Wie es dem 9jährigen Spielkameraden von Thomas MUNDERSTEIN gelang, unter falschem Namen den Nazi-Schergen zu entkommen

Diese Geschichte ist Bestandteil der Familiensaga des Ignatz NACHER, des ehemaligen 'Besitzers' und "Generaldirektor" der Engelhardt-Brauerei Berlin, die bis in die 30er Jahre hinein den zweitgrößten Brauereikonzern Deutschlands repräsentierte. Ignatz NACHER wurde 1933/34 enteignet, weil er Jude war. Seine Geschichte und die seiner Brauerei ist in mehreren Kapiteln ausführlich dokumentiert unter www.ansTageslicht.de/Nacher (siehe rechte Navileiste; Smartphone: nach ganz unten scrollen).

Hier geht es um einen seiner Großneffen, Peter NACHER. Er konnte überleben. Ein anderer Großneffe, Thomas MUNDERSTEIN, wurde exekutiert. Peter und Thomas waren befreundet. Die Geschichte handelts deswegen auch von beiden. Jene von Thomas ist ausführlich rekonstruiert unter www.ansTageslicht.de/Thomas. Diese hier lässt sich direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/Peter.


Zwei Freunde - zwei Eisenbahnen

Sie waren beide Eisenbahnfans und jeder hatte sein eigenes Modell, die beiden Großneffen von Ignatz NACHER, dem ehemaligen Mehrheitseigner und Generaldirektor der Engelhardt-Brauerei Berlin. Thomas MUNDERSTEIN, im Jahr 1938 acht Jahre alt, besaß eine Modelleisenbahn der Spur "1". Peter NACHER,  drei Jahre jünger, hatte die Normalgröße "H0". Die eine wurde an Weihnachten am Hohenzollerndamm 184 im Bezirk Wilmersdorf aufgebaut, die andere in der Hohenstauffenstrasse 51 in Schöneberg. Sie spielten abwechselnd mal hier, mal dort. Die Entfernung zwischen den elterlichen Wohnungen waren überschaubar, vier Stationen mit derselben U-Bahnlinie "A II". Thomas und Peter waren Freunde.

Freunde in einer sehr schwierigen Zeit.

Noch war es jüdischen Menschen erlaubt, U-Bahn und Strassenbahn zu benutzen. Oder zu telefonieren. Oder ein Radiogerät zu besitzen.

Thomas' Eltern waren geschieden. Dem Vater Alfred hatten seine Arbeitgeber, für die er als Vertreter von Glasflaschen unterwegs war, gekündigt, jetzt bekam Thomas und seine Mutter keine finanzielle Unterstützung mehr, beide wohnten inzwischen bei den mütterlichen Großeltern in Wilmersdorf in einer 2 1/2-Zimmerwohnung. Alfred war es gelungen, ein Visum für Uruguay zu ergattern, am 1. August 1938 hatte er seine Schiffspassage nach Montevideo angetreten. Der Plan: trotz Scheidung seine Famile sobald als möglich nachzuholen. Thomas träumte bereits von einer Farm, hatte ausgerechnet, wieviel Hühner er brauchen würde, um immer mehr Hühner, aber auch Eier zu haben.

Peter NACHER's Eltern hatten ebenfalls umziehen müssen, denn auch in dieser Familie wurde das Geld knapp. Vater Rudolf hatte keinen wirklichen Job mehr: Weil "Onkel Ignatz"  - wie alle Ignatz NACHER nannten ungeachtet des genialogischen Verwandschaftsgrads - mit brachialer Gewalt aus seiner Engelhardt-Brauerei herauskatapultiert worden war, die er als sein "Lebenswerk" betrachtete, musste auch das damit verbundene Holdingunternehmen Borussia Akteingesellschaft für Brauereibeteiligungen liquidiert werden. Rudolf NACHER war dort Vorstand. Jetzt hatte er nur noch ein kleines Zubrot als "Onkel Ignatz" Sekretär in "Privatangelegenheiten". Die nationalsozialistischen Herrscher und ihr mitlaufender Mob, aber auch die Dresdner Bank, hatten auch ihm fast alles genommen. Wir haben das ausführlich dokumentiert unter Die brutale Enteignung des Ignatz NACHER 1933/1934.

Zwei Freunde - zwei Schulen

Doch aus kindlicher Perspektive sieht vieles nicht ganz so dramatisch aus, viele politischen Hintergründe und Zusammenhänge sind ihnen verschlossen. Sie wissen nur: herumtollen auf öffentlichen Spielplätzen oder laut lachen, sollte man tunlichst vermeiden. Am sichersten ist es, so wenig wie möglich draußen aufzufallen.

Deswegen geht Thomas auf eine private jüdische Schule in Dahlem, die "PriWaKi" ("Private Waldschule Kaliski"). Dort kann er mit allen anderen jüdischen Kids hinter dichten Bäumen und hohen Sträuchern das machen, was Kindern eigen ist: sich wie ein ganz junger Mensch zu verhalten.

Für Peter NACHER und seine Schwester Hannah ist diese Schule zu weit weg. Thomas' Eltern sind beide jüdisch. Vater Rudolf ebenfalls. Aber die Mutter Gertrud ist arisch. Im amtlichen Sprachgebrauch führen Peter's Eltern eine "Mischehe". Peter und Hannah gelten demnach als "Halbjuden".

Aber egal, ob Voll-, Halb-, Viertel- oder Achteljude: Die Zeiten für alle werden zunehmend rauher. Und aussichtsloser. Noch ist es möglich zu emigrieren - wenn man das Geld dazu hat und irgendwo in der Welt Zuflucht finden, sprich ein Einreisevisum ergattern kann. Bei Thomas' Vater hat es gerade geklappt. Auch sein Lieblingslehrer an der "PriWaKi"-Schule ist auf dem Weg, wegzugehen. Er hat sich an der Hebräischen Universität in Jerusalem um ein Studentenzertifikat beworben. Die militärischen und politischen Herrscher in Palestina, die Briten, machen ab und an eine Ausnahme, denn Juden sind dort ebenfalls unerwünscht. Sie sind den Palestinensern ein Dorn im Auge. Und bedeuten daher für die britische Besatzungsmacht zu viel Stress.

Herbst 1938: Peters Geburtstag

Knapp zwei Wochen vor Peter's 5. Geburtstag am 9. Oktober wird das "Münchner Abkommen" unterzeichnet. Der italienische Diktator MUSSOLINI, der französische Ministerpräsident und der englische Premierminister Neville CHAMBERLAIN einigen sich mit Adolf HITLER. Der ist in der internationalen Staatengemeinschaft so hoch angesehen, dass er - von allen anderen akzeptiert - die Tschechoslowakei dazu bringen kann, das Sudentenland an das Deutsche Reich abzutreten. Einfach so. Tags drauf ist es soweit: Deutsche Soldaten marschieren einfach über die Grenze und okkupieren das gesamte Gebiet. Kardinal Bertram von Breslau, der Vorsitzende der (katholischen) Fuldaer Bischofskonferenz gratuliert dem "Führer" in einem Glückwunsch-Telegramm: für die "Großtat der Sicherung des Volksfriedens".

Wie Peter NACHER seinen fünften Geburtstag erlebt, wissen wir nicht. Wir wissen nur: Die Stimmung unter den jüdischen, halb- und vierteljüdischen Deutschen ist angespannt. Sie spüren immer mehr, dass sie in einem Hexenkessel leben; immer mehr Einschränkungen und Verbote für "Juden" machen das tägliche Leben immer schwerer. Und unerträglicher. Auch draußen auf der Strasse. Wer (noch) ein Auto hat, muss mit Schikanen durch die Polizei rechnen - jüdische Autobesitzer müssen ein gesondertes Autoschild haben. Falsch Abbiegen oder zu früh oder zu spät an einer roten Ampel loszufahren, kann teuer werden.

Der Quasi-Sohn von "Onkel Ignatz", Hermann EISNER, ebenfalls aus der Engelhardt-Brauerei herauskatapultiert, sowie seine Frau, die Schauspielerin Camilla SPIRA, die in Deutschland als Jüdin nicht mehr in öffentlichen Theatern oder im Film auftreten darf, sind gerade nach New York gefahren, wollen dort vor Ort erkunden, ob und wie ein Leben in den USA aussehen könnte. Auch sie sind sozusagen 'auf dem Sprung'. Und "Onkel Ignatz" trägt sich schon länger mit dem Gedanken, Deutschland zu verlassen. Die Anzahl derer, denen man vertrauen oder die man besuchen kann, wird immer kleiner.

November 1938 im "Land der Dichter und Denker"

Dabei hat "Onkel Ignatz" eine besondere Bedeutung für Peter und seine um ein Jahr jüngere Schwester Hannah. Sie haben sich häufiger bei ihm getroffen, zuhause, und jedes Mal hatte er eine Tafel Schokolade aus seinem Schreibtischschubfach hervorgeholt, sie in zwei Hälften geteilt und jedem eine gegeben. Sie waren immer gerne zu ihm gegangen.

Doch jetzt ist der Weg weiter geworden, jeder muss die neu eingeführte jüdische "Kennkarte" mit sich führen und in wenigen Wochen, wenn das Neue Jahr beginnt, muss jeder einen zusätzlichen Vornamen haben: Peter wird dann "Peter Israel" heißen, seine Schwester "Hannah Sarah". In den Krankenhäusern werden bereits Arier und Juden separiert. 

Am 9. und 10. November beginnt das Vorspiel, der Auftakt zur "Endlösung".

Im Land der Musiker, Dichter und Denker gibt der weltbekannte Dirigent Wilhelm FURTWÄNGLER mit seinen Berliner Philharmonikern ein Gastkonzert in Leipzig: tosender Applaus.Tags drauf dirigiert Herbert von KARAJAN in der Deutschen Staatsoper Berlin "Tristan und Isolde". Im "Staatlichen Schauspielhaus" spielt Gustav GRÜNDGENS den "Hamlet" - zum 100. Male.

Währenddessen lässt sich der arische Mob auf der Strasse aus, schlägt auf Juden ein, es wird geprügelt, Scheiben jüdischer Geschäfte gehen zu Bruch, in den meisten Synagogen deutschlandweit  wird Feuer gelegt, viele stürzen daraufhin ein, eine ganze Glaubenskultur soll ausgelöscht werden. So auch in Bamberg. Dort wird Wilhelm LESSING, ein alter Freund und ehemaliger Geschäftspartner von Ignatz NACHER auf der Strasse von hasserfüllten Menschen erst gejagt, dann erschlagen.

Als am Morgen des 10. November der Ziehsohn von "Onkel Ignatz" mit seiner Ehefrau auf dem Schiff aus New York zurück in Rotterdamm einlaufen und beide per Schiffsfunk von ersten Gerüchten hören, was im "Land der Dichter und Denker" vorgefallen ist, kann "Onkel Ignatz" sie am Telefon warnen: Sie sollen sich "noch etwas Urlaub gönnen!". Die beiden, Hermann EISNER und Camilla werden nicht zurückkehren. Ihr weiteres Schicksal ist beschrieben unter Das Pogrom, Ignatz NACHER, seine Familie und die der Schauspielerin Camilla SPIRA.

Ignatz NACHER und seine Frau sowie Rudolf NACHER's Familie überleben das Grauen unverletzt. Aber der Schock sitzt tief.

danach: das Vorspiel zur "Endlösung"

Jetzt geht es Schlag auf Schlag.

  • Hermann GÖRING trifft sich mit mehreren Wirtschaftsführern, u.a. dem Vorstandschef der "Allianz Versicherung", und erlässt eine "Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben", nach der alle Juden für die entstandenen Schäden der teilweise so genannten 'Reichskristallnacht' aufkommen müssen.
  • Juden dürfen ab sofort nicht mehr ins Kino oder Theater gehen, keine Museen oder Bibliotheken besuchen. Parkbänke werden mit der Aufschrift "Nur für Arier" versehen. In immer mehr Geschäften und Restaurants prangen neuerdings Schilder: "Juden unerwünscht".
  • Das Reichsministerium für Wissenschaft und Erziehung bestimmt, dass es "keinem deutschen Lehrer ... mehr zugemutet werden kann, an jüdische Schulkinder Unterricht zu erteilen. Auch versteht sich von selbst, daß es für deutsche Schüler und Schülerinnen unerträglich ist, mit Juden in einem Klassenraum zu sitzen."

Peter darf nicht mehr in seine Schule.

Und kurz darauf wird jüdischen Deutschen das Autofahren verboten

1939: Taufe

Am neunten des Monats wird Thomas MUNDERSTEIN 9 Jahre alt. Er träumt immer noch von einer großen Reise nach Uruguay. Aber dort haben sich die politischen Verhältnisse geändert und jetzt gibt es keine Einreisvisa mehr. Das Konsulat in Hamburg gibt jedes Mal abschlägige Auskunft. Trotzdem gibt der jetzt Neunjährige seine Träume nicht auf.

Ob sich der fünfjährige Peter NACHER ihn zu besuchen getraut, wissen wir nicht. Mit dem Auto dorthin ist passe, Rudolf NACHER darf nicht mehr fahren, hat deswegen auch schon längst kein Auto mehr.

Für Mai 1939 haben die nationalsozislaistischen Herrscher und der ihnen getreu ergebene deutsche Beamtenapparat eine Volkszählung angesetzt. In der sollen neben Angaben zu Wohnung und Familie, Beruf und Arbeitsstätte auch die Religionszugehörigkeit angegeben werden. Der Stichtag wurde auf den 17. Mai festgelegt.

Rudolf NACHER und seine Ehefrau Gertrud schwant nichts Gutes. Sie versuchen schon lange einen Termin zu bekommen: für eine Taufe. Der Andrang ist groß, viele sehen das als eine Art Rettung. Und es klappt, rechtzeitig: Rudolf und Gertrud NACHER lassen ihre beiden Kinder drei Tage vor der großen Volkszählung taufen. Sie sind jetzt seit 14.Mai - auf einem Papier zumindest - "evangelisch". 

Es wird ihnen nichts nützen. Sie gelten weiterhin in den Amtsstuben als "Halbjuden" - im Behördenjargon auch "Geltungsjuden" - , müssen in eineinhalb Jahren auf der Strasse oder im Luftschutzbunker den "Gelben Stern" tragen.

Das Leben geht weiter - sofern man überlebt

Im Mai 1939 beginnt die verzweifelte Irrfahrt eines Schiffes der Hamburger Reederei HAPAG, der "St. Louis", auf der mehr als 900 jüdische Deutsche versuchen, dem Hexenkessel Deutschland zu entrinnen und nach Kuba zu gelangen. Alle haben ein Visum und mit dem letzten Geld ihre Schiffspassage gebucht. Dort angekommen, dürfen sie nicht an Land - Kuba hat kurz zuvor die Einreisebestimmungen geändert. Der Kapitän nimmt Kurs auf Miami, versucht den US-Präsidenten Franklin D. ROOSEVELT telegrafisch zu überzeugen, aber auch die USA lehnen ab. Gleiches macht Kanada. Der "St. Louis" bleibt nichts anderes übrig als wieder wieder Kurs auf Hamburg zu nehmen.

Auf dem Schiff spielen sich verzweifelte Szenen ab, viele bringen sich um, vergiften sich oder stürzen sich ins Meer - nur um nicht wieder in die Hände ihrer Häscher zu geraten. In letzter Minute gelingt es dem Chef der Reederei, die Regierungen der Niederlande, Belgien, Großbritannien und Frankreich dazu zu bringen, die Flüchtlinge im Hinblick auf die erlittenen Tortouren aufzunehmen. Doch wenn in Kürze der Krieg ausbrechen wird, wird das Schicksal erneut zuschlagen. Die meisten enden im Holocaust. Jene, die von Großbritannien aus nach Kanada wollten, werden auf dem Atlantik von einem deutschen U-Boot torpediert. Sie ertrinken.

In Deutschland erfährt man davon nichts. Die jüdischen Bewohner haben andere Sorgen, sie müssen ihre Wohnungen in arischen Wohnhäusern räumen und in sogenannte Judenhäuser umziehen. Dort wird es jetzt eng. Rudolf NACHER und seine Familie dürfen bleiben.

Peter geht in eine neue Schule: in die "Familienschule" in der Oranienburgerstrasse 20 in Kreuzberg. Dort hat der evangelische Pfarrer Heinrich GRÜBER aus der "Bekennenden Kirche" nicht nur sein "Büro Pfarrer Grüber" untergebracht, um drangsalierten Juden zur Ausreise zu verhelfen, sondern auch eine Schule, in der jene Kinder unterrichtet werden, die nicht mehr in andere Schulen gehen dürfen. Die Gestapo akzeptiert dies zunächst. So wird es allerdings nicht bleiben.

Deutschland beginnt den größten Krieg aller Zeiten

Mitte August gibt es wieder einen Menschen weniger, zu dem Peter und seine Schwester immer Kontakt gehalten haben: "Onkel Ignatz" ist es gelungen, eine Ausreisegenehmigung zu erhalten. Und ein Einreisevisum für die Schweiz zu bekommen, die ebenfalls längst ihre Grenzen für jüdische Flüchtlinge geschlossen hat.

Die Schweiz macht - wie mit allen anderen auch - gute Geschäfte mit den Nazis, will sie nicht verärgern. Nur ganz wenige eidgenössische Zollbeamte haben eine andere Meinung und handeln, indem sie die strikten Einreisebestimmungen unterlaufen und Flüchtlingen helfen. Zum Beispiel Paul GRÜNINGER, der mehreren Hunderten auf illegale Weise helfen kann. Aber ihm kommt man auf die Schliche, er wird noch 1939 aus dem Staatsdienst entlassen.

Bevor Ignatz NACHER ausreisen darf, beuten ihn die deutschen Behörden bis auf den letzten Heller aus. Z.B.die Finanzverwaltung. "Onkel Ignatz" muss Reichsfluchsteuer, Judenabgaben, eine Auswanderungsabgabe und eine "Dego-Abgabe" bezahlen: über 1,6 Millionen Reichsmark - alles, was er noch besessen hatte an einigen Akten und aus dem Zwangsverkauf seines Hauses ist jetzt weg. Nur einige antike Möbelstücke darf er mitnehmen. Ignatz NACHER atmet auf, auch wenn er sich von der Familie seines Cousins Rudolf, seinem Großneffen Thomas und der Familie seiner Schwester Emma BALAI trennen muss.

Ignatz NACHER kann sich seines neuen Lebens nicht lange freuen. Er stirbt am 15. September 1939. Zwei Wochen, nachdem die deutschen Truppen Polen überfallen haben und den größten Krieg aller Zeiten beginnen. Einen Krieg, der die ganze Welt verändern wird.

1940 - das erste Kriegsjahr

Kurz nach Kriegsbeginn haben alle Juden ihre Radioapparate abgeben müssen. Zu Beginn des neuen Jahres ziehen die Behörden und ihre treuen Beamten die Daumenschrauben weiter an. Juden können keine neuen Kleider mehr einkaufen, ihre staatlich zugeteilten Lebensmittelkarten werden mit einem großen "J" versehen, so dass jeder arische Kaufmann sehen kann, wem er was verkaufen möchte, Einkaufen ist jetzt erst ab 15.30 erlaubt, die Sperrstunde beginnt um 20 Uhr und im Juli werden allen die Telefonanschlüsse gekappt. Kommunikation mit anderen ist praktisch kaum mehr möglich.

So bleibt vorerst auch unbemerkt, dass im Deutschen Reich sowie aus dem längst einverleibten Österreich sowie den Protektoraten Böhmen und Mähren die ersten jüdischen Menschen zwangsdeportiert und in polnischen Lagern konzentriert werden.

Pfarrer GRÜBER, der ein stilles Netzwerk unterhält, erfährt davon. Er legt bei mehreren staatlichen Stellen Protest ein. Er wird verhaftet und sein "Büro Pfarrer Grüber" im Dezember von der Gestapo geschlossen. Nur die "Familienschule" in der Oranienburger Strasse 20 darf weitermachen.

Rudolf NACHER ist inzwischen staatlicherseits zur Zwangsarbeit eingesetzt worden - mal hier, mal da.

Herbst 1941: die ersten "Umsiedlungen" in den Tod

Weil die "PriWaKi" aus ihrem Gebäude im Grunewald verdrängt wurde, geht Thomas inzwischen in die jüdische "Joseph-Lehmann-Schule" in der Joachimsthalerstrasse 13 in der Nähe des Bahnhof Zoo. Peter's Schwester Hannah wird im September, knapp siebenjährig, eingeschult: wie Peter geht sie jetzt in die "Familienschule". Noch verläuft das Leben - für Menschen, die als jüdisch gelten - den Umständen entsprechend halbwegs normal.

Der Oktober ändert alles.

Am achtzehnten des Monats werden Ignatz NACHER's Schwester Emma BALAI, "Tante Emma" und ihr Ehemann Siegmund, er 73, sie 70 Jahre alt, aus ihrer Wohnung in der Heilbronner Strasse 10 in Berlin-Schöneberg abgeholt, in den ersten Transportzug, einen Güterzug, gekarrt und von dort ins Getto Lodz ("Litzmannstadt") deportiert, im Bürokratendeutsch: "umgesiedelt". Ihre Tochter Cilka, jetzt 25 Jahre alt, hatte es geschafft, Deutschland rechtzeitig zu verlassen.

Dass "Tante Emma" auf einmal nicht mehr da ist, versetzt Peter und Hannah in einen Schockzustand - sie verstehen die Welt jetzt garnicht mehr. Dass "Tante Emma" und "Onkel Siegmund" im April 1942 im Vernichtungslager Kulmo ("Kulmhof") nackt in einen LKW gesteckt und darin vergast werden, können sie nicht erahnen.

Sie verstehen auch nicht, weshalb Thomas, seine Mutter Margarete MUNDERSTEIN und deren Mutter sich am 25. November in der Synagoge Levetzowstrasse 7 in Berlin-Moabiot einfinden müssen. Angeblich sollen sie "umgesiedelt" werden, irgendwo im Osten, genaues wissen sie nicht.

Thomas sieht seine Träume auf einer Farm in Uruguay am Platzen. Warum er jetzt mit seiner Mutter und seiner verwitweten Großmutter irgendwo nach Osten umziehen muss, versteht er überhaupt nicht. Warum nur hat das uruguayische Konsulat in Hamburg keine Visa erteilt? Und warum nimmt man ihm jetzt in der Levetzowstrasse seine Eisenbahn weg, die er extra in einen Koffer verpackt hat? Seine Anziehsachen, 2 Hemden und 2 Paar Hosen und Socken, wie seine Mutter in seiner "Vermögenserklärung" aufgelistet hat, nehmen ja keinen Platz weg.

Was genau sich in diesen Tagen abgespielt hat, bevor Peter's Spielkamerad und Freund, Thomas MUNDERSTEIN, drei Tage lang in klirrender Kälte in einem Güterwaggon nach Riga gekarrt wurde, wissen wir nicht, wir können es nur erahnen. Jedenfalls gab es offensichtlich eine Gelegenheit, dass Thomas das hier abgebildete Passfoto irgendwie seinem Spielkameraden Peter zukommen lassen konnte. Wie, wissen wir ebenfalls nicht.

Wir wissen nur, was bei der Ankunft des Transportzuges am 30.November 1941 wenige Kilometer vor Riga in einem Wald, der zum Stadtteil Rumbula gehört, geschah. Da das vorgesehen Internierungslager noch nicht fertig gestellt war, wurden alle, die es bis zur Ankunft des Güterzuges kurz vor Riga geschafft, sprich drei Tage ohne Wasser und Brot überlebt hatten, aus dem Zug getrieben und an Ort und Stelle von SS-Männern des "Einsatzkommando 3" erschossen. Rund 730 Menschen wurden exekutiert. Der Tag wird - nach 1945 - als "Rigaer Blutsonntag" in die Annalen eingehen.

Wir haben das Schicksal von Thomas ausführlich rekonstruiert unter Das kurze Leben von Thomas MUNDERSTEIN.

Der 30. November hat im Jahr 1941 eine weitere Bedeutung. Im Deutschen Reich begehen die arischen Deutschen diesen Sonntag feierlich als 1. Advent.

SS-Sturmbannführer Ernst HOHMANN

Dieser 1. Advent hat auch für Enst HOHMANN, einen Tag zuvor gerade 45 Jahre alt geworden, eine besondere Bedeutung: Er hält eine Ernennungsurkunde in der Hand, die gestern im Briuefkasten lag. Ernst HOHMANN wird mit diesem Tag zum "SS-Sturmbannführer" befördert.

HOHMANN ist das, was man einen durchtrainierten "Kämpfer" nennt. In Königsberg unterhielt er eine "Sportschule und Massageanstalt", hat als "Berufsboxer" zahlreiche Boxkämpfe bestritten und teilweise auch gewonnen, ist in die SS gleich 1933 eingetreten und inzwischen beim Reichssicherheitshauptamt, dem Heinrich HIMMLER vorsteht, im "Amt I", dem Personalamt, dort in der Abteilung "C 2 für Körperschulung und militärische Ausbildung" gelandet. Konkret ist er mit der Führung des Referats "Schwerathletik" beauftragt. Zu seinen 'Kunden' bzw. jenen,die er zwecks körperlicher Ertüchtigung betreut, zählt auch Reinhard HEYDRICH. HEYDRICH ist seit 1939 Chef der Sicherheitspolizei und des SD. Und er ist Präsident der "Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission" (IKPK), der Vorgängerinstitution von "Interpol".

"SS-Sturmbannführer" Ernst HOHMANN ist nicht nur sportlich gut drauf. Sein Büro in der Neuen Friedrichstrasse 49/Ecke Burgstrasse ist er vom geschäftigen Treiben im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) räumlich separiert. Er fühlt sich dort auch weniger kontrolliert. Eine günstige Situation, wenn man nebenher hier, da und dort kleinere Geschäfte machen will, um das eigene Einkommen aufzubessern. Die Zeiten sind günstig: Juden müssen ihre Wohnungen deutscher Hausbesitzer verlassen und in "Judenhäuser" umziehen. Jetzt gibt es plötzlich leerstehenden Wohnraum, teilweise in guter Lage, etwa im Bayerischen Viertel im Berliner Bezirk Schöneberg. Und Wohnungsvermittlung war schon immer ein krisensicheres Geschäft.

So kommt es, dass Fritz TICHAUER, 61 Jahre, der sich inzwischen "Fritz Israel TICHAUCHER" nennen muss, obwohl auch er sich bereits vor längerer Zeit hat "evangelisch" taufen lassen, mit SS-Sturmbannführer HOHMANN zusammenkommt. Auch TICHAUER ist als "Geltungsjude" auf der ständigen Suche nach Gelderwerb. Über leerstehende Wohnungsadressen zu informieren fällt nicht unter das für Juden geltende Maklerverbot. Dafür Geld zu kassieren, kommt dem aber ziemlich nahe. 

Mal geht es gut, mal klappt es nicht mit dem Kassieren. TICHAUER agiert auf Empfehlung eines Assessors aus der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes, der wiederum mit dem Rechtsanwalt Martin REITER befreundet ist. REITER unterhält in der Jägerstrasse 61 sein Büro, sozusagen direkt an der Ecke zur berühmten Friedrichstrasse.

1942 - drittes Kriegsjahr

In diesem Rechtsanwaltsbüro arbeitet seit seiteinhalb Jahren Gertrud NACHER. Rudolf ist seit diesem Zeitpunkt zur Zwangsarbeit verpflichtet, musste bei der Reichsbahn erst als "Gleis-Streckenarbeiter", dann auf dem Lehrter Güternbahnhof Schwerstarbeit verrichten, wurde dann zur Fa. SIEMENS abkommandiert und ist jetzt bei Daimler-Benz in Marienfelde. Die Entlohnung ist so gering, dass man damit keine Familie ernähren kann, erst recht nicht in Zeiten einer Kriegswirtschaft.

Weil in der jüdischen Bevölkerung immer mehr Menschen von heute auf morgen verschwinden, die von der Gestapo abgeholt und in die Deportationszüge in Richtung Osten verschleppt werden, rumort es in der Gerüchteküche. Von Massenerschießungen ist da die Rede, von Konzentrations- und Vernichtungslagern. Viele wollen das nicht glauben, es übersteigt das Vorstellungsvermögen. Auch wenn davon in heimlich abgehörten Auslandssendern die Sprache ist. Das ist längst bei Strafe verboten und eigentlich darf kein Jude mehr ein Radiogerät besitzen. NIcht alle halten sich daran.

Weil "Tante Emma" und "Onkel Siegmund" nicht mehr da sind, "Onkel Ignatz" tot ist und von Thomas - trotz Versprechen - kein Lebenszeichen, keine Postkarte kommt, schöpfen auch Rudolf und Gertrud NACHER Verdacht. Es ist ihnen alles nicht mehr geheuer.

Als im Juni 1942 jetzt auch die jüdischen Schulen schließen müssen, Peter und Hanna tagsüber zuhause bleiben (müssen), ziehen die Eltern die Notbremse. Gertrud hat während iher Arbeit im Rechtsanwaltsbüro das ein und andere mitbekommen, was der SS-Sturmbannführer nebenher so treibt.

Sie fassen sich ein Herz. Gertrud spricht den SS-Mann an. Ganz konkret, ob er helfen könne.

Zum Beispiel, ob und wie es möglich wäre, die beiden Kinder irgendwo in der weitläufigen Landschaft links oder rechts der Oder unterzubringen. Dort hätten bereits andere (arische) Eltern ihre Kinder in Bauernhöfen zum Schutz vor den Luftangriffen hingebracht. Sie würden dort sogar zur Schule gehen.  

NACHER's würden auch bezahlen. Und sie hätten das ein oder andere antike Möbelstück. Oder den ein oder anderen wertvollen Teppich.

Weil "Onkel Ignatz" in seinem Testament auch seinem Cousin Rudolf 5.000 RM vermacht hat, von denen er den größten Teil - zusätzlich zur Steuer - als "Judenabgabe" ans Finanzamt abgeben muss, sind NACHER's imstande, ein solches Angebot zu machen.

SS-Sturmbannführer willigt ein. Und kassiert.

Zwei Teppiche plus zwei Brücken. Und 2.500 RM in cash.

Der SS-Sturmbannführer ist vorsichtig genug, nicht immer selbst in Erscheinung zu treten. Er schaltet Fritz TICHAUER dazwischen. Und auch Rechtsanwalt REITER fungiert als Mittelsmann. Sicher ist sicher.

SS-Sturmbannführer Ernst HOHMANN hat Kontakte, hierhin, dahin, dorthin. Ihm gelingt es, Peter und Hanna als "Mischlinge I", also "Mischlinge ersten Grades" zu 'verkaufen'. Wie genau das geschieht, in welchen Behörden er intervenieren oder Geld rüberwachsen lassen muss, wissen wir nicht.

Wir wissen aber, dass Peter und Hanna jetzt nicht mehr unter ihrem bisherigen Nachnamen "NACHER", sondern unter dem Mädchennamen ihrer Mutter 'abtauchen' können. Jetzt als "Peter WENDICKE" und "Hanna WENDICKE".

In letzter Minute

Das Ganze spielt sich im Monat September ab. Innerhalb von zehn Tagen.

Was weder NACHER's noch Ernst HOHMANN oder Fritz TICHAUER zu diesem Zeitpunkt wissen: Eines der Wohnungsvermittlungsgeschäfte im Dreieck REITER-TICHAUER-HOHMANN ist aufgeflogen. Jemand, der mehrfach zahlen sollte, hat Anzeige erstattet.

Am 19.Oktober wird Ernst HOHMANN verhaftet. Ebenso Fritz TICHAUER.

Jetzt ermittelt das Reichssicherheitshauptamt. SS-Sturmbannführer Dr. HAENSCH stellt am 21. Oktober einen Bericht an den "Reichsführer SS", Heinrich HIMMLER, zusammen.

"Betr. SS-Sturmbannführer Hohmann - Verschiebung beschlagnahmter Judenwohnungen" ist der 8-seitige Ermittlungsbericht überschrieben.

Das Geschäft 'Teppiche plus Geld gegen Kinder unter falschem Namen' ist nicht Gegenstand der Ermittlungen.

"Hier ist ein Exempel zu statuieren, schärfstens durchgreifen", schreibt Heinrich HIMMLER am 30. Oktober handschriftlich auf die erste Seite des Berichts (siehe Faksimile).

HOHMANN erhält eine Gnadenfrist, wird entlassen und erneut verhaftet. Er wird erst im Februar 1944 seine Haftstrafe antreten müssen.

Für Fritz TICHAUER geht alles schneller. Er wird nicht vor Gericht gestellt. Er wird auch nicht verurteilt. Er wird auf der Stelle in einen Transportzug gesteckt. Nach Auschwitz. Dort ist er am 4. Dezember "verstorben", wie es in der immer dicker werdenden Ermittlungsakte "HOHMANN" zu lesen ist.

Zu dieser Zeit sind Peter und Hanna bereits nicht mehr in Berlin. Sie sind unter falschem Nachnamen in der Zäckericker Loose dem Zugriff der Behörden und der Gestapo entzogen.

Zäckericker Loose

Die ganze Gegend ist weit genug von der Reichshauptstadt entfernt, um dort Jagd auf Juden zu machen. Die Landschaft ist zwar flach, aber weitflächig, und die wenigen Höfe dort verbergen sich hinter Bäumen und Gebüsch. Es sind nicht einmal 20 bäuerliche Anwesen jeweils bestehend aus Wohnhaus, Ställen, Scheunen und sonstigen Nutzgebäuden:

Natürlich kennt hier jeder jeden. Aber die Menschen sind bodenständig, helfen sich gegenseitig aus. Wie in einer großen Familie. Mit Politik haben sie nichts am Hut.

Die Neuankömmlinge mit dem deutsch klingenden Nachnamen "WENDICKE" sind nicht die ersten Kids, die dort auf dem Land - weit genug von fliegerischen Angriffszielen - Zuflucht finden.

Die Zäckericker Loose mit ihren einzelnen Anwesen auf der linken, sprich westlichen Flussseite der Oder, gehört verwaltungstechnisch zum kleinen Fischerdorf Zäckerick auf dem rechten Flussufer etwas weiter nördlich gegenüber. Entweder benutzt man die Fähre oder man muss zur 10 km entfernten Brücke weiter nördlich:

Die Menschen auf beiden Seiten repräsentieren einen eigenen Menschenschlag: "Der Mensch der Loosen, der stets besonders schwer um seine Existenz zu ringen hatte, ist sehr still und wenig mitteilsam. An Freud und Leid des Einzelnen nimmt das ganze Dorf Anteil." So liest es sich beim Chronisten Thomas WAGNER in seinem Buch "Zäckerick an der Oder. Dorf der Fischer und der Löwinge" beschreibt: erdverbunden, an Obrigkeitsgetue nicht interessiert, sondern daran, dass die Ernte gut ausfällt und die Fischer ihr Auskommen finden. Leben und Leben lassen - das bäuerliche Selbstversorgungsleben ist schwer genug, auch wenn der Krieg weit weg ist.

"Fabrikaktion" 1943

Der wird zunehmend aber immer direkter in Berlin spürbar - ungeachtet der Fanfaren und Siegesmeldungen im staatlichen Rundfunk. Immer mehr Häuser und Menschen fallen den Bombenangriffen zum Opfer. Rudolf NACHER muss wieder Schwerstarbeit verrichten: jetzt als Zwangsarbeiter bei einem Abrißunternehmen, dass einsturzgefährdete Gebäude sichern soll.

Derweil verstärken die Nazis ihre Jagd auf die restlichen Juden in der Reichshauptstadt. Die soll demnächst als "judenfrei" dem Führer gemeldet werden. Ausgenommen sind - derzeit noch - auf Grund eines Erlasses des Leiters des  "Referats IV B 4" im Reichssicherheitshauptamt, Adolf EICHMANN, sogenannte Mischehen.

Um möglichst viele zu erwischen, und zwar am (Zwangs)Arbeitsplatz, organisieren die Behörden zusammen mit der Polizei, Gestapo und SS am 27./28.Februar 1943 eine Razzia in fast allen Unternehmen, in denen Juden ohne Lohn arbeiten müssen.

Auch Rudolf NACHER erwischt es. Er wird ins Konzerthaus "Clou" in der Mauerstrasse gebracht, eine bekannte Unterhaltungseinrichtung in Berlin, natürlich nur für Nicht-Juden, in der noch vor wenigen Wochen Hermann GÖRING eine Weihnachstparty für (arische) Kinder geschmissen hat.

Weil Rudolf NACHER, trotz evangelischer Taufe, aus einer "Mischehe" stammt, kommt er wieder frei. Und mit dem Schrecken davon. Hauptsache die Kinder sind in Sicherheit.

Abtauchen in die Illegalität

So generalsstabmäßig die Großrazzia in ganz Berlin geplant war, die heute unter dem Begriff "Fabrikation" in die Annalen eingegangen ist, so konnten sich doch rund viertausend jüdische Deutsche den Häschern entziehen. Viele wurden gewarnt, manche hatten unterwegs zu ihrem Arbeitsplatz mitbekommen, was im Gange ist, und in den meisten Köpfen dieser rund viertausend Menschen schwirrten schon lange Überlegungen hin und her, wie das wohl zu bewerkstelligen wäre.

Wo findet man ein Dach über dem Kopf? Wo und wie wird man nicht gesehen? Was, wenn es klirrend kalt wird? Woher bekommt man Essen, wenn man sich keine Lebensmittelkarten mehr abholen kann? Wie kann man mit anderen überhaupt noch Kontakt halten? Hält man das den restlichen Winter durch? Oder gar ein ganzes Jahr? Wie lange werden der Krieg und die Verfolgungen andauern? Ist es realistisch, darauf zu setzen, dass es ein Deutschland ohne HITLER und die ganzen Mitläufer geben wird? Oder gibt es eine Chance, irgendwie über eine Grenze zu gelangen, wo man sich eingermaßen sicher fühlen kann? Welche Länder kommen dafür überhaupt in Frage? Und wie dahingelangen?

Fragen über Fragen, aber praktisch keine Antworten. Wer in die Illegalität abtauchen will, muss mutig sein und den vielen Gefahren ins Auge sehen (können).

Heute wissen wir, es gab Menschen, die anderen geholfen haben. NIcht sehr viele, aber einige. Viertausend davon sind inzwischen namentlich bekannt. Immerhin. Und ähnlich so viele Juden konnten abgetaucht bis zum Kriegsende überleben. Die Zahl, die es versucht hatten, war größer: geschätzt zwischen 10 und 15.000 Menschen.

Geholfen hatte beispielsweise Otto WEIDT in und mit seiner Blindenwerkstatt, in der Rosenthalerstrasse. Oder Paula WENDT. Sie hatte als Buchbinderin in einer Druckerei in Berlin-Kreuzberg gearbeitet. Und dort - nach Feierabend - zusammen mit dem Besitzer heimlich Werksausweise hergestellt. Der Ausweis eines Arbeitsplatzes, den man auf der Strasse der Polizei vorzeigen konnte, war mehr als hilfreich, er konnte das eigene Leben retten. Paula WENDT, ihre Schwester und der Druckereibesitzer hatten vielen helfen können, unterzutauchen. Bis sie aufflogen und in ein "Arbeitserziehungslager" in Fehrbellin verfrachtet wurden. Mehr dazu gibt es demnächst auf der Site www.lausitzerplatz.berlin (NOCH NICHT ONLINE).

Peter NACHER und seine Schwester konnten hatten es auf andere Weise geschafft: mittels Bestechung. Wenn es ums Überleben geht, kann man in der Wahl der MIttel nicht zimperlich sein. Es gibt meist keine Alternative.

Das Ende des Schreckens

Wie und wo Peter und seine Schwester Hanna in der Zäckericker Loose (über)leben, wissen wir nicht. Wir können es nicht mehr rekonstruieren. Die Einwohnermeldedaten, die sich im Rathaus des Fischerdorfes Zäckerick, heute Siekierki (Polen) sind ebenso verloren gegangen wie das Schul-bzw. Klassenbuch des Lehrers Johannes ESCHENBACH, der in der Zäckericker Loose Nr. 46 in einem kleinen Haus in einer einzigen Klasse 19 Kinder aller Altersklassen unterrichtet hatte. Vermutlich waren auch Peter und Hanna darunter.

Auch Pläne des Katasteramtes, Grundbuchauszüge oder ähnliches existieren nicht mehr. Die Zäckericker Loose wurde im Frühjahr 1945 kurzzeitig Kampfgebiet, bevor die sowjetischen Truppen auf dem Weg nach Berlin die Deutsche Wehrmacht in heftige Schlachten auf den Seelower Höhen verwickelten.

Dass das sowjetische Militär um die Jahreswende 44/45 so schnell auf die deutsche Grenze vorrücken und fast ganz Ostpreußen unter Kontrolle bringen konnte, kam für die arischen Deutschen völlig überraschend, zumindest für jene, die den Siegeshymnen des staatlichen Rundfunks glaubten. Panikartige Fluchtbewegungen setzten ein, in Königsberg und anderswo.

Auch in Zäckerick war man geschockt, als in der Nacht des 30. auf den 31. Januar Panzer in das Dorf einrückten. Aber nur wenige Stunden zuvor, in einer Art unbewusster Vorahnung, hatte der letzte Zug auf der östlichen Oderseite zur Fahrt über die Saldernbrücke (heute: Europabrücke) auf die andere Seite angesetzt und viele flüchtende Bewohner mitgenommen. Dort hatte er an der nächsten Station, am Bahnhof Alt-Rüdnitz in der Zäckericker Loose, einen Stopp eingelegt. Und trotz Überfüllung weitere Menschen, die auf der Flucht waren, mitgenommen.

Was wir wissen ist, dass die Geschwister NACHER und ihre Großmutter darunter waren. Auch sie wurden von dort nach Templin nördlich von Berlin evakuiert. Und damit gerettet.

Auch diesesmal: in letzter Minute.


(JL)