Das Making-of "Im Zweifel für den Staatsanwalt"

aufgeschrieben von Christine KRÖGER

Vorsicht, dachte ich bei mir, während ich den Informanten gegenüber verständnisvoll nickte. In diesen Milieus kursieren schließlich jede Menge Gerüchte, und manch einer macht sich hier nur allzu gerne wichtig. Welcher Bordellbetreiber, welcher Zuhälter, welcher Rocker brüstet sich nicht gerne mit „inoffiziellen“ Kontakten zu Polizei und Justiz? Ich blieb skeptisch – wenngleich mir zu denken gab, dass neben vielerlei Ungenauigkeiten, Ungereimtheiten und Widersprüchen in den Erzählungen immer wieder dieselben Namen fielen.

Dann wurde ein Informant – nicht aus dem Milieu, sondern aus dem Kreis der Ermittler – sehr konkret. Detailliert schilderte er die Affäre um Staatsanwalt Görlich (Dossier 1). Diese Affäre schien mir erstens kaum zu glauben und zweitens – wenn sie doch stimmen sollte – nicht nur als Justizaffäre, sondern auch als „Paradebeispiel“, wie geschickt organisierte Kriminelle sich Beamte in Justiz und Polizei „gefügig“ machen: Die betroffenen Beamten haben vielfach gar kein Unrechtsbewusstsein, weil sie jede kritische Distanz zu den Akteuren, sich selbst eingeschlossen, verlieren.Daher brauchen die Kriminellen diese Männer gar nicht im engen Sinne bestechen oder gar erpressen. Diese schmutzigen Deals laufen subtiler.Man kennt sich seit Jahren, begegnet sich auf Augenhöhe, „vertraut“ sich – und trifft „Absprachen“.

Ich kannte den Informanten als sachlich und zuverlässig. Er war keiner von denen, die sich gerne wichtig tun oder zu Übertreibungen neigen. Also ließ ich jetzt nicht mehr locker, sprach ihn wieder und wieder auf jene Justizaffäre an. Mehr als einmal bekam ich „Frau Kröger, Sie nerven“ oder ähnliches zu hören. Ich konterte stets scherzhaft mit Hinweisen auf meinen Berufsstand, in dem Neugier und Penetranz Informationsbedürfnis und Hartnäckigkeit heißen und als Tugenden gelten. Dann sagte der Informant mir eines Tages vollkommen überraschend und fast nebenbei, wenn ich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort sei, werde er mir die gesamten Ermittlungsakten gegen Görlich und seine mutmaßlichen Komplizen zugänglich machen.

An einem späten Samstagabend bekam ich einen ganzen Umzugskarton voller Ordner, den ich bereits am folgenden Mittag zurückgeben musste. Eine qualifizierte Auswahl der Dokumente war in so kurzer Zeit nicht möglich, kurzerhand habe ich die ganze Nacht am Kopierer verbracht und schlicht alles kopiert. In den Folgemonaten hat mich die Lektüre der insgesamt rund 3000 Seiten ungezählte Stunden gekostet und viel über die Arbeitsweise von Polizei und Justiz gelehrt.

Doch zuerst und vor allem war diese Lektüre für eine Nicht-Juristin wie mich kaum verständlich. Beamte drücken sich oft schon unabsichtlich umständlich bis unverständlich aus, nicht umsonst ist „Behördendeutsch“ laut Duden „oft abwertend“ gemeint. In diesem Fall aber kam noch erschwerend hinzu, dass die Ermittler vielfach absichtlich „verquast“ formulierten, um die wahren Sachverhalte zu verschleiern oder zumindest zu verniedlichen.

So heißt es beispielsweise an einer Stelle: „Die Angaben von Staatsanwalt Görlich sind ebenfalls nicht durchgehend glaubwürdig. Bei einer Analyse seiner Aussage fällt auf, dass er … zeitnahe Vermerke von Polizei- und Vollzugsbeamten als vorsätzlich oder fahrlässig falsch bezeichnet. (…)Dazu kommen eine Reihe von angeblichen Missverständnissen, … Diese Vielzahl von Missverständnissen oder Lügen zum Nachteil von Staatsanwalt Görlich ist nicht glaubhaft, zumal die Gegenversion in sich schlüssig ist.“ Gemeint ist offensichtlich ganz einfach: Görlich hat in seinen Vernehmungen gelogen – und seinerseits auch noch zahlreiche Polizei- und Vollzugsbeamte der Lüge bezichtigt, um die eigenen Lügen aufrecht erhalten zu können.

Den gesamten Papierwust mit Hilfe eines Anwalts durchzuarbeiten, verboten Zeit- und Kostengründe. Also las und exzerpierte ich alle Unterlagen auf mich allein gestellt mehrfach, bis ich glaubte, alles aus dem Behördendeutsch „übersetzt“ zu haben – und trotz aller Nebelkerzen durchzublicken.

Bereits wenige Wochen vor jener denkwürdigen Nacht am Kopierer hatte mich ein Rechtsanwalt angesprochen, der Rocker und andere organisierte Kriminelle vertrat. Er ist meines Erachtens einer jener Strafverteidiger, die zumindest vor sich selbst noch Recht von Unrecht unterscheiden. Wohl deshalb gab er mir manchmal Tipps, obwohl er wie jeder Verteidiger sein Geld damit verdient, auch schuldige Mandanten herauszupauken. Er kenne jemanden, der viel über Rocker, ihre Geschäfte und ihre Gewährsleute wisse, sagte er und stellte den Kontakt zu Bernd Kirchner her. Was dieser mir berichtete, erschien mir in doppelter Hinsicht kaum zu glauben: was er über die Kontakte der Rocker in die Gesellschaft erzählte (Dossier 3), aber auch, wie er sein eigenes Schicksal darstellte (Dossier 2).

Kirchner war Ende 50 und ein Mann, dem man ansah, dass er die Nacht schon oft zum Tage gemacht hatte. „Den Zuhälter würde man ihm heute noch abkaufen“, beschrieb ich ihn im zweiten Dossier. Nach mehreren konspirativen Treffen an Autobahnraststätten traute er mir so weit, dass ich seine neue Identität und Lebensumstände kennenlernen durfte.

Nach meinem Eindruck war der Mann längst an seinem Schicksal verzweifelt. Er konnte auch nach mehreren Jahren noch nicht fassen, dass er nun in aller Bescheidenheit und von Hartz IV leben musste – während Polizisten und Staatsanwälte, die ihm das eingebrockt hatten, weitgehend ungeschoren davon kamen. Allerdings hatte derselbe Mann in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur im Dienste der Polizei gestanden, sondern auch einen beachtlichen Werdegang im Milieu hingelegt. Mitsamt dem damit einhergehenden, alles andere als bescheidenen und oft auch mehr als zweifelhaften Lebensstil. Zu einer solchen Vita gehörte mehr als Intelligenz, dazu gehörte auch, clever, gewieft, wenn nicht durchtrieben zu sein und nie den eigenen Vorteil aus dem Blick zu verlieren. Diese Eigenschaften hatte Kirchner nach meinem Eindruck in all seiner Verzweiflung keineswegs verloren.

Kurzum: Ich zweifelte an seiner Glaubwürdigkeit, zumal er seine Aussagen kaum durch Dokumente belegen konnte – außer durch ungezählte Strafanzeigen, Klagschriften und Petitionen, deren Autor er leider stets selbst war. In seinen Schilderungen erwähnte er immer wieder, er sei „aus dem Verkehr gezogen“ worden, weil er als V-Mann auch über korrupte Polizisten und Staatsanwälte berichtet habe. Einer der zahlreichen Namen, die Kirchner nannte, war der des Staatsanwalts Görlich, über dessen Verfehlungen ich dank meines Aktenstudiums bereits unabhängig von Kirchner sehr genau informiert war.

In den folgenden Monaten, in denen ich Kontakt zu Kirchner hielt, wurden meine Zweifel allmählich zerstreut. Beispielsweise, weil er mich verdeckt an einem Treffen mit seinen Zeugenschützern teilnehmen ließ. So konnte ich mich davon überzeugen, dass er trotz neuer Identität tatsächlich der war, für den er sich ausgab. Schließlich gelang es mir, Polizeibeamte kennenzulernen, die Kirchners Angaben weitgehend bestätigten. Sie mussten allerdings aus Gründen des Informantenschutzes absolut anonym bleiben, doch kam ich über sie und andere Quellen an weitere Dokumente aus Kirchners aktiver Zeit als V-Mann sowie an Berichte anderer V-Leute aus demselben Milieu.

Diese Unterlagen bestätigten Kirchners Angaben, nun hatte ich für weite Teile seiner Berichte schriftliche Belege. Sollten Polizei und Staatsanwaltschaft seine Vorwürfe abstreiten, hätte ich „Butter bei die Fische“ geben können, ohne meine übrigen Informanten preisgeben zu müssen. Denn das hätte sich absolut verboten: Die Beamten unter ihnen wären wahrscheinlich ihren Job los, die Rechtsanwälte unter ihnen ihre Mandanten.

In diesen Unterlagen fand ich schließlich einen polizeiinternen Vermerk, der in meinem mühsamen Recherchepuzzle aus zweifelhaften Aussagen, verquastem Behördendeutsch und anstrengender Kontaktpflege noch fehlte. Das Papier belegte, dass die Ermittlungen gegen Staatsanwalt Görlich tatsächlich durch einen Tipp Kirchners erst angestoßen worden waren. Angeblich um ihren Spitzel zu schützen, hatten die Ermittler gegen Görlich den V-Mann aber auf keiner der 3000 Seiten auch nur mit einer Silbe erwähnt.

Endlich konnte ich die ganze Geschichte erzählen – aber dazu wollte sie erst noch geschrieben werden. Alles und alle hingen irgendwie zusammen, die Zusammenhänge waren komplex und kompliziert, es galt, wegzulassen und zu vereinfachen, und das Ganze dann auch noch in ein für eine Tageszeitung akzeptables Format zu „pressen“. Bei aller Vereinfachung mussten die Texte presserechtlich absolut unangreifbar bleiben. Denn die Geschichte kritisiert auch und vor allem Juristen, und diese würden ihr daher wohl besondere „Aufmerksamkeit“ schenken. Außerdem musste ich noch bedenken, was ich wie verwerten konnte, ohne dass die Beschuldigten bzw. ihre Behörden Rückschlüsse auf konkrete Informanten ziehen konnten.

Chefredaktion und Verlagsleitung legten der Veröffentlichung zu keinem Zeitpunkt Steine in den Weg, was ich angesichts des hohen Rechercheaufwandes und vor allem des hohen Prozessrisikos in einem Regionalzeitungsverlag für ebenso ungewöhnlich wie vorbildlich halte. Dennoch fehlte es mir als auf mich allein gestellte Regionalzeitungsredakteurin nicht nur an Erfahrung mit derlei Stoffen, sondern auch an zahlreichen Ressourcen: Zugang zu Archiven anderer Medien beispielsweise, professionelles Fact-Checking, kontinuierliche presserechtliche Beratung – und vor allem Austausch mit Kollegen, die Erfahrung mit vergleichbaren Recherchen haben.

Mit den mühsam zusammengetragenen und analysierten Dokumenten waren massive Vorwürfe gegen Ermittler und ihre Vorgesetzten, Rocker und ihre Helfershelfer eindeutig belegt. Die Betroffenen wurden dazu detailliert schriftlich angefragt und um Stellungnahmen gebeten. Sie haben entweder gar nicht reagiert, mich persönlich angegriffen oder sich auf rein formale Argumente zurückgezogen. Die wenigen Stellungnahmen zeugen von einem sehr oberflächlichen Umgang mit den Vorwürfen, was ich als „Arroganz der Macht“ wertete.

Zwei Tage nach der Veröffentlichung des letzten Dossiers trafen sich die Leiter der betroffenen und der ihnen vorgesetzten Justizbehörden, namentlich der Staatsanwaltschaften Hannover, Verden, Oldenburg und der Generalstaatsanwaltschaft Celle, nebst ihren Stellvertretern und Pressesprechern inoffiziell zum Mittagessen. Sie stellten fest, dass „man da presserechtlich wohl nicht gegen an komme“, berichtete mir ein Informant, außerdem würden presserechtliche Verfahren die Gefahr weiterer Berichte bergen. Daher bleibe nur, der Veröffentlichung eine eigene Pressemitteilung entgegenzusetzen, möglichst durch die vorgesetzte Behörde, die Generalstaatsanwaltschaft, sowie sich beim Deutschen Presserat zu beschweren.

Meines Erachtens bezeichnenderweise war bei jenem Mittagessen der hauptbeschuldigte Staatsanwalt Görlich weder anwesend noch eingeladen. Mein Informant antwortete auf meine Frage, warum das so war: „Mit dem hätte sich doch keiner an einen Tisch gesetzt.“ Betrachtet man allerdings das Ergebnis jenes Treffens schlägt offensichtlich der „Korpsgeist“ jedes doch noch vorhandene Unrechtsbewusstsein.

Tatsächlich folgten eine Pressemitteilung der Generalstaatsanwaltschaft, in der ich persönlich angegriffen wurde sowie eine Beschwerde der Polizeidirektion Hannover beim Presserat, die der Presserat als unbegründet ablehnte. Weder die beschuldigten Behörden noch irgendein anderer Protagonist – vom Rockeranführer über Rechtsanwälte bis zu Firmen – leiteten juristische Schritte gegen den Weser-Kurier oder mich persönlich ein.

 

Dieses Making-of ist zuerst erschienen in der Zeitschrift  message - Internationale Zeitschrift für Journalismus Heft 3/2011 (Link führt auf das Inhaltsverzeichnis der Ausgabe)