibt dort den Clown. Das Leben kann ernst sein. Caroline Hatje geht neuerdings öfter in die Stadt, um Unterschriften gegen die Pläne der Firma Breuninger zu sammeln, die ein neues Stadtquartier plant. „Da Vinci“, heißt das Projekt. Das Haus in der Dorotheenstraße 10 passt nicht zu „Da Vinci“ und soll deshalb abgerissen werden. Die Planer wissen um die Geschichte. Im Keller wollen sie Räume schaffen, in denen an das berüchtigte Gefängnis erinnert wird.

„Es gibt nichts Authentischeres als diesen Ort“, sagt Caroline Hatje zu einem Fremden, der gerade vorbeigeht. Wie ihre Mitstreiter von der Initiative Gedenkort Hotel Silber kämpft sie für dieses Haus, das längst nicht mehr aussieht wie damals und heute Beamte des Landes beherbergt. Es soll ein NS-Dokumentationszentrum werden, ein Hort der Geschichte, ein Lernort wie es ihn in Köln, Berlin oder Dresden gibt. 3000 Unterschriften sind bereits gesammelt. Günter Grass, der Nobelpreisträger, hat ebenso unterzeichnet wie Hasko Weber, der Schauspieldirektor, und Erhard Eppler, der Vordenker der Sozialdemokraten.

„Es gehört Mut dazu, in der besten Innenstadtlage einen solchen Ort zu bewahren“, sagt Caroline Hatje und spricht den nächsten Passanten an. Ein Herr mit schlohweißem Haar zögert nicht lange. „Mein Schwiegervater hat die Sauerei noch erlebt.“ Eine junge Türkin greift nach einem Flugblatt. „Ich schau mir das mal in Ruhe an.“ Caroline Hatje deutet auf das Haus und ruft ihr hinterher. „Dort ist so viel passiert.“

Stuttgart im Winter 1942. Lina Hatje sitzt über ihrer Heimarbeit, als sich ihr Leben wendet. Sie verdient etwas dazu, seit Johann seinen Job als Gewerkschafter verloren hat. Mit ihrer alten Maschine näht sie Brotbeutel und Tornister für die Wehrmacht, für die Männer an der Front. Plötzlich klingelt es. Draußen steht ein Polizist. Er nimmt sie mit und auch ihre Tochter.

Im Hotel Silber wird Lina Hatje verhört. Ein Gestapomann aus der Nachbarschaft hat sie angeschwärzt. Elsa sieht durch eine Scheibe, wie SS-Männer ihre Mutter bedrängen. Als sie es nicht mehr aushält, öffnet Elsa die Türe. „Was machen Sie mit ihr?“ Die Antwort gleicht einem Befehl: „Halt dich raus, sonst bis du auch dran!“
Die Familie beantragt eine Besuchserlaubnis und darf Lina Hatje wenige Tage danach in der Gestapozentrale sehen. An ihrem Gesicht sind die Tage und Nächte nicht spurlos vorbeigegangen. „Ich weiß nicht, was man mit ihr gemacht hat“, schreibt Elsa nach dem Besuch in ihr Tagebuch. „Meine Mutter war eine gebrochene Frau.“

Lina Hatje klammert sich an die Hoffnung. Die Gefangene glaubt an das gute Ende. Sie macht sich weniger Sorgen um sich selbst als um ihre Familie: „Im Keller ist noch reichlich Eingemachtes“, sagt sie, „das könnt ihr essen, bis ich zurück bin.“

Geheimpolizisten verfrachten Lina Hatje vom Hotel Silber nach Rudersberg in ein Arbeitserziehungslager. Am 27. Januar 1943 schickt sie eine Postkarte vom Welzheimer Wald nach Stuttgart. „Mir geht es so weit ganz gut.“ Am 12. Februar folgt die nächste. „Liebe Else, arbeite nicht zu viel, ich mache schon alles, wenn ich wieder zu Hause bin. Lass die Wäsche liegen, vor allem die große.“ Am 21. Februar 1943 trifft eine weitere Karte ein, zitternd geschrieben mit Bleistift, abgestempelt in Plauen. „Mein lieber Hans, seit Dienstag bin ich auf der Fahrt nach Auschwitz. Bitte reiche sofort ein Gesuch ein. Ich habe furchtbare Schmerzen im Mutterleib. Ich kann nicht mehr, meine Kräfte sind am Ende.“

Eine seltsame Stille liegt für einen Moment über der Karlstraße in Stuttgart, wo sich Caroline Hatje gegen das Vergessen stemmt. Keine Kundschaft. Die kleine Protestgemeinde wirkt ein bisschen verloren vor dem großen Kaufhaus. „Ich verstehe nicht, warum diese Stadt so mit ihrer Geschichte umgeht“, sagt Caroline Hatje und zupft an ihrem roten Schal.

Vor drei Tagen hat sie sich mit einer Kusine getroffen. Elsa Hatjes Tochter Uschi, die in Berlin lebt, hat Briefe, Fotos undPostkarten von Lina mitgebracht. Sie haben sich ausgetauscht und dabei gemerkt, dass es jede Menge Fragen gibt, 68 Jahre danach. Uschi hat Oma Lina noch gekannt. Die Enkelin war damals zwei Jahre alt. In der Familie haben sie das Thema ausgespart. In dieser Geschichte wollte keiner wühlen. Vielleicht deshalb, weil sie wehtat und viel mehr mit ihnen zu tun hatte, als sie sich das eingestehen wollten. Lina Hatjes Kinder galten als Halbjuden. Heute ist das keine Kategorie mehr. Früher war das anders, subtil anders. Und früher ist noch gar nicht so lange her. Lina Hatjes Tochter Elsa war bei einemPsychologen. Er konnte ihr nicht helfen. Das Leiden ihrer jüdischen Mutter hat sie nicht losgelassen bis in den Tod.

Manchmal sucht sich die Vergangenheit Ihren Weg. Lina Hatjes Enkel Caroline und Uschi, die ganz unterschiedlich sind und 700 Kilometer voneinander entfernt leben, haben beide das Gefühl, dass es sie etwas angeht, was gerade in Stuttgart passiert. Ihnen ist bewusst, dass der Streit über die Gestapozentrale ein später Streit ist. Der Architektenwettbewerb zum neuen Stadtquartier läuft bereits, und die Politik hat sich festgelegt. Die anderen liegen vorne. Caroline Hatje kann trotzdem nicht anders. Wie ein Mahnmal steht sie vor dem Hotel Silber, dem früheren, und wendet sich an die Heutigen. „Haben Sie einen Moment Zeit?“

Auschwitz im Frühjahr 1943. Im Konzentrationslager an der Kasernenstraße wird Lina Hatje am späten Vormittag des 21. März in einen Raum geführt, aus dem es kein Entkommen gibt. Gas strömt in die Kammer. Was sie durchleidet, liegt jenseits dessen, was man sich vorstellen mag. „Todeszeitpunkt 12 Uhr 00 Minuten“, heißt es in einem Schreiben an den Stuttgarter Anwalt Benno Israel Ostertag, zugelassen nur zur rechtlichen Beratung von Juden. Die Gestapo hat für solche Nachrichten ihre eigene Prosa. Lina Hatje, so heißt es in dem Brief, sei „im Konzentrationslager Auschwitz, Häftlingskrankenbau, an Sepsis bei Phlegmone gestorben. Die Beisetzung der Urne hat auf Staatskosten im Urnenhain des Lagers stattgefunden.“

Drei Monate später klingelt eine hagere Frau bei den Hatjes in Stuttgart. Sie wolle sich nach Lina erkundigen, sagt sie. Die Frau war mit ihr im Rudersberger Lager und wollte sehen, was aus der Schicksalsgefährtin geworden ist. Sie erzählt der Familie, dass es Lina Hatje als Jüdin im Lager schlecht ergangen sei. Eine Aufseherin habe gesagt: „Was machen wir denn mit der? Die lassen wir durch den Kamin raus.“

Es ist spät geworden vor der Klett-Passage. Ein letztes Gespräch mit einer Dame, die bereits überzeugt ist. „Werdet Se bloß net müd“, sagt sie. „Kämpfet Se weiter!“ Caroline Hatje packt ihre Flugblätter in den schwarzen Rucksack und geht nach Hause.


Wie die Geschichte im Original auf einer ganzen Seite in der Zeitung abgedruckt und mit Bildern und Überschriften ge-layoutet war, können Sie hier als pdf-Datei anschauen: In einer finsteren Nacht.