Gutachter und Experten: Anerkannte, Selbsternannte und Verkannte

Der nachfolgende Text ist als Kapitel 4.5 diesem Buch entnommen: Johannes LUDWIG (2014): Investigatives Recherchieren, zu dem die Website www.investigativ.org gehört. Das Buch gibt es derzeit in der 3. Auflage und hatte bis dato einen etwas anderen Titel: Investigativer Journalismus.

Wenn Sie daraus zitieren wollen, müssen Sie das in korrekter Weise machen: unter Angabe des Autors, Buchtitel und der hiesigen Internetquelle (Link).


Vorbemerkung

Die Wissensproduktion steigt weltweit. Monatlich erscheinen allein rund 10.000 wissenschaftliche Fachzeitschriften, in denen ein Großteil dieses neuen Wissens gebündelt, kommuniziert und diskutiert wird. ›Normale‹ Fachjournale u. ä. sind dabei noch nicht mitgezählt. Täglich betrachtet sind es etwa 20.000 neue Publikationen, die das weltweite Wissen anreichern (wollen). Die Hälfte davon entfällt auf die Bereiche Medizin und Biowissenschaften.

Dass darüber geredet bzw. geschrieben wird, dass neue Erkenntnisse auf wissenschaftlichen Foren und Konferenzen vorgestellt, hinterfragt und weiterentwickelt werden, dass dies oftmals auch in langjährigen Diskussionen geschieht, macht klar, dass ein bestimmter Stand an (fachlicher, wissenschaftlicher oder sonstiger) Erkenntnis selten den Endstand allen Wissens verkörpert. Da immer mehr Lebens- und Arbeitsbereiche ineinander übergreifen und (sehr) selten jemand mehr als einen Bereich vollständig überblicken kann, ist dies die Stunde der Experten. Deren Bedeutung wächst parallel zur wahrgenommenen Komplexität und Unüberschaubarkeit fremder Wissens- und Erkenntnisbereiche. Man ist dabei nicht nur auf das Know-how angewiesen, sondern auch auf dessen Verlässlichkeit.

Für Recherchen sind Experten als direkte Helfer aus mehreren Gründen oft unverzichtbar. Z. B. bei der Suche nach (spezifischen) Informationen als auch deren Bewertung. Oder beim Verifizieren selbst recherchierter Fakten. Und insbesondere bei der Frage, was man aus bestimmten Informationen schlussfolgern kann und was nicht (mehr).

Geraten Experten indirekt ins Blickfeld von Recherchen, tauchen also Experten als Träger der Deutungshoheit – etwa zu bestimmten Themen und Fragen – auf, gilt es, deren Funktion(en) und Interessen kritisch zu hinterfragen. Denn so wie man selbst derlei Fachleute als Informations- und Ratgeber benötigt, so schalten sich andere Experten oft auch als Kommunikationsvermittler erwünschter Informationen und Interpretationen ein, die man lancieren möchte. Etwa bei Gerichten zur Klärung außerjuristischer Fragen, die aber justitiabel gemacht werden sollen oder müssen. Oder zur besseren Durchsetzung bestimmter Sichtweisen von Sachverhalten, beispielsweise im politischen Entscheidungsprozess.

In diesem Kapitelabschnitt soll es darum gehen, Kriterien für Expertentum darzustellen, anhand derer jeder selbst beurteilen kann, ob und was man von einem Experten erwarten kann. Und wie das einem weiterhelfen könnte. Denn »Experte« oder »Gutachter« sind keine geschützten Markenbegriffe. Und so gibt es allgemein anerkannte Spezialisten und Selbsternannte. Und sehr viele Unerkannte, die nicht im Fokus der Medien und der Öffentlichkeit stehen, die aber oft sehr viel mehr zu sagen hätten. Wenn man sie denn fragen würde.

Kriterium 1: akademische Grade und Titel

Wer etwas auf sich hält, bringt dies oft mit akademischen und sonstigen Titeln zum Ausdruck. Sofern man solches vorweisen kann. Jene, die über keinerlei Titel verfügen, wissen meist Wege, wie man sich derlei beschaffen kann. Die Titelgläubigkeit ist mancherorts groß – obwohl Titel zunächst nur eine Kennzeichnung sind, für die man unterschiedliche Vorleistungen erbringen muss: wissenschaftliche Meriten (akademische Grade) oder auch Geld (»Honorarkonsul«). Folgende Informationen sind für eine Einschätzung nützlich:

Eine (wissenschaftliche) Dissertation (identisch mit Promotion) führt zum Grad eines »Dr.«, der zum regulären Bestandteil des Namens wird, wenn man sich das so im Ausweis eintragen lässt. Vorleistung: Eine eigenständige wiss. Arbeit größeren Umfangs bzw. eine eigenständige wiss. Leistung, die von einem Hochschullehrergremium auch abgenommen werden muss. Davon zu unterscheiden ist der Titel »Dr. h.c.«, was bedeutet: Doktor »honoris causa« - eine Auszeichnung, die von Universitäten ehrenhalber verliehen werden kann, wenn man meint, jemandem stünde eine solche ›Auszeichnung‹ - aus welchen Gründen auch immer – zu.

So hatte beispielsweise die Universität Hamburg im Jahr 2004 geplant, den russischen Staatspräsidenten Wladimir PUTIN mit einem »Dr. h.c.« zu beglücken. Ein Jahr zuvor hatte Bundeskanzler Gerhard SCHRÖDER bei einem Besuch in PUTINs Heimatstadt St. Petersburg eine solche Weihung erfahren. Anlässlich des Gegenbesuchs wollte man nun Gleiches tun. Indes die Verleihung der Doktorwürde kam nicht zustande – knapp 70 von rund 700 Professoren hatten schriftlich dagegen protestiert, Studentenschaft und Menschenrechtsorganisationen sowieso. So musste der geladene Staatspräsident – wissenschaftlich »honoris causa« ungekrönt – wieder nach Hause reisen.  

Von Disziplin zu Disziplin sind die Anforderungen sehr unterschiedlich. Ein »Dr. med.« beispielsweise entspricht in anderen Fächern einer leicht ausgebauten Bachelorarbeit und dies ist im Medizinischen die Regel. Ein Doktortitel im Fach Physik, und das an einer der führenden Eliteuniversitäten, gehört zum anspruchsvollsten und schwierigsten, was man sich redlich erarbeiten kann.

Die Ansprüche an Doktorarbeiten haben sich aber auch im Lauf der Zeit geändert, sprich: sind gestiegen. Vielen ist in lebhafter Erinnerung die Posse um die Promotion von »Dr. Helmut KOHL« aus dem Jahre 1958. Kaum war jener zum Bundeskanzler gekürt, setzte in den Bibliotheken ein ›run‹ auf seine geschichtliche Dissertation von (immerhin) 171 Seiten ein. Seltsamerweise waren die ganz plötzlich aus den Regalen fast aller Bibliotheken verschwunden – sie war einfach nicht mehr auffindbar. Bzw. rechtzeitig im ›Giftschrank‹ verschwunden.

Ähnlich gravierende (Niveau-)Unterschiede gibt es vielfach zwischen Dissertationen »West« und «Ost«. Insbesondere wenn sie an Hochschulen mit entsprechendem politischem Einschlag entstanden waren.

Zusammengefasst: Promotion ist nicht gleich Promotion. Die Diskussionen der letzten Jahre um Plagiate in unterschiedlichen Graden sind nur ein Beleg mehr dafür.

Recherchehinweise: In jeder Dissertation muss der Doktorand einen Lebenslauf abbilden. Dem lassen sich oft aufschlussreiche Informationen entnehmen. Davon abgesehen, dass das Thema und der Name der Hochschule, wo die Promotion abgenommen wurde, weitere Hinweise offenlegen. Und eine Promotion muss öffentlich zugänglich sein. Z. B. in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt/M. In den (Haupt)Bibliothek der entsprechenden Hochschule sowieso. Letzter Hinweis: In den USA entspricht dem deutschen Doktorgrad übrigens der »Ph.D.«   

Nicht minder beliebt und begehrt sind Professorentitel. Auch hier hat sich längst eine erhebliche Grauzone entwickelt.

»Professor« steht – eigentlich – für eine Tätigkeitsbezeichnung. Der Titel besagt in vielen europäischen Ländern, dass jemand unterrichtet. Z. B. Studenten. Manchmal auch Schüler, die noch nicht die »Hochschulreife« besitzen. Hierzulande wird der »Prof.« mehr als Titel wahrgenommen, auch wenn der – im Gegensatz zum Doktorgrad – nicht zum Bestandteil des standesamtlich registrierten Namens werden kann.

»Prof« kann man auch nicht einfach so werden, jedenfalls nicht im Normalfall. An Hochschulen (Universitäten, Fachhochschulen) wird man dazu berufen. Dem geht allerdings ein langwieriges, oft auch langjähriges Bewerbungs- und Berufungsverfahren voraus. Wenn eine Hochschule ein Lehr- bzw. Forschungsgebiet ausgeschrieben hat und sich viele Interessenten bewerben, werden jene, die in die engere Wahl kommen, zum »Vorsingen« geladen. Eine eigens dafür zusammengesetzte Berufungskommission muss dann eine Auswahl und ein Ranking treffen und letztlich ist es das zuständige Ministerium, das die offizielle Berufung ausspricht und im Zweifel auch die endgültige Auswahl treffen kann.

An Universitäten müssen »Profs« in der Regel immer noch eine »Habilitation« vorweisen können. Dies ist – ähnlich wie die Promotion – eine zweite langjährige wissenschaftliche Arbeit. Wird sie anerkannt, geht der Kandidat in den Status eines »Privatdozenten« über (Abkürzung: »PD«), was bedeutet, er muss jetzt lange honorarfrei unterrichten – bis er eine Professur ergattern konnte. Neuerdings führen einige Universitäten sogenannte Juniorprofessuren ein, die in der Regel zeitlich befristet sind und die auf diesen (eigentlich überflüssigen) Zwischenschritt des »PD« verzichten. Den gibt es ohnehin nur in Deutschland. Da sich solche Hochschulkarrieren meist über viele Jahre hinweg erstrecken, (3 bis 5 Jahre Assistentenzeit + Promotion; mehrere Jahre zur Erlangung der »Habil« und anschließender Wartestand als »PD«) liegt das Einstiegsalter von Universitätsprofessoren meist bei weit über 30 Jahren. Bedeutet: Über Praxiserfahrung im nicht-universitären Bereich verfügen Uni-Profs in der Regel nicht.  

Dies ist ganz anders bei Profs. an Fachhochschulen. Hier werden (Fach)Leute aus der Praxis des Arbeitslebens berufen. Denn das gesamte Studium und dessen Lehrinhalte sind an einer »FH« - bzw. wie es inzwischen weltläufiger ausgedrückt wird: an einer »University of Applied Sciences« - auf unmittelbare Praxisorientierung hin ausgerichtet. Entsprechend werden auch die Anforderungen an die Qualifikationen anders gesetzt: v. a. auf die Lehre. Deswegen hält ein FH-Prof rund dreimal so viel Vorlesungen im Jahr (»LVS« = Lehrverpflichtungsstunden) wie ein Uni-Prof, der ja v. a. auch forschen soll (bzw. will).

In der Regel ist man als Professor verbeamtet: lebenslang. Bedeutet in schlechtesten Fall. Es gibt zwar eine Eingangskontrolle in diese Profession, aber keinerlei ›Qualitätskontrollen‹ mehr danach. Wenn jemand nicht (mehr) am wissenschaftlichen Diskurs teilnimmt und hierüber in seiner Reputation bewertet wird, können Profs schnell in irreale (Lebens)Welten abgleiten. Einen Arbeitsvertrag, der inhaltliche oder sonstige (Leistungs- oder Arbeits)Vorgaben machen würde, kennen Professoren nicht: Profs erhalten (nur) eine »Berufungsurkunde«. Und: »Forschung und Lehre« sind hierzulande »frei«. Und dies sogar grundgesetzlich geschützt. Niemand kann einem Professor hineinreden. Es ist einer der freiesten Berufe überhaupt (ähnlich dem des Richters).

Neben diesen hauptamtlich arbeitenden Professoren, die auch Bachelor- und Masterarbeiten betreuen (müssen), gibt es eine weitere Kategorie: die »Honorarprofessoren«. Sie machen diesen Job zu ihrem sonstigen Beruf nebenher, sprich gegen (kleines) Honorar. Um das Finanzielle geht es dabei überhaupt nicht, aber um die Ehre und insbesondere um den Titel. Denn im Gegensatz zum Doktor »honoris causa« braucht die Professorenfunktion als Nebenjob nicht extra ausgewiesen werden. Wegen der Inflationierung solcher (nebenberuflichen) Titel und um sich klar abgrenzen zu können, bezeichnen sich Profs an Universitäten seit längerem als »Universitätsprofessor«.

Dies ist verständlich, denn zu einem (Honorar)»Prof.«-Titel, mit dem man sich zu den diversesten Zwecken sowie berufs- als auch einkommensfördernd schmücken kann, kommt man vergleichsweise einfach. Will etwa ein forschendes Chemie- oder Pharmaunternehmen seinen Forschungschef, der nur über einen Doktorgrad verfügt, auf internationalen Kongressen imagemäßig besser platzieren, so macht es einer Hochschule folgendes Angebot: jährliche Bezuschussung eines Fachbereichs oder Instituts mit Geld gegen Gewährung bzw. Einrichtung einer Honorarprofessur. Der dazu Gekürte hält dann in der Semesterwoche mal schnell eine eineinhalbstündige Vorlesung oder macht dies gleich nur ein- oder zweimal in Form einer Blockveranstaltung an einem Freitagnachmittag im ganzen Semester.

Ähnlicher Fall: Wenn Intendanten (oder auch Abteilungsleiter) eines öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders zum Honorarprofessor ›aufsteigen‹. Die fragliche Hochschule rekurriert dann auf irgendeinen spezifischen Zusatznutzen aus diesem Gegenleistungsgeschäft. Gleiches gilt für Industriemanager, Bankenbosse und andere.

Ob damit eine sonderliche Qualitätsverbesserung der Lehre verbunden ist, wäre dann die zweite zu recherchierende Frage, nachdem zunächst die beiderseitigen Leistungen transparent offengelegt worden sind. Und nur wenn Honorarprofessoren ihre Aufgabe wirklich ernst nehmen (was durchaus vorkommt), haben Studierende einen Nutzen davon. Noch seltener wird einem (Honorar)Professor der Titel wieder aberkannt, wenn sich die verleihende Hochschule in ihren Erwartungen getäuscht sieht.

An künstlerischen Ausbildungsstätten, beispielsweise Hochschulen oder auch Universitäten für Bildende Künste etc., sind »Dr.«-Titel selten, weil diese Bezeichnung wissenschaftlichen Fertigkeiten vorbehalten bleibt.  

Recherchehinweise: Informationen zum Lebenslauf publiziert praktisch jeder »Professor« auf seiner Website. Sonstige Informationen, manchmal kürzer, finden sich oft in den Kurzbiographien der Veröffentlichungen. Und in jeder Dissertation ist ein Lebenslauf Pflicht. Da der Kandidat zu diesem Zeitpunkt erst am Beginn seiner (wiss.) Karriere steht, beziehen sich diese Informationen vor allem auf die Zeit zwischen Schule und Hochschule, enthalten also darüber sehr viel mehr Details als in allen späteren Angaben. Da derlei Angaben selbstgewählte Informationen darstellen, kommt grundsätzlich auch der jeweilige Fachschaftsrat als Auskunfts- bzw. Hinweisgeber in Frage: jene Institution, die an einem Fachbereich oder Department die Studentenschaft vertritt.   

Kriterium 2: formale versus fachliche Qualifikation(en)

»Formal« steht für Papier. Konkret für eine schriftliche Bestätigung, dass jemand einen bestimmten Berufstitel oder akademischen Grad (z. B. Dipl. Kfm.) führen darf, eine spezifische Ausbildung hinter sich gebracht und dafür irgendwelche Noten bekommen hat, und so weiter. Mehr zunächst aber auch nicht. Ob die qualitative Bewertung in Noten dem tatsächlichen Know-how entspricht, das die Note zu verheißen scheint, oder ob eine sonstige formale Qualifikation der Realität entspricht, ist im Zweifel eine andere Frage. Genau dies gilt es bei der Suche nach oder einer Einschätzung von Experten zu bedenken. Von Titeln, Orden und sonstigen Aushängeschildern sollte man sich nicht blenden lassen, weil dies sehr schnell den Blick verstellen kann. Dazu finden sich Überlegungen im Kap. 2.2.

In den USA oder auch Australien beispielsweise kommt es weniger auf Titelei und sonstige Formalnachweise an als darauf, was jemand wirklich ›drauf hat‹. In Deutschland ist es eher umgekehrt: Hier zählt in erster Linie oft das Formale. Im öffentlichen Dienst etwa kann man ohne die dazu notwendigen Formalqualifikationen gar keine Karriere machen. Es dominieren hierzulande immer noch die formalen (Ordnungs-)Strukturen.

Kriterium 3: Leistungsnachweise eines Experten

Im wissenschaftlichen Bereich zählt als Nachweis für die wiss. Reputation vor allem das, was jemand veröffentlicht hat, konkret seine Publikationsliste. Aus der geht hervor, mit was sich jemand beschäftigt und in welcher Art und Weise er das tut. Beispielsweise, welcher (wiss. Glaubens-)Richtung er sich verschrieben hat. Wer die fachspezifischen Codes und die meist z. T. nicht sehr flüssig-elegant geschriebenen Konvolute zu lesen und zu verstehen im Stande ist, kann sich vergleichsweise schnell ein eigenes Bild machen.

Unterscheiden muss man allerdings Qualität und Quantität. Wer mehr Grundlagenforschung betreibt oder zu den Entwicklern von überzeugenden Erklärungsansätzen oder Theorien gehört, schreibt mengenmäßig weniger, kann also eine nur eher kleinere Literaturliste vorweisen, als wer auf der Welle des Mainstreams reitet und sich ganz bewusst ständig zu Wort melden müssen meint oder dies so machen möchte – z. B. aus Gründen der Karriere. »Publish or Perish« nennt man dieses System: Wer nicht ständig oder genug von sich reden macht, geht zwar nicht unter, kommt aber nicht weiter. Jedenfalls nicht sehr viel weiter nach oben, etwa auf anerkannte und begehrte, weil mit viel Ressourcen ausgestattete Lehrstühle.

Wichtig zu wissen ist auch: Ganze Buchveröffentlichungen (Monogra-phien) oder Buchbeiträge (Sammelband) gelten im wiss. Ranking weniger als Beiträge in ausgewiesenen Fachzeitschriften, die ein (Peer-)Review-Verfahren vorgeschaltet haben: Ein eingereichter Aufsatz wird – anonymisiert – von anderen Fachkollegen auf Relevanz, Neuigkeits- und/oder Erkenntniswert geprüft, ohne dass der Einreicher wiederum erfährt, wer seine eingereichte Publikation begutachtet hat. Mit diesem Verfahren will man mehr Neutralität und sachliche Richtigkeit gewährleisten. Dies funktioniert auch weitestgehend. Was nicht ausschließt, dass es einigen wenigen immer wieder gelingt, zu täuschen. Selbst die großen internationalen Fachjournale wie etwa »nature« oder »science« sind vor solchen Machenschaften nicht gefeit (Beispiele: Friedhelm HERMANN/Marion BRACH, Jan Hendrik SCHÖN, Shinichi FUJIMURA, Woo Suk HWANG u. a. m.). Wer mehr über die Anfälligkeit dieses Systems wissen möchte, dem sei das Buch des Rechtsprofessors Volker RIEBLE empfohlen: „Das Wissenschaftsplagiat – Vom Versagen eines Systems“, 2010 erschienen.

Kommen solche Betrügereien eher selten vor, so sind sogenannte Zitierkartelle weit häufiger. Eine eingespielte Community versucht sich auf diese Weise gegenseitig zu unterstützen. Wer da nicht ›Mitglied‹ ist oder mitmacht, egal aus welchem Grund, wird schnell zum Außenseiter und rutscht in der fachlichen, meist aber auch medialen und öffentlichen Wahrnehmung nach unten. Dies betrifft vor allem jene, die abseits des (karrierefördernden) Mainstreams forschen und lehren. Und deshalb oft eine etwas andere und/oder kritischere Sicht auf bestimmte Dinge haben.

Was im Wissenschaftsbereich die Publikationsliste ist, entspricht bei Filmemachern der Filmografie, bei Künstlern den Werken, technischen Forschern den Patenten usw.

Recherchehinweise: Viele »Experten«, insbesondere Freie, unterhalten eigene Websites: Da findet sich oft mehr als man im günstigsten Fall zu erwarten hofft. Sonst geben auch einschlägige (Fach)Datenbanken Hinweise auf Aktivitäten, bisherige Tätigkeiten und sonstige Veröffentlichungen. In manchen Fällen sind Gutachter bestimmten standesrechtlichen Vertretungen angeschlossen, bei denen man zwar selten an deren Register herankommt, wo man sich aber – mit entsprechender Legende – Kollegen nennen lassen kann, die im Einzelfall bei bestimmten (strittigen) Fragen entweder einer anderen ›Glaubensrichtung‹ angehören oder die ehern als ›Außenseiter‹ gelten. Das Gutachterwesen ist zu breit, als dass man allgemeingültige Hinweise für alle Situationen geben könnte. Im Zweifel muss man das Internet mit all seinen vielfältigen Recherchemöglichkeiten bemühen. 

Kriterium 4: Akzeptanz und Stellung in der Hierarchie

Schon wegen der unterschiedlichen Gewichtung und Handhabung von formalen versus (tatsächlich vorhandenen) fachlichen Qualifikationen können bzw. müssen Kriterien wie das Standing bzw. die Akzeptanz innerhalb eines Systems sowie die hierarchische Stellung darin nicht immer ein Spiegelbild der fachlichen Realitäten sein. Dies sollte man im Hinterkopf behalten.

Es gibt eine Vielzahl an systembildenden Strukturen, die dafür ursächlich sind: Clans, Netzwerke und Seilschaften; »Wegloben« bzw. »Hinaufloben«; »eine Krähe kratzt der anderen kein Auge aus« und anderes mehr. Alle Optionen aufzuführen würde an dieser Stelle zu weit führen – der Hinweis auf derlei Phänomene ist ausreichend, um den kritischen Blick bei der Expertensuche oder -bewertung zu schärfen. Gleiches gilt für das Image auch außerhalb eines Systems bzw. für die Akzeptanz in der Öffentlichkeit oder den vorgeschalteten Medien.

Eine Besonderheit stellen »Spinner« dar, wie man dies neuerdings auch in der Managementtheorie benennt: Menschen, die Ideen haben und diese auch äußern, die bei allen anderen als »verrückt« oder utopisch oder einfach als undurchführbar gelten. Aus der Innovationspraxis weiß man aber längst, dass Fortschritt v. a. auch deswegen zustande kommt, dass Menschen ›spinnerte‹ Ideen haben und diesen dann so lange nachhängen bzw. diese so lange umzusetzen versuchen, bis sie funktionieren. Wer nicht alles in Frage stellen kann, kommt selten auf neue Wege. »Querdenker« sind so gesehen unverzichtbare Menschen.

Ähnliches gilt für sogenannte Quereinsteiger. Sie zeichnen sich oft dadurch aus, dass sie (noch) nicht ›betriebsblind‹ sind und ihr Denken noch nicht von eingefahrenen Routinen geprägt ist.

Allerdings: Für etablierte Wissens- und Bedenkenträger stellen nicht nur »Spinner« und »Querdenker«, sondern überhaupt alle, die herausragend, sprich besser als der Durchschnitt sind, eine ernste Bedrohung dar. Aus diesem Grund werden solche Experten oft gemieden oder totgeschwiegen. Ein Bekanntheitsgrad sagt daher erst einmal wenig über das dahinter stehende Expertentum aus. Es gibt Fälle, wo allgemeine Bekanntheit, fachliche Reputation und Know-how Hand in Hand gehen, und solche, wo es zu Abweichungen kommen kann.

Recherchehinweise: Auf bekannte Namen, etwa als Interviewpartner zurückzugreifen, macht natürlich weniger Arbeit als unerkannte Spezialisten zu suchen. Aber ›schräge Vögel‹, selbst wenn sie sich hinterher als ›schräg‹ entpuppen, haben oft für investigative Recherchen die interessanteren Details und Informationen auf Lager, die man sonst nicht erfährt. Man sollte sie aber – sicherheitshalber – danach gegenchecken bzw. verifizieren.    

Kriterium 5: Auszeichnungen und Preise

Einen Nobelpreis zu erhalten gilt wohl als die höchste Auszeichnung auf Erden, zumindest wenn es um die wissenschaftlichen Meriten geht. Ein Blick indes auf die Empfänger des Friedensnobelpreises macht manchmal klar, dass es auch um ganz andere Aspekte gehen kann.

Dies ist im Prinzip auch bei anderen Preisverleihungen so. Zumindest dann, wenn Auszeichnungs- und Preissysteme vom »do ut des«-Prinzip geleitet sind. Meist ist es so, dass Mitglieder der Jury ihre Funktion auf Zeit ausüben. Und jene, die eine Auszeichnung erhalten, später irgendwann einmal in der Jury landen (können). Ob bei einem solchen System rotierender gegenseitiger Gefälligkeiten (Karussell) ausschließlich die dafür vorgesehenen Kriterien zur Anwendung kommen, kann grundsätzlich eine lohnenswerte Frage sein.

So sind derlei Auszeichnungen ebenso grundsätzlich ein relevantes Erkennungsmerkmal für ›ausgezeichnete‹ Leistungen oder Know-how. Umgekehrt bedeutet das Nichtvorhandensein solcher öffentlichkeitswirksamer Imagefaktoren nicht, dass jemand nicht auszeichnungswürdig wäre. So hat beispielsweise der eigentliche Entdecker der DNS/RNS (DANN/RNA), Erwin CHARGAFF, nicht selbst einen Nobelpreis für die bahnbrechende Erkenntnis erhalten, sondern einer seiner Schüler, James WATSON – zusammen mit Francis FRICK. CHARGAFF war vielen in den USA und auch außerhalb zu kritisch – er hatte zu oft und zu deutlich auf das Wissenschaftssystem geschimpft. Damit macht man sich unter Kollegen, die das System bilden, keine Freunde.

Das Beispiel CHARGAFF lässt sich analog auf jedes Preissystem übertragen. Schon deswegen, weil es immer bzw. oft nur einen (einzigen) Preisträger geben kann. Die potenziellen Anwärter aber sind viele.

Recherchehinweise: Um solchen Karusselleffekten auf die Spur zu kommen, erweist sich eine eigens dafür angelegte Chronologie oder Liste nützlich, in der penibel eingetragen wird, wer wann eine Auszeichnung erhalten hat und wer zum jeweiligen Zeitpunkt in der Jury saß. In einer solchen Aufstellung können sich aufschlussreiche Auffälligkeiten ergeben.

Kriterium 6: (vertretene) Interessen

Dies ist wohl der wichtigste Aspekt: Ob ein Experte auf irgendeiner Pay-roll steht und deswegen eine bestimmte Sicht der Dinge vertreten ›muss‹. Bei Lobbyisten weiß man, wie sie reden (müssen). Gutachtern und Experten jedoch hängt – manchmal immer noch – die Weihe der objektiven Unabhängigkeit an.

Die Beispiele, in denen sich Experten und Gutachter – meist nachträglich – als ›gekauft‹ entpuppen, ist schier endlos. Da Gutachter, etwa vor Gericht, selten gefragt werden, für wen sie und für welches Honorar sie tätig sind, ist es leicht, potenzielle Interessenkonflikte zu verschleiern. Genau darum aber geht es. Die Berechtigung nach Transparenz wird gerne mit dem Argument der (vermeintlichen) Privatsphäre und/oder des Datenschutzes abgewehrt. Die Forderung nach Offenlegung ist alt. Erich SCHÖNDORF, der seinerzeit als junger Staatsanwalt in Frankfurt/M. gegen die BAYER-Tochter Desowag einen der ersten großen Umweltprozesse geführt hatte (Holzschutzmittelprozess) und inzwischen Professor für Öffentliches Recht und Umweltrecht ist, hat dies 1999 in einem SPIEGEL-Essay zu Wort gebracht: »Die Lügen der Experten« (vgl. auch ansTageslicht.de/Schoendorf).    

Vertretene Interessen bzw. potenzielle Zielkonflikte herauszufinden, ist daher eines der klassischen Themenfelder für investigativ arbeitende Journalisten. Egal, ob man einen Experten/Gutachter zwecks Hilfestellung sucht oder ob man jemanden aus dieser Zunft checken möchte.

Welchen Einfluss gerade Gutachter vor Gericht besitzen, weil Richter essich gern bequem und einfach machen, zeigen unzählige Beispiele. Einer der letzten in den öffentlichen Fokus geratenen Fälle: Die Gutachter, die im Auftrag diverser Richter Gustl MOLLATH begutachtet und ihm ein »paranoides Gedankensystem« bescheinigt haben (vgl. ansTageslicht.de/Mollath).

Was man wissen muss, ist der Umstand, dass die Expertise von Gutachtern gerne als zutreffender Sachverhalt in Anspruch genommen wird (gerade vor Gericht), dass aber deren Aussagen rechtlich nicht als »Tatsachenbehauptungen« gelten, sondern als »Werturteil«. Letzteres fällt im Zweifel unter die grundgesetzlich geschützte Meinungsfreiheit und ist nur schwerlich justitiabel. Hier existiert eine enorme Diskrepanz zwischen gutachterlicher Einflussnahme und Verantwortlichkeit eines Gutachters.  

Recherchehinweise: Weil es hier um einen klassischen Bereich der Intransparenz geht, erweist sich der Rechercheaufwand regelmäßig höher. Um derlei ›Abhängigkeiten‹ bzw. Interesseneinbindungen zu entlarven, muss man meist die ganze Palette unterschiedlicher Recherchewege bemühen. Dies fängt bei klassischen Presse- und speziellen Fachdatenbanken an, geht weiter mit (Nach)Fragen in der jeweiligen Branche und insbesondere bei deren Außenseitern und endet mit der Inanspruchnahme des Informationsfreiheitsgesetzes. Z. B. bei den Expertisen von Gutachtern vor Gericht. Will man offiziell »vereidigten« Gutachtern hinterherrecherchieren, die ihre ›Vereidigung‹ in der Regel vor einer »Körperschaft des öffentlichen Rechts« ablegen mussten, so käme auch hier – potenziell – ein Auskunftsanspruch nach dem IFG in Frage, denn derlei Institutionen (z. B. Industrie- und Handelskammer, Handwerkskammer, Ärztekammer usw.) nehmen schließlich »öffentliche« Aufgaben wahr. Am ergiebigsten in solchen Fällen ist die Suche nach Betroffenen, sprich Geschädigten von derlei Expertise, als auch das Ausfindigmachen von allen, die als »Feind des Feindes« grundsätzlich zu den »friendly Sources« zählen (vgl. Kap. 3.5.2). 

Zusammenfassung aller Überlegungen

Nur aus einem Gesamtbild, konkret unter Einschluss aller Überlegungen und recherchierten Kriterien lässt sich eine schlüssige Einschätzung herleiten. Dies macht Arbeit. Die verhindert aber, dass man vordergründigen Bildern aufsitzt. Gleichzeitig eröffnet der Aufwand die Chance, mehr zu erfahren und weiterzukommen als auf den ersten Blick. Gutachter bzw. Experten zu ›überprüfen‹, die mit ihren Aussagen oft erheblichen Einfluss ausüben (können), ist eine der wichtigsten Aufgaben im investigativen Journalismus überhaupt.

(JL)