Das Making-of der Süddeutschen Zeitung in Sachen Gustl MOLLATH

 Wie die beiden SZ-Redakteure, Olaf PRZYBILLA und Uwe RITZER, ihre Geschichte machten

Als der Fall Gustl Mollath am 15. Dezember 2011 im Plenum des Bayerischen Landtags verhandelt wurde, fiel das Ergebnis nicht sehr ermutigend aus für den damals schon seit mehr als fünf Jahren in die Psychiatrie zwangseingewiesenen Maschinenbauer aus Nürnberg. Report Mainz hatten die Debatte angestoßen, ihr Beitrag hatte den Fall erstmals einer bundesweiten Öffentlichkeit vorgestellt und auch in den Nürnberger Nachrichten war bereits über die Causa berichtet worden. Sitzt da etwa einer seit Jahren gegen seinen Willen in diversen geschlossenen Anstalten in Bayern, weil er unbequeme Wahrheiten über Schwarzgeldgeschäfte beim Namen genannt hatte?

Dem Landtag war das an diesem Tag und dieser Sitzung offenkundig deutlich zu viel Verschwörungstheorie. Nicht nur Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU) wehrte sich vehement, auch die Staatsanwaltschaft Nürnberg verwahrte sich scharf gegen diese „Unterstellung“. Mit am deutlichsten aber fiel die Kritik der SPD aus, deren Rechtsausschuss-Chef Franz Schindler es für „unmöglich“ erklärte, „wie dieser Fall hier ins Plenum gezogen“ werde. Die Argumente, die damals bekannt waren, waren offenkundig zu schwach, um einen so schweren Verdacht zu erhärten. Das Thema verschwand wieder.

Auch in den folgenden Monaten kursierte der Fall zwar noch im Internet, ein Durchbruch aber gelang nicht. Zumal die Argumente derer, die erklärten, in dem Fall sei alles mit rechtsstaatlichen Mitteln zugegangen, sehr gut zu sein schienen:

  • Da gab es ein rechtskräftiges Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth aus dem Jahr 2006.
  • Dieses Urteil war vom Bundesgerichtshof ein Jahr später bestätigt worden.
  • Die Strafvollstreckungskammern verschiedener Gerichte in Bayern hatten die Unterbringung Jahr für Jahr bestätigt.
    • Es gab auch psychiatrische Gutachten, auf die sich Ministerin und Justiz berufen konnten.
    • Und sie konnten dabei zurecht darauf verweisen, dass diese zum Teil von der „Creme de la Creme“ der Gutachterszene angefertigt worden waren.


    Und auf der anderen Seite? Stand ein Mann, der rechtskräftig für krank und gemeingefährlich erklärt - und der seit Jahren in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen worden war. Da muss man sehr gute Argumente und sehr stichhaltige Indizien dafür finden, dass an der Sache möglicherweise etwas nicht stimmt. Andernfalls bedient man als Journalist Verschwörungstheoretiker.

    Im Nürnberger Büro der Süddeutschen Zeitung war mehrfach über den Fall diskutiert worden, jeweils in Abstimmung mit der SZ-Chefredaktion. Würde tatsächlich ein hartes Indiz auftauchen, dass aus der Verschwörungstheorie Mollath einen möglichen Fall Mollath machen würden, dann würde die Redaktion einsteigen, war das Ergebnis der Debatte: Ausschließlich in diesem Fall - dann aber gegebenenfalls mit ganzer Kraft.

    Der Fall trat ein, als der Redaktion nach monatelangen Recherchen ein Sonder-Revisionsbericht der Hypo-Vereinsbank (HVB) zugespielt wurde. Am 31. Oktober 2012 begannen die beiden SZ-Journalisten Olaf Przybilla und Uwe Ritzer, den Fall umfassend zu recherchieren. Przybilla ist Redakteur im Bayernressort; Ritzer ist Wirtschaftskorrespondent und Investigativ-Reporter seines Ressorts. Am 13. November 2012 – nach Prüfung des Sonderrevisionsberichts - berichteten sie über Details aus dem Bericht. Seither sind mehr als 60 SZ-Artikel über den hochkomplexen Fall erschienen.

    Im Revisionsbericht ist der zentrale Satz der Geschichte niedergeschrieben: dass nämlich alle nachprüfbaren Behauptungen Mollaths über illegale Geldgeschäfte bei der HVB im Kern zutrafen. Das war das fehlende Puzzleteil, das aus finsteren Spekulationen einen Fall machte. Und der Dominostein, der eine ganze Reihe von Steinen zum Umfallen bringen konnte. Nur mussten diese Details erst recherchiert werden. Dass am Ende 17 Aktenordner mit Material zusammenkommen würden, konnte im Oktober 2012 noch keinem der Redakteure klar sein. Und dass die Enthüllung von Details des Revisionsberichts nur der Anfang einer sich über mehrere Monate hinziehenden Artikelserie mit immer neuen Wendungen werden würde, ebenfalls nicht.

    Der Prüfbericht, den die Revisoren 2003 angefertigt hatten, die Bank aber seither in der Registratur verschwinden ließ, war deshalb so brisant, weil Mollath im Landgerichtsurteil von 2006 ein „paranoides Gedankensystem“ nachgesagt worden war. Er sei „unkorrigierbar der Überzeugung“, eine ganze Reihe von Personen aus dem Geschäftsfeld seiner früheren Ehefrau, einer ehemaligen Mitarbeiterin der Hypo-Vereinsbank, seien in ein komplexes System von Schwarzgeldverschiebungen verwickelt. Nachdem der Bericht öffentlich war, konnte diese Form der Paranoia kaum mehr behauptet werden. Aber einen Anlass für ein Wiederaufnahmeverfahren sah weder das bayerische Justizministerium noch die Staatsanwaltschaft zu diesem Zeitpunkt. Im Gegenteil: Eine solche Möglichkeit wurde mit einem Mantra geradezu reflexartig pariert: Das Urteil ist rechtskräftig. Die Einweisung wird Jahr für Jahr überprüft. Alles ist rechtstaatlich absolut korrekt abgelaufen.

    Es ist ein heikles Feld, auf das sich Journalisten begeben, wenn sie an so einer Stelle weiterrecherchieren. Denn eine der tragenden Säulen dieses Staates ist die Annahme, dass Urteile mit sauberen rechtsstaatlichen Mitteln zustande kommen. Und dass die Überprüfung dieser Urteile der Revisionsinstanz obliegt – und nicht recherchierenden Journalisten. Und übrigens auch nicht Politikern, die darauf immer wieder hinwiesen: Gewaltenteilung bedeute, dass sich die Politik nicht in Belange der Justiz einmischen dürfte. Franz Schindler, Vorsitzender im Rechtsausschuss des Landtages, wurde nicht müde, dies zu wiederholen. Und er ist in der SPD, in der bayerischen Opposition also.

    Keine komfortable Ausgangssituation für Rechercheure: Wenn sogar die Opposition eine in der Zeitung beschriebene Affäre – für keine hält. Da braucht es einen großen Vertrauensvorschuss in der Redaktion, vor allem in der Chefredaktion. In der SZ war dieser vorhanden.

    Es bedurfte einer Menge recherchierter Details, bis von der Gewissheit, dass in so einem wichtigen Verfahren alles mit rechten Dingen zugegangen sein muss, selbst in der bayerischen Justiz nicht mehr viel übrig blieb. Nachdem Ministerium und Justiz noch im November 2012 absolut nichts von einer möglichen Wiederaufnahme wissen wollten – stellte die Staatsanwaltschaft im März 2013, fünf Monate später, sogar selbst einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens. Ein in der modernen Rechtsgeschichte des Freistaats Bayern einmaliger Vorgang.

    Der Druck war zu stark geworden, nachdem Woche für Woche neue Details ans Tageslicht kamen, die Zug um Zug dokumentierten, dass Mollath kein faires Verfahren gehabt hatte.

    Die SZ spricht mit einem Zeugen, der nicht gehört worden war. Dieser bezeugt an Eides statt ein Telefonat, das den Verdacht nahelegte, dass Mollath etwas angehängt werden sollte. Die SZ dokumentiert, dass in nahezu allen Gutachten und darauf rekurrierenden Urteilen von Strafvollstreckungskammern immer wieder auf Mollaths angeblichen Schwarzgeldwahn Bezug genommen wurde und wird. Ohne dass irgendwer überprüft hätte, ob diese möglicherweise tatsächlich zutreffen.

    Ein Strafrechtsprofessor meldet sich daraufhin zu Wort, der der bayerischen Justiz schwere Verfehlungen zum Vorwurf macht. Die bayerische Justiz reagiert empört.

    Die SZ schreibt die kuriose Geschichte eines vergessenen Zeugen auf, der eine Zahlungsaufforderung über 60 Euro zugestellt bekommen hat. Weil er angeblich einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens gestellt hat, in Wahrheit aber nur eine Aussage nachschieben wollte. Die Aussagen des Zeugen werden Monate später eine wichtige Säule im Wiederaufnahmeantrag der Staatsanwaltschaft sein.

    Auch ein Brief taucht auf, den eine am Verfahren unbeteiligte Augenzeugin an den damaligen Richter gerichtet hat. „Malträtiert und provoziert“ habe der Richter den Angeklagten, beschwert sich die Augenzeugin, obwohl der Richter doch davon ausgegangen sei, dass der Angeklagte krank ist. Zwei Zeugen bestätigen dies. Darunter auch ein am entscheidenden Landgerichtsprozess 2006 beteiligter Laienrichter, der beschreibt, dass Mollath vom Vorsitzenden Richter immer wieder das Wort abgeschnitten worden war, wenn er über die dubiosen Geschäfte seiner Frau sprechen wollte. Diese hatte ihn angezeigt wegen schwerer Körperverletzung.

    Der Laienrichter hatte am Prozess zwar mitgewirkt und hatte das Urteil – Zwangseinweisung auf unbestimmte Zeit – zwar mitgetragen. Nun aber, im Licht der neuen Erkenntnisse, distanziert er sich vom damaligen Verfahren. Der SZ-Artikel, erschienen am 24. November 2012, ist überschrieben mit dem Wort „Rechtschreiung“.

    Die Justiz wehrt sich dagegen nicht. Dafür gehen in der Redaktion zahlreiche anonyme Reaktionen aus Justizkreisen ein: Der Vorsitzende Richter, inzwischen pensioniert, sei berühmt gewesen für seine Verhandlungsführung. Geschämt habe man sich dafür.

    Am 27. November 2012 scheint die bayerischer Justiz erstmals eine Wende zu vollziehen, nachdem sich Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) in den Fall eingeschaltet hat. Mollath soll nun neu begutachtet werden. Teile der Öffentlichkeit reagieren erleichtert. Nur: Mollath lässt sich, aufgrund seiner Erfahrungen, nicht neu begutachten, jedenfalls nicht ohne dass dieses Gespräch für die Öffentlichkeit aufgezeichnet wird. Die Wende ist also nur eine scheinbare Wende.

    Darf man die Justiz für eine Wende, scheinbar zum Guten hin, kritisieren? Man darf, sind die SZ-Journalisten überzeugt: „Nürnberger Nebelkerzen“ heißt der Kommentar vom 29. November 2012. Darin wird ausgeführt, dass nur ein Wiederaufnahmeverfahren Klarheit in diesen Fall bringen kann. Nicht einfach eine Neubegutachtung. Diese sei lediglich die Vortäuschung einer Aufklärung.

    Noch ein Detail folgt, ein sehr wichtiges. Im Urteil des Jahres 2006 wurde unterstellt, Mollath habe „beliebige dritte Personen mit Schwarzgeldverschiebungen in Verbindung gebracht“. Als Beispiel genannt wurde aber lediglich eine Person. Es handelt sich um einen psychiatrischen Gutachter. Diese berichtet nun auf SZ-Anfrage, er habe sich selbst für befangen erklärt. Weil er tatsächlich sehr gut mit einer Person gekannt sei, die Mollath verdächtige, an den dubiosen Geschäften beteiligt zu sein. Beliebige dritte Personen? Das ist offenkundiger Unsinn. Unsinn in einem rechtskräftigen Urteil. Monate später wird dies im Antrag der Staatsanwaltschaft auf Wiederaufnahme des Verfahrens eine zentrale Rolle spielen.

    Die Luft wird jetzt dünn für die Justiz. Die Nürnberger Nachrichten berichten von einer Notiz, die bestätigen soll, dass der Vorsitzende Richter schon zwei Jahre vor dem Prozess bei den Steuerbehörden angerufen und Mollath dabei für nicht klar bei Verstand erklärt habe. Die SZ wird später anhand von Belegen dokumentieren, dass Mollath in Vermerken der bayerischen Steuerbehörden bereits im Jahr 2004 als „Spinner“ und „Querulant“ bezeichnet wurde. Zwei Jahre vor dem Landgerichtsurteil, ein Jahr vor dem ersten Gutachten über Mollath.

    Am 1. Dezember veranlasst Ministerin Merk die Staatsanwaltschaft, die Bedingungen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu prüfen. Mollath reagiert in einem SZ-Gespräch darauf sehr verhalten. Eine „erste Etappe“ erkennt er lediglich. Es ist jetzt Zeit, die Geschichte groß zu erzählen. Am 3. Dezember 2012 erscheint auf der Seite 3 der SZ der Text „Der verräumte Mann“.

    Bei der SZ türmen sich inzwischen Zuschriften und Reaktionen in vierstelliger Zahl. Leser wollen Details wissen, finden selbst Widersprüche in der Darstellung der Justiz, äußern tiefe Besorgnis. Ein Text widmet sich allein der Beantwortung dieser Detailfragen. Der Artikel am 8. Dezember 2012 heißt „In den Grundfesten erschüttert“. Er beschreibt unter anderem, dass Mollath allen Anlass hatte, psychisch erschüttert zu sein in den Jahren vor dem Urteil. Sein Haus wurde auf der Suche nach Schusswaffen von zwölf Beamten untersucht - nachdem seine Frau bei der Polizei angegeben hatte, Mollath habe möglicherweise Schusswaffen. Mollath ist Pazifist.

    Am 11. Dezember 2012 tritt Ministerin Merk im Bayerischen Fernsehen in einer Gesprächsrunde zum Fall Mollath auf. Der Abend läuft gut für sie. Ihr parlamentarischer Widersacher ist schlecht vorbereitet. Am 13. Dezember erscheint in der SZ ein Faktencheck. Was hat die Ministerin behauptet? Und was ist anhand der Aktenlage wahr? Merk sieht sehr schlecht dabei aus.

    Am 22. Dezember 2012 dokumentiert die SZ, wie mehrere Psychiater in der Sache Mollath Stellungnahmen und sogar Gutachten über diesen erstellt haben, ohne ihn über Jahre hinweg je untersucht zu haben. Zum Teil sogar: ohne ihn je gesehen oder gesprochen zu haben. Der Text lautet „Abgeschrieben“, er dokumentiert exemplarisch, wie Gutachter sich aufeinander verlassen. Dokumentiert werden in dem Text auch Details. Etwa dass Mollath in den ersten Wochen seiner Zwangseinweisung eine Kernseife verweigert worden war. Seine Protesthaltung (er wusch sich nicht, von ihm befürchteter Hautallergien wegen) aber in folgenden Gutachten als weiteres Indiz für seinen Wahn gewertet wurde.

    Am 15. Januar 2013 skizzieren die beiden SZ-Journalisten, wie aus dem Fall Mollath – den die bayerische Justiz noch drei Monate zuvor für nicht existent erklärt hatte – inzwischen ein Fall geworden ist, der die Justizbehörden an insgesamt sechs großen bayerischen Städten beschäftigt.

    Am 13. Februar 2013 folgt eine der wohl wichtigsten Enthüllungen in dem Fall. Die SZ skizziert die zum Teil haarsträubenden Fehler im Urteil des Jahres 2006. Ein Festnahme-Situation ist völlig falsch beschrieben, die angebliche Tat Mollaths wird an zentraler Stelle um drei Jahre falsch datiert, Behauptungen erweisen sich als falsch, das zentrale Attest wird einer Ärztin zugeschrieben, die es nicht ausgestellt hat. Fast keine Seite in diesem Urteil ist ohne Fehler. Die Nürnberger Justiz räumt daraufhin erstmals Fehler ein.

    Am 21. Februar 2013 stellt Mollaths Anwalt Gerhard Strate Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens. Er wirft dem Vorsitzenden Richter mehrere Fälle von Rechtsbeugung vor. Der Widerstand aus Justizkreisen wird jetzt noch einmal stark. Die SZ berichtet davon, wie die Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg der Regensburger Staatsanwaltschaft – die selbst einen Wiederaufnahmeantrag vorbereitet – das Auskunftsrecht gegenüber der Presse entzieht. Das Pikante: Der Generalstaatsanwalt in Nürnberg, der jetzt selbst sprechen will, hatte die Causa Mollath schon acht Jahre zuvor auf dem Tisch, als Amtsgerichtspräsident. Ernstgenommen wurden Mollaths Eingaben und Anzeigen damals nicht.

    Am 2. März 2013 weist die SZ dem Präsidenten des Landesamtes für Steuern, Roland Jüptner, nach, den Landtag zwei Tage zuvor nicht mit der Wahrheit bedient zu haben. Jüptner hatte vor den Abgeordneten den Eindruck vermittelt, es gebe keinen Aktenvermerk, der ein Gespräch des Vorsitzenden Richters mit Steuerfahndern dokumentiere. Die SZ dokumentiert daraufhin mit Details aus den Akten, dass in der Steuerbehörde sogar mehrere Vermerke gemacht wurden über das Gespräch, das angeblich nie stattgefunden hatte.

    Jüptner muss daraufhin wieder vor dem Landtag antreten. Er entschuldigt sich für seine falsche Darstellung. Nachdem es in der Zeitung gestanden habe, dürfe er es nun auch öffentlich sagen, argumentiert er: Ja, es habe diese Vermerke gegeben.

    Am 18. März beantragt die Staatsanwaltschaft Regensburg selbst die Wiederaufnahme des Verfahrens. Ein fünf Monate zuvor völlig undenkbarer Vorgang. Mollath ist inzwischen sieben Jahre gegen seinen Willen in der Psychiatrie eingesperrt.