Dossier II des WESER-Kuriers vom 15.05.2010

1. Bericht: "Abgeschaltet: Abstieg und Fall eines V-Manns"

von Christine KRÖGER, WESER-Kurier 15.05.2010


Den Zuhälter würde man ihm heute noch abkaufen. Er ist schon ein merkwürdiger Typ, dieser Bernd Kirchner. Mode von Edeldesignern trägt er gerne, die Sorte, auf denen das teure Label unübersehbar prangt. Die Ränder unter seinen Augen sind dunkel, seine Stimme klingt rau und belegt. Er sieht aus wie einer, der die Nacht schon oft zum Tag gemacht hat.

Aus der Brusttasche seines Versace-Hemdes kramt er ein Päckchen Zigaretten. Roth-Händle ohne Filter. Er raucht viele davon, während er erzählt. Und er hat viel zu erzählen. Ungeheuerliche Geschichten von organisierten Kriminellen, ebenso ungeheuerliche Geschichten von einflussreichen Unternehmern, Rechtsanwälten, Staatsanwälten und Polizeibeamten.

Seine einst teuren Kleidungsstücke sind aus der Mode gekommen, heute sehen sie abgewetzt aus. 59 Jahre ist Kirchner jetzt alt, seit sechs Jahren hält ihn Hartz IV über Wasser, manchmal rückt der Geldautomat schon lange vor Monatsende nichts mehr raus. Das war nicht immer so. Vor zehn Jahren habe er mit seiner Familie eine 480-Quadratmeter-Villa in Springe nahe Hannover bewohnt, berichtet Kirchner, und in der Garage habe mal ein 500er Mercedes, mal ein Audi A8 gestanden. Als Zuhälter galt Kirchner damals, der an mehreren Bordellen in Nordrhein-Westfalen beteiligt ist. Als ein Mann, der weit über Hannovers Grenzen hinaus beste Beziehungen ins Rotlichtmilieu unterhält und immer für eine krumme Tour gut ist. Kirchner hatte damals einen kurzen Draht zu Kiezgrößen wie Frank Hanebuth oder Marcel R.*, beide Männer betrieben mehrere Großbordelle in Hannover. In Wahrheit aber waren Kirchners Bordellbeteiligungen eine Legende, tatsächlich arbeitete er für die Polizei. G06 hieß er in den Behörden.

Von 1997 bis 1999 sei er für die Abteilung Organisierte Kriminalität (OK) unterwegs gewesen, berichtet er. Die OK-Experten waren damals noch der Bezirksregierung Hannover unterstellt und hatten ihre Büros in Garbsen. Im Jahr 2000 heuerte er bei der Polizeidirektion Hannover an, die setzte G06 auf Hanebuth und dessen Rockerbande „Hell’s Angels“ an. Kirchner war die erste „Vertrauensperson“ (VP) nach dem niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetz. Das Gesetz erlaubt den Strafverfolgungsbehörden, unter mutmaßlichen organisierten Kriminellen auch ohne konkreten Verdacht zu ermitteln, um deren Organisationsstrukturen zu erhellen. G06 lieferte „uneigennützig äußerst glaubwürdige und präzise“ Informationen, urteilte ein Polizeibeamter.

„Erkenntnisse von unschätzbarem Wert“ habe die Polizei dem V-Mann zu verdanken, fasste ein anderer Beamter zusammen, als Kirchners Einsatz im Jahr 2003 nach insgesamt mehr als sechs Jahren endete. Die Polizisten waren Kirchners „VP-Führer“. Nur sie allein hielten Kontakt zu dem V-Mann, nur sie allein kannten seine genauen Lebensumstände.

Das Land Niedersachsen hat seinem Spitzenspitzel sogar Reisen nach Spanien be-zahlt. Auf Staatskosten flog G06 zweimal nach Gran Canaria. Dort ließen es sich „Hell’s Angels“ und andere Rotlichtgrößen in einem Luxushotel gutgehen – zusammen mit renommierten Geschäftsleuten und Rechtsanwälten, berichtet Kirchner. Selbst-redend seien dabei auch „geschäftliche“ Angelegenheiten besprochen worden.

„Bingo, Schiff versenkt“, habe einer seiner VP-Führer immer gesagt, wenn Kirchners Angaben zu einem Ermittlungserfolg führten. Und der Beamte habe das oft sagen können, beteuert der Ex-Spitzel. Von der Staatsanwaltschaft Hannover bekam G06 zwölf Vertraulichkeitszusagen. Diese Zusagen garantieren V-Leuten ihre Anonymität, wenn sie gegen Schwerverbrecher und organisierte Kriminelle aussagen. Zwölf seien viel mehr als die meisten VP bekommen, bestätigen Experten. Mit 30 Monaten Arbeit für die Polizeidirektion Hannover sei G06 zudem ungewöhnlich lange im Einsatz gewesen. Das Land ließ sich den V-Mann in dieser Zeit an Spesen mehr als 35000 Euro kosten. Der Aufwand hat sich gelohnt: Allein in einem der vielen erfolgreichen Verfahren, die auf Kirchners Tipps zurückgingen, wurden mehr als acht Kilogramm Kokain, zwei Kilogramm Marihuana, sieben Schusswaffen und 361500 Euro Bargeld sichergestellt.

Bis heute sind Kirchners Kontakte bei den Behörden gefragt. Auf einem alten Handy, das noch irgendwo herumlag, habe ihn noch kürzlich einer aus dem Milieu angerufen, berichtet Kirchner der Polizei. Die nimmt seinen Hinweis offenbar ernst und will Genaueres wissen. Sie trifft sich mit ihm. An einem Morgen im Mai 2009 nehmen zwei Beamte Kirchner in einer Autobahnraststätte in Empfang. Den Tisch wählen sie sorgfältig aus, und wenn eine Kellnerin den drei Männern zu nahe kommt, sagt ein Blick Kirchner, dass er jetzt einen Moment schweigen soll. Der Beamte der Polizeidirektion Hannover notiert gewissenhaft, was der ehemalige V-Mann über den Anrufer zu sagen hat. Sein Kollege vom Landeskriminalamt lehnt sich zurück und beobachtet Kirchner aufmerksam.

Kirchner ist sich heute sicher, dass nicht jeder Ermittler in Polizei oder Staatsanwaltschaft für jeden Hinweis dankbar ist – und auch nicht jeder Politiker. Einige Informationen aus dem Milieu, die er einst lieferte, „waren offensichtlich unerwünscht“. Zum Beispiel, wenn sich Zuhälter mit ihren Verbindungen zum Volkswagen-Konzern brüsteten. Bereits im Jahr 2000 berichtete G06 der Polizei, dass ein VW-Betriebsratsmitglied sich vermutlich von Bordellbetreiber R. schmieren lasse. Marcel R. mache dem Arbeitnehmervertreter wertvolle Geschenke und behaupte, im Gegenzug begehrte VW-Jobs vermitteln zu können – gegen Bares, versteht sich. Anfang 2001 meldete der Spitzel dann, Bordellbetreiber R. organisiere teure Sex-Partys für VW-Manager.

Bekanntlich flog die „VW-Affäre“ um Sex-Partys, Tarnfirmen und Schmiergeld erst Mitte 2005 auf, mehr als vier Jahre nach Kirchners Hinweisen. Vielleicht, weil die Polizei Hannover sich 2001 damit begnügt hatte, die V-Mann-Informationen als „Gerüchte“ weiterzugeben – direkt an VW. Die Behörde überließ es dann offenbar dem Unternehmen, die Vorwürfe „intern“ zu überprüfen (siehe Text unten).


VW sei eben ein Konzern, dessen Einfluss man kaum überschätzen könne, sagt Kirchner. Aber VW ist nicht nur riesengroß und mächtig, sondern gilt auch als renommiert und seriös. „Ich bin kein Spinner, obwohl mir das mancher nachweisen möchte“, beteuert der ehemalige V-Mann. Und auch das mit dem Zuhälter-Outfit will er nicht auf sich sitzen lassen. Der einstige Spitzel grinst. „Von wegen Zuhälter, die Rolex fehlt doch.“ Stimmt, vor wenigen Tagen glitzerte noch diese auffällige goldene Uhr an seinem Handgelenk. Die habe er versetzen müssen, klagt Kirchner. Hartz IV reicht ihm eben hinten und vorne nicht.

Sein tiefer Fall begann am 10. Januar 2003. Damals nahmen Polizei und Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen Kirchner auf. Am Ende wogen die Vorwürfe schwer: Vergewaltigung, Zuhälterei, Menschenhandel. Kritiker der problematischen VP-Praxis mögen sich bestätigt sehen, ist Kirchner doch nur einer von vielen Spitzeln, die in Straftaten verwickelt gewesen sein sollen. Nicht nur deshalb ist die V-Mann-Praxis umstritten: Wer das Vertrauen organisierter Krimineller genießt, gerät rasch selbst ins Zwielicht. Befürworter halten dagegen, ohne solche Informanten könne man im ohnehin wenig erfolgreichen Kampf gegen organisierte Kriminalität kapitulieren. In den abgeschotteten Netzwerken schweigen nicht nur Täter, sondern in aller Regel auch Opfer und Zeugen.

Im Fall G06 spricht vieles gegen einen Sündenfall des V-Mannes – aber vieles spricht für einen Sündenfall von Polizei und Justiz. Kirchners Informationen über den VW-Konzern waren nicht die einzigen, die nicht nur Milieuangehörige, sondern auch angesehene Bürgern betrafen: Er meldete im November 2000, dass mehrere Hannoveraner Staatsanwälte enge Kontakte ins Milieu pflegten. In dieser Affäre spielte genau jener Oberstaatsanwalt eine undurchsichtige Rolle, der rund zwei Jahre später hartnäckig gegen Kirchner zu ermitteln begann (siehe Text rechts).

Kirchners ehemalige VP-Führer beteuerten, ihr Schützling habe sich nichts zuschulden kommen lassen. Alles, was ihm die Staatsanwaltschaft jetzt ankreide, sei mit der Polizei abgesprochen und nicht strafbar gewesen. Wenn jemand deshalb dennoch auf die Anklagebank gehöre, dann nicht der Spitzel, sondern er und seine Kollegen, bezichtigte sich gar ein Beamter selbst. Doch Hannovers damaligen Polizeipräsidenten Hans-Dieter Klosa focht die vehemente Fürsprache seiner Experten nicht an: Er widerrief die Genehmigung für Kirchners VP-Einsatz. Am 13. März 2003 wurde G06 abgeschaltet.

Wegen der Ermittlungen drohte der V-Mann auch im Milieu aufzufliegen. Er kam ins Zeugenschutzprogramm – und seines VP-Lohnes entledigt in finanzielle Nöte, als er mehrmals überstürzt umziehen musste. Polizeibeamte, die mit G06 zusammengearbeitet hatten, konnten nicht fassen, was ihrem Ex-Informanten widerfuhr. Zwei von ihnen halfen ihm im November 2003 sogar privat mit Geld aus. Erstaunlicherweise hielt selbst die Staatsanwaltschaft Hannover Kirchner offenbar nach wie vor für glaubwürdig: Als ihr Oberstaatsanwalt längst gegen den mittlerweile abgeschalteten V-Mann ermittelte, gab die Anklagebehörde ihm immer weiter Vertraulichkeitszusagen – gleich in fünf verschiedenen Strafverfahren.

Mehr als eineinhalb Jahre ließ die Staatsanwaltschaft verstreichen, bevor sie im August 2004 Anklage gegen Kirchner erhob. Mitte 2005 sprach das Landgericht Hannover Kirchner schließlich vom Vorwurf der Vergewaltigung frei, das Verfahren wegen Menschenhandels und Zuhälterei stellte es wegen geringfügiger Schuld gegen eine Auflage ein.

Seit er abgeschaltet wurde, kämpft der einstige Spitzel nicht mehr gegen organisierte Kriminelle, er kämpft gegen Polizisten, Staatsanwälte, Richter und Politiker: Sie sollen ihre Zusagen nicht eingehalten haben. Ungezählte Beschwerden schreibt Kirchner an die Strafverfolgungsbehörden, reicht bei Gerichten Klagen ein, spricht örtliche Politiker an, wendet sich an den Petitionsausschuss des Landtages und an Minister in Hannover. Vergeblich. „Wenn sich ausnahmsweise mal ein Politiker dahinterklemmt“, sagt Kirchner, „pfeifen ihn seine Parteioberen sofort zurück.“

Auch Ermittler beschäftigen sich immer wieder mit den zahlreichen Vorwürfen ihres ehemaligen Informanten. Allerdings sitzen diese Ermittler meistens in genau den Ämtern, die er beschuldigt: in der Polizeidirektion und in der Staatsanwaltschaft Hannover. Tatsächlich hat die Anklagebehörde bislang sämtliche von dem ehemaligen V-Mann in eigener Sache angeschobenen Verfahren eingestellt: Frist nicht gewahrt, Vorwurf verjährt, keine Hinweise gefunden, Polizeibericht verschwunden...

Mit diesen und ähnlichen Begründungen arbeitete die Staatsanwaltschaft Hannover zuletzt am 18. März 2008 eine Reihe von Kirchners Anschuldigungen ab. Am Ende stellte sie einmal mehr fest, es gebe „keine zureichenden Anhaltspunkte für Straftaten“.

Die Staatsanwaltschaft Hannover nahm zu all dem bis Redaktionsschluss keine Stellung. Und Hannovers Polizeipräsident Uwe Binias blieb im Allgemeinen: Die Vorgänge, um die es gehe, lägen lange zurück, damals handelnde Personen hätten längst andere Positionen, die fraglichen Sachverhalte seien „zum Teil schon Gegenstand von Medienberichterstattung und einer Landtagsanfrage“ gewesen, „gar nicht zu reden von den ungezählten Eingaben des Herrn K., die alle bereits geprüft und beschieden worden“ seien. Eine Klärung im Detail wäre dem Polizeipräsidenten auch zu viel Aufwand, bedürfe es dazu doch eines „umfangreichen Aktenstudiums“. Offensichtlich uneinsichtig beschäftige Kirchner die Behörden dennoch „mit großer Ausdauer“ weiter.

Ebenfalls mit großer Ausdauer verfolgt wird allerdings ein Verfahren, das nicht ge-gen Beamte, sondern gegen den ehemaligen Spitzel angestrengt wurde. Wegen Konkursverschleppung hatte das Amtsgericht Springe Kirchner bereits am 4. Oktober 2000 zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen à 50 Mark verurteilt. Mehr als neun Jahre später, am 13. Januar 2010, schickte die Staatsanwaltschaft Hannover ihm deshalb eine „Ladung“ in die „nächstgelegene Justizvollzugsanstalt“. 51 Tage sollte er in Haft, weil er 1303,80 Euro nicht bezahlt hatte. Dieser Betrag sei von jenen 80 Tagessätzen immer noch offen. Im letzten Moment konnte Kirchner sich das Geld bei Bekannten leihen.

Dabei habe er die Warenhandelsgesellschaft in Springe 1999 korrekt abwickeln wollen, beteuert der ehemalige V-Mann. Doch die Zollfahndung Düsseldorf, für die er damals Drogenhändler ausspionierte, sah durch die Pleite ihre Ermittlungen gefährdet. Sie wies ihn an, mit der Konkursanmeldung zu warten. Die Beamten konnten am Ende 450 Kilogramm Haschisch beschlagnahmen und mehrere Männer festnehmen. Gegen ihren Informanten aber lief nun das Verfahren wegen Konkursverschleppung.

„Die Polizei wollte die Angelegenheit aus der Welt schaffen“, sagt Kirchner. Tatsächlich gab ein Polizist am 31. Oktober 2000 zu Protokoll, „vertraulich“ mit dem Amtsgericht Springe und der Staatsanwaltschaft Hannover gesprochen zu haben: Die Anklagebehörde werde den Richter bitten, das Urteil gegen G06 „wegen geringer Schuld“ aufzuheben, der Richter diesen Wunsch dann erfüllen, hielt der Beamte als Absprache fest.

Nicht nur in Sachen Konkursverschleppung haben Polizeidirektion und Staatsanwaltschaft Hannover nicht Wort gehalten, klagt Kirchner. Doch bleibt er auf die Polizeidirektion angewiesen: In deren Zeugenschutzprogramm ist er bis heute, wegen seiner neuen Identität habe er „da ja leider keine Wahl“. Dass ihm dieser Schutz nicht reiche, lautet einer seiner Vorwürfe. „Was schief gehen kann, geht schief“, weil die Polizisten vollkommen unprofessionell agierten. Nur der von ihnen verursachter Pannen wegen habe er seit dem Jahr 2003 mehrfach umziehen müssen.

An seinem derzeitigen Wohnsitz lebt er immerhin seit Mai 2007, doch Fuß gefasst hat er dort nicht. Mit einem neuen Namen sei es eben nicht getan, meint Kirchner. „Was soll ich denn sagen, wenn mich jemand fragt, was ich bis 2003 gemacht habe?“ Die Zeugenschützer hätten ihm eine Legende zugesagt, behauptet er. „Zuzug aus Belgien 2003“ sollte die lauten, weil seine Frau bereits in Belgien gearbeitet habe, das Paar daher diesen fiktiven Lebenslauf realistisch vortäuschen könne. Doch statt der dafür nötigen Unterlagen habe man ihm lediglich einen neuen Namen gegeben.

Noch im vergangenen Jahr versuchte der 59-Jährige erneut, die strittige Legende einzuklagen, doch das Landgericht Hannover winkte ab: Die Polizeidirektion hatte argumentiert, für den neuen fiktiven Lebenslauf reiche es aus, lediglich Zeugnisse und andere Dokumente auf seinen neuen Namen umschreiben zu lassen.

Zeugnisse? Welche hat Kirchner? Was hat er getrieben, bevor er Spitzel wurde? Wie kam er zu den Milieukontakten, die ihn für die Polizei als V-Mann erst interessant machten? Der Ex-Spitzel erklärt das so: Als junger Mann und gelernter Koch sei er ein Jahr zur See gefahren. Später habe er zum Groß- und Außenhandelskaufmann umgeschult und es mit 28 Jahren bereits zum Geschäftsführer einer großen Baufirma in Kiel geschafft. Ein Hörsturz aber brachte ihn 1986 lange ins Krankenhaus. Währenddessen hätten seine Vertreter Verträge abgeschlossen, „die mir schließlich das Genick brachen“. Am Ende verurteilte ihn das Amtsgericht Kiel wegen Betruges zu einer Geldstrafe.

Doch schon nach wenigen „unschönen Jahre“ sei es ihm „wieder verdammt gut gegangen“, sagt Kirchner. Dieser merkwürdige Typ, der sonst sehr gern redet, will jetzt nicht mehr recht raus mit der Sprache. Als eine Art Unternehmensberater habe er sich „durchgeschlagen“, lässt er sich schließlich entlocken, und dabei alle paar Jahre seine dicke Limousine gegen eine noch dickere austauschen können.

1996 sei er dem Jobangebot einer Anlageberatungsfirma nach Hannover gefolgt. Dort sei er dann in die Warenhandelsgesellschaft eines Verwandten eingestiegen, wegen deren verschleppten Konkurs’ er noch kürzlich ins Gefängnis sollte. Die Ehefrau der Kiezgröße Marcel R., die damals Sonderpostenmärkte betrieb, sei seine Kundin geworden. Rasch habe er sich auch mit ihrem Mann angefreundet...

Bei den ersten krummen Dingern, die er der Polizei steckte, sei es ausschließlich um Drogen gegangen, erzählt Kirchner, denn Drogen seien ein schmutziges Geschäft. Er beteuert, „aus Überzeugung“ gehandelt zu haben. Das klingt nicht nur gut, es stimmt wohl auch. In Polizeiberichten jedenfalls ist ähnliches nachzulesen: Die „Motivation der VP G06“ resultiere „aus der Tatsache, daß sie bei ihren eigenen geschäftlichen Tätigkeiten erfahren konnte, wie von bestimmten Personenkreisen unter Einbeziehung von Rechtsanwälten, Notaren und Steuerberatern gesetzlich verankerte Vorgaben erfolgreich und skrupellos umgangen werden“. Zudem habe die VP gelernt, „daß ,honorige Geschäftsleute’ ganz offensichtlich nicht davor zurückschrecken, aus Gründen der Gewinnmaximierung Geld in den organisierten Drogenhandel zu investieren“. Aus gelegentlichen Tipps Kirchners wurden regelmäßige, und schließlich heuerten die Ermittler ihn als V-Mann an.

Als gänzlich selbstlos will sich der Lebemann von einst aber doch nicht verkaufen. Neben einer Legende fordert Kirchner Geld. Geld, das ihm seiner Meinung nach zusteht. 15000 Euro bekam er von der Polizei, als er abgeschaltet wurde. Viel zu wenig, meint er – und steht auch mit dieser Meinung nicht alleine da. Seine ehemaligen VP-Führer schrieben 2003 gleich mehrere „Entlohnungsanträge“ für ihren scheidenden Informanten. Sie errechneten Beträge bis zu 75800 Euro.

Für Hannovers Polizeipräsident Binias sieht Kirchners „Sicht der Dinge kurz zusammengefasst wie folgt aus: Herr K. meint, dass er als VP extrem wertvolle Informationen geliefert hat, wofür er nicht hinreichend entlohnt wurde“. Und der Polizeichef hält dagegen: „Viele Informationen der ehemaligen VP G06 hatten für Ermittlungsvorgänge längst nicht den Nutzen, den der Betreffende anscheinend bis heute selbst annimmt.“ Über die Freigabe des Geldes entscheide „letztendlich der Polizeipräsident“ – und sein Amtsvorgänger Klosa „hatte sehr gute Gründe zu entscheiden, wie er es getan hat“.

Diese „sehr guten Gründe“ nennt Binias allerdings nicht. Er verrät auch nicht, wie sein Vorgänger Klosa zu diesen Erkenntnissen über die „VP G06“ kam: Eigentlich halten doch nur VP-Führer Kontakt zu Spitzeln wie Kirchner, und diesen Beamten waren derlei „sehr gute Gründe“ offenbar nicht bekannt. Mit der Vertraulichkeit scheint Binias es auch sehr genau zu nehmen, jedenfalls „kann und will“ er zu einzelnen Fragen „zum sensiblen Thema VP-Führung“ generell keine Auskunft geben.

Daher bleibt offen, wie diese „guten Gründe“ von Binias’ Amtsvorgänger Klosa dazu passen, dass derselbe Polizeipräsident einst Kirchners Einsatz das eine um das andere Mal verlängerte und ihm dazu noch im Schnitt mehr als 1000 Euro pro Monat allein an Spesen bewilligte.

Der Ex-Spitzel zündet sich noch eine Zigarette mehr an, doch auch die verqualmt im Aschenbecher. Kirchner hat keine Zeit. Er muss reden und schimpfen. Schimpfen auf die betrügerische Polizei, die marode Justiz, die scheinheilige Politik. Dieser Staat habe ihm jeden Glauben an Wahrheit und Gerechtigkeit genommen. Diesen Satz sagt Kirchner genauso häufig, wie er Hannovers Polizei und Justiz mit der Mafia vergleicht oder Deutschland eine Bananenrepublik schilt.

„Vor dem Hintergrund eines in Gesprächen immer wieder festzustellenden ausgeprägten Gerechtigkeitssinnes bot die V-Person den Ermittlungsbehörden die Zusammenarbeit an“, schrieben Polizisten, als Kirchner abgeschaltet wurde. Seine privaten Interessen habe G06 während seines Einsatzes vollkommen hintangestellt. Nie zuvor sei „es gelungen, eine derart fähige, professionell agierende V-Person mit einem schier unerschöpflichen Beziehungsgeflecht zu bedeutsamen und honorigen Personen aus den Bereichen Milieu und Wirtschaft zu gewinnen“.

*Name von der Redaktion geändert

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2. Bericht: "Von wegen vertraulich"

von Christine KRÖGER, WESER-Kurier, 15.05.2010

VP G06, der V-Mann Bernd Kirchner, brachte die Justizaffäre um den Hannoveraner Staatsanwalt Uwe Görlich und die Bordellbetreiberin Silke F.* ins Rollen (wir berichteten). Über diese Affäre sei er am Ende gestolpert, behauptet Kirchner. Die Staatsanwaltschaft Hannover habe ihm eine Anklage wegen Vergewaltigung, Menschenhandels und Zuhälterei angehängt, um mit ihm einen unliebsamen Informanten loszuwerden.

Das ist offenbar mehr als eine Schutzbehauptung. In internen Vermerken, die dem WESER-KURIER vorliegen, erheben Polizeibeamte ganz ähnliche Vorwürfe. Damit nicht genug: Die Chronologie der Ereignisse deutet auf ein Beziehungsgeflecht zwischen den in die Affäre involvierten Staatsanwälten hin, das den schlimmen Verdacht erhärtet.

Am 3. Oktober 2000 berichtete Kirchner der Polizei erstmals vom „Club Plaisir“*, dem Wohnungsbordell der Silke F. in Hannover. Das Etablissement sei der Konkurrenz ein Dorn im Auge, namentlich den Kiezgrößen Frank Hanebuth und Marcel R.*. Silke F. versaue die Preise, haben sie geschimpft, sagte Kirchner aus. Und dass sie ihr Bordell weiter betreiben könne, obwohl sie im Vechtaer Frauengefängnis sitze. Das ermöglichten ihr Fürsprecher in der Staatsanwaltschaft Hannover.

Am 9. November 2000 informierte die Polizei den Hannoveraner Oberstaatsanwalt Wolfgang Burmester über die heiklen Hin-weise ihres V-Mannes. Am 8. Dezember 2000 beschlossen leitende Beamte von Staatsanwaltschaft und Polizei, Burmester solle intern gegen Uwe Görlich ermitteln: Sie hatten Hinweise, dass es dieser Staatsanwalt war, der in F.s „Club Plaisir“ verkehrte. Zuweilen auch nicht alleine, sondern zusammen mit seinem Kollegen Dietmar Eisterhues. Und die Beamten vereinbarten weiter, dass „G06-Erkenntnisse aus Rechtsgütererwägungen in keinem Fall als Verfahrenseinstieg gegen Görlich genutzt werden dürfen“. Mit Rechtsgütererwägungen war vermutlich der Schutz des V-Mannes gemeint, G06 alias Bernd Kirchner sollte nicht auffliegen.

Dass ausgerechnet Oberstaatsanwalt Burmester die Vorgänge um den „Club Plaisir“ aufklären sollte, scheint fragwürdig: Er hat-te selbst damit zu schaffen. Als zuständiger Dezernent hatte er zuvor ganz offiziell der Bordellbetreiberin F. eine Vertraulichkeits-zusage für gefährdete Zeugen gegeben, die der inzwischen beschuldigte Staatsanwalt Görlich beantragt hatte. Begründet hatte Görlich den Antrag mit Ermittlungen gegen Frank Hanebuth und seine Rockerbande „Hell’s Angels“, gegen die Silke F. aussagen wollte. Auf diesem Wege war es dann aber wohl auch zum direkten Kontakt zwischen F. und Burmester gekommen. Das behauptete nicht nur F., auch eine Bedienstete der JVA Vechta bezeugte Telefonate zwischen der Bordellbetreiberin und dem Oberstaatsanwalt.

Am 14. Februar 2001 gab die Staatsanwaltschaft Hannover die Ermittlungen gegen Görlich nach Verden ab: Die Gerüchte, dass Hannoveraner Staatsanwälte ihre Hand schützend über F.s Bordell hielten, waren zu laut geworden. Auch in Verden zeigte man Verständnis für die Pikanterie der Angelegenheit, dort wurde das Verfahren am 4. Dezember 2001 eingestellt. Von Kirchner war in den Akten tatsächlich nirgends die Rede.

Kirchners Informationen aber sollten Oberstaatsanwalt Burmester und Staatsanwalt Eisterhues in Hannover nicht zum letzten Mal beschäftigt haben: Nur vier Monate nach Einstellung des Verfahrens gegen Görlich, am 4. April 2002, berichtete G06 erneut für die Strafverfolgungsbehörden Unangenehmes. Dieses Mal traf es die Polizei. In einem illegalen Wohnungsbordell im Kreis Schaumburg gehe ein Kripobeamter ein und aus. Der Polizist habe sich in eine Prostituierte verliebt und habe ihr sogar die Passwörter des Polizeicomputers verraten.

G06 hatte offenbar Recht: Am 6. August 2002 begann eine Sonderermittlungsgruppe unter Leitung der Polizeidirektion Hannover ihre Arbeit. Sie nahm nicht nur das illegale Bordell unter die Lupe, sondern auch, was der Kriminaloberkommissar Björn T.* damit zu schaffen hatte. Das Verfahren gegen T. leitete Staatsanwalt Dietmar Eisterhues. Er lud Kirchner am 6. Mai 2003 als Zeugen vor. Spätestens in dieser Vernehmung erfuhr nun auch Eisterhues mehr von Kirchner und dessen Informationen: Das also war G06, jener Spitzel, der fast zwei Jahre zuvor die Ermittlungen gegen Eisterhues’ Kollegen Görlich ins Rollen gebracht hatte. Immerhin hatte dieses Verfahren auch Eisterhues selbst in die Bredouille gebracht, weil er Görlich in den „Club Plaisir“ begleitet hatte.

Kirchner wunderte sich anschließend über die „eigenartige Befragung“. Der Staatsanwalt sei an den Vorgängen im Hannoveraner „Club Plaisir“ interessierter gewesen als an denen im Bordell im Kreis Schaumburg, um die es doch eigentlich gehen sollte. Dass Eisterhues selbst in die Affäre um den „Club Plaisir“ involviert war, wusste der Ex-V-Mann damals noch nicht. Heute ist er sich sicher, ausgehorcht worden zu sein. Während die Polizei im Kreis Schaumburg gegen ihren Kollegen T. ermittelte, geriet auch der V-Mann Kirchner in ihr Visier. Er verkehrte damals in demselben Bordell wie Björn T.. Kirchner tat das allerdings mit Wissen der wenigen Beamten, die in seine streng vertrauliche Spitzeltätigkeit eingeweiht waren. Die Ermittler im Fall T. aber gehörten nicht zu diesen Eingeweihten – und daher machte der V-Mann sich in ihren Augen verdächtig.

Am 10. Januar 2003 nahm Oberstaatsanwalt Burmester Ermittlungen gegen Kirchner auf, obwohl er mindestens seit der Affäre um den „Club Plaisir“ über den V-Mann-Job des Beschuldigten Bescheid wusste. Er warf Kirchner Zuhälterei und Menschenhandel vor. Der Spitzel habe zwei Polinnen illegal nach Deutschland gebracht und sie hier zur Prostitution gezwungen. Wegen dieser Vorwürfe schaltete die Polizeidirektion G06 am 13. März 2003 ab.

Nicht nur der Beschuldigte wurde von diesem Verdacht vollkommen überrumpelt, auch in der Polizei konnte es mancher nicht fassen. Was der Oberstaatsanwalt jetzt als Zuhälterei und Menschenhandel interpretiere, sei mit der Polizei abgesprochen gewesen, schrieb ein Beamter am 27. Juni 2003, und Kirchner habe sich damit auch keineswegs strafbar gemacht. Ein anderer Beamter nannte die Vorwürfe des Oberstaatsanwalts „absurd“ und „konstruiert“.

Am 28. Oktober 2003 vernahm Burmester mit Olga L.* schließlich eines der beiden angeblichen Opfer des Ex-V-Mannes. Die Polin war mittlerweile wieder in ihre Heimat abgeschoben worden, von dort hatte der Oberstaatsanwalt sie anreisen lassen. L. bestätigte den Verdacht gegen Kirchner. Und mehr: Sie behauptete, der Ex-V-Mann habe sie wiederholt vergewaltigt. Diese neuen schweren Vorwürfe kannte zuvor noch nicht einmal L.s Rechtsanwalt, sie überraschten ihn nach eigenem Bekunden völlig.

Am 14. Dezember 2003 wies ein Polizist auf Umstände hin, die an den Vorwürfen Zweifel aufkommen ließen. Nicht nur, dass Olga L. im fraglichen Zeitraum eine Beziehung zu Kirchner unterhielt, sie hatte sich auch bei den angeblichen Tatzeitpunkten widersprochen. Zudem sei sie nach einer früheren Vernehmung auf eigenen Wunsch zu Kirchner gebracht worden, schrieb der Beamte, sogar unmittelbar vor ihrer Abschiebung habe die Prostituierte keinerlei Vorwürfe gegen den V-Mann erhoben.

Wie der Beschuldigte selbst vermuteten die Beamten, dass die Staatsanwaltschaft mit dem Verfahren einen unbequemen Informanten aus dem Verkehr ziehen wollte: Weil Burmester ungewöhnlich indiskret ermittle, drohe ihr verdienter Ex-V-Mann aufzufliegen, warnten sie. In einem internen Polizeivermerk vom 28. November 2003 heißt es, man müsse den Oberstaatsanwalt „schnellstmöglich von seinen zweifellos unseriösen Ermittlungsmethoden abbringen“, um den ehemaligen Spitzel vor Racheakten aus dem Milieu zu schützen.

All das focht Burmester nicht an. Er legte nach mehr als eineinhalb Jahren Ermittlungen am 10. August 2004 die Anklageschrift gegen Kirchner vor. Sie war ihm offenbar tatsächlich besonders wichtig: Er verfasste sie selbst, obwohl eigentlich ein anderes Dezernat seiner Behörde solche Straftaten bearbeitete.

Vom 22. April 2005 an musste Kirchner sich wegen Vergewaltigung, Menschenhandels und Zuhälterei vor dem Landgericht Hannover verantworten. In dem Prozess trieben die Richter viel Aufwand, um Olga L. zu vernehmen, ersuchten polnische Behörden um Amtshilfe, erwogen gar einen Ortstermin in Polen. Doch die Zeugin blieb stumm. Ausgerechnet ihr Verteidiger aber berichtete von Verwandten seiner Mandantin, die angesichts der Beziehung zwischen der Prostituierten und dem Angeklagten die Vergewaltigungsvorwürfe für absurd hielten. In dem Prozess nannte Kirchner das Verfahren einen Rachefeldzug der Staatsanwaltschaft. Rache dafür, dass er einst die Ermittlungen gegen Staatsanwalt Görlich angestoßen hatte.

Die Staatsanwaltschaft Hannover wollte sich bis Redaktionsschluss zu keinem der Vorgänge weiter äußern. Auf die Anfrage des WESER-KURIER ließ sie lediglich wissen, „dass sämtliche Vorgänge sowohl in der Öffentlichkeit als auch von den für die Dienstaufsicht zuständigen Dienststellen umfassend behandelt und überprüft worden sind“. Auch Hannovers Polizeidirektion enthielt sich unter Berufung auf die Sensibilität des „Themas VP-Führung“ einer konkreten Stellungnahme.


Bereits zu Beginn seiner Ermittlungen Anfang 2003 hatte Oberstaatsanwalt Burmester Kirchner einen Deal angeboten. Ein Jahr auf Bewährung wollte der Anklagevertreter mit der Verteidigung absprechen. An einer öffentlichen Verhandlung könne dem ehemaligen V-Mann schon aus Sicherheitsgründen kaum gelegen sein, habe Burmester ihm gesagt, berichtet Kirchner. Außerdem sei der Ex-Spitzel inzwischen mittellos, ein Prozess aber teuer.

Kirchner schlug das Angebot aus. Eine kluge Entscheidung: Am 27. Juli 2005 sprach das Landgericht ihn vom Vorwurf der Vergewaltigung frei. Das Verfahren wegen Menschenhandels und Zuhälterei stellte es wegen geringfügiger Schuld gegen eine Arbeitsauflage ein.

*Name von der Redaktion geändert

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3. Bericht: "Sie können auch anders"

von Christine KRÖGER, WESER-Kurier 15.05.2010


VP G06, der V-Mann Bernd Kirchner, lieferte der Polizeidirektion Hannover bereits im November 2000 konkrete Hinweise auf die "VW-Affäre" um Sex-Partys und Schmiergeldzahlungen in Vorstand und Betriebsrat. Doch damals gab die Polizei diese Hinweise lediglich weiter – direkt an den betroffenen Volkswagen-Konzern. Von diesem fragwürdigen Umgang mit ebenso brisanten wie vertraulichen Informationen bekam die Presse im Oktober 2005 Wind. Die Berichte lösten staatsanwaltliche Ermittlungen aus, deren Ergebnisse dem WESER-KURIER jetzt vorliegen.

Diese Unterlagen dokumentieren nicht nur die merkwürdige Arbeitsweise der Polizeidirektion Hannover, sie belegen auch: Ausgerechnet in diesem Verfahren bewies dieselbe Polizeidirektion später, dass sie um einiges schärfer ermitteln kann als im Falle des mächtigen VW-Konzerns – jedenfalls gegen eigene Beamte eher niedrigen Dienstgrades: Ein ehemaliger VP-Führer handelte sich allein durch ein verbotenes Telefonat mit Kirchner ein Disziplinarverfahren ein. Der WESER-KURIER hat die Ereignisse rund um die Hinweise des ehemaligen V-Mannes auf die VW-Affäre rekonstruiert.

Am 2. November 2000 gab Kirchner den ersten Tipp: Der Bordellbetreiber Marcel R.* habe sich gebrüstet, jedermann einen der begehrten Jobs in dem Autokonzern vermitteln zu können. Jedermann, der dafür 5000 Mark zahle. Möglich mache das sein Freund „Andi“. „Andi“ hieß Andreas N.* und war damals im Betriebsrat des VW-Werks Hannover. Als Dank für die lukrative „Zusammenarbeit“ beschenke Bordellbetreiber R. den VW-Mitarbeiter und dessen Gattin mit teuren Marken-Uhren, meldete G06 weiter.

Am 9. März 2001 berichtete der V-Mann dann, der langjährige VW-Gesamtbetriebsratsvorsitzende Klaus Volkert habe Marcel R. einen Scheck über 24000 Mark für die Organisation von Sex-Partys zukommen lassen. Volkert trat im Juni 2005 – wenige Tage, bevor der Skandal bekannt wurde – von seinem Amt zurück und wurde im Februar 2008 wegen seiner Verwicklung in die Affäre zu zwei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt.

Andreas N. räumte im Oktober 2005 ein, seit Jahrzehnten mit Marcel R. befreundet zu sein. Auch besitze er die Chronometer, die der V-Mann bereits mehr als vier Jahre zuvor erwähnt hatte. Allerdings wollte er sie sich selbst zugelegt haben. Auf Anstellungen bei VW Einfluss genommen zu haben, bestritt er.

Mit dem VW-Skandal wurde 2005 auch bekannt, dass die Prostituierten, mit denen sich VW-Führungskräfte vergnügten, bevorzugt aus einem von Marcel R. betriebenen Großbordell kamen. Oft arbeiteten die Frauen in einer Braunschweiger Wohnung, die VW-Mitarbeiter eigens für solche Zwecke gemietet hatten. Marcel R.s Freund Andreas N. chauffierte die Frauen von Hannover nach Braunschweig und entlohnte sie.

Vor der Braunschweiger Staatsanwaltschaft sagte N. später aus, er habe VW-Größen wie Ex-Personalvorstand Peter Hartz, Ex-Personalmanager Klaus-Joachim Gebauer oder Ex-Betriebsratschef Klaus Volkert lediglich einen Gefallen tun wollen. Dabei sei er davon ausgegangen, diese zahlten den Spaß aus eigener Tasche.

Teure Uhren, Marcels R.s Huren – offen-bar war einiges dran an den Informationen der VP G06. Doch im Jahr 2001 begnügte sich die Polizeidirektion Hannover damit, die Tipps ihres V-Mannes als „Gerüchte“ an VW weiterzugeben. Bei VW wollte man sich dann „intern“ um die Angelegenheit kümmern. Damals hätten sich keine „Anhaltspunkte“ ergeben, „die zu Ermittlungen der internen Revision geführt hätten“, ließ der Konzern dazu verlauten, nachdem die Affäre Mitte 2005 aufgeflogen war.

G06 war zu dieser Zeit bereits mehr als zwei Jahre abgeschaltet. Doch forderte er nun seinen Sonderlohn. Der wird V-Leuten gezahlt, wenn ihre Tipps offizielle Ermittlungen nach sich ziehen. Geld bekam Kirchner keines, aber durch seine Forderung landeten seine Informationen doch noch bei der Staatsanwaltschaft Braunschweig. Dort war Andreas N. einer der in der VW-Affäre Beschuldigten, jedoch stellte die Anklagebehörde das Verfahren gegen ihn im August 2008 mangels hinreichenden Tatverdachts ein.

Kirchners Wunsch nach einem Sonderlohn machte im Oktober 2005 überdies publik, dass die Polizeidirektion Hannover dem VW-Konzern 2001 streng vertrauliche VP-Informationen gegeben hatte, um dann nichts weiter zu unternehmen. Die Staatsanwaltschaft Hannover ermittelte wegen des Verdachts der Urkundenunterdrückung gegen die mutmaßlich beteiligten Beamten. Sie konnte jedoch nichts Illegales finden. „Aus strafrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden“, nannte die Staatsanwaltschaft Hannover das Vorgehen der Polizei am 17. Juli 2006 in einem abschließenden Bericht.

Einer der VP-Führer Kirchners habe sich in Begleitung eines Kollegen zwei Mal mit einem führenden Mitarbeiter der Werkssicherheit bei VW Hannover getroffen, hatte die Anklagebehörde ermittelt. Die Polizeibeamten hätten diesen auf die Verdachtsmomente hingewiesen. Keineswegs aber seien dabei „VP-Informationen en détail weitergegeben, geschweige denn die Herkunft der Informationen oder gar die Existenz der VP offengelegt“ worden, berichtete die Staatsanwaltschaft. Derselbe VP-Führer fuhr laut staatsanwaltlichem Bericht darüber hinaus ganz alleine nach Wolfsburg und traf sich dort mit dem Sicherheitschef des Gesamtkonzerns. Auch dort wurden jedoch angeblich keine „VP-Informationen“ ausgetauscht.

Allerdings sind verdeckt arbeitende VP-Führer für gewöhnlich mit nichts anderem als mit „VP-Informationen“ befasst; auch führen Polizisten derartige Gespräche üblicherweise mit einem zweiten Beamten; überdies dürfte ein gemeiner Hauptkommissar nicht alle Tage mit Führungskräften eines Weltkonzerns zusammensitzen. Derlei Merkwürdigkeiten aber interessierten die Staatsanwaltschaft Hannover wohl nicht, wenigstens widmete sie ihnen keine einzige Zeile in ihrem 25 Seiten starken Bericht.

Mehrfach fand sich darin aber Platz, Kirchners Angaben „spekulativ“, „widersprüchlich“ und „wenig glaubwürdig“ zu nennen. Dass Kirchners VP-Führer stets Glaubwürdigkeit, Nachvollziehbarkeit und Präzision seiner Informationen gelobt hatten, schien die Staatsanwaltschaft nicht zu beeindrucken.
Einem anderen VP-Führer unterstellte sie gar „ein (außerdienstliches) Näheverhältnis“ zu dem ehemaligen V-Mann. Vielleicht war das hartnäckige Lob eben dieses Polizeibeamten für den inzwischen vielerorts in Ungnade gefallenen Ex-Spitzel ein Grund dafür, dass ihn der behördeninterne Kontrollapparat mit voller Wucht traf.

Die Staatsanwaltschaft Hannover und die Ermittlungsgruppe VW im Landeskriminalamt vernahmen den Oberkommissar am 11. Oktober 2005. Als Zeuge sollte er aussagen, wie die Polizei 2001 mit den G06-Informationen zur VW-Affäre umgegangen war. Während der Vernehmung rief der Polizist jemanden an, um einen Namen zu erfragen, der ihm gerade entfallen war. Ein aufmerksamer LKA-Beamter vermutete sofort, am anderen Ende der Leitung könne nur die ehemalige VP G06 gesessen haben.

Das hatte weitreichende Folgen. Am Tag nach der Vernehmung schrieb der Kriminalist seinen Verdacht auf. Er notierte auch, seinen Kollegen „auf die mit disziplinarischen Konsequenzen verbundene ausdrückliche Kontaktsperre zur Person Kirchner“ hingewiesen zu haben.

Diese Kontaktsperre hatte der damalige stellvertretende Polizeipräsident am 21. März 2005 verhängt: „Mit diesem Schreiben verbinde ich die Erwartung, dass Sie sich der Sensibilität der Lage bewusst sind“, mahnte er. Mit „Sensibilität der Lage“ umschrieb er vermutlich den Prozess gegen Kirchner, dem die Staatsanwaltschaft damals Vergewaltigung, Menschenhandel und Zuhälterei vorwarf (siehe Text rechts oben).

Dieses Verfahren galt 2003 als einziger Grund, den V-Mann abzuschalten, und es war am 11. Oktober 2005, dem Tag der Vernehmung des ehemaligen VP-Führers, bereits abgeschlossen: Am 25. Juli 2005 hatte das Landgericht Hannover Kirchner freigesprochen. Trotzdem galt die Kontaktsperre offensichtlich weiter.

Am 20. Oktober 2005 leitete die Polizeidirektion Hannover wegen des verdächtigen Telefonats „beamtenrechtliche Ermittlungen“ gegen ihren Mitarbeiter ein. Am 27. Oktober 2005 ordnete der Kripochef deshalb sogar an, Telefondaten auszuwerten. Auf diese Weise wurden dem Beschuldigten vier Gespräche mit Kirchner nachgewiesen, die nach Verhängen der Kontaktsperre stattgefunden hatten.

Am 6. März 2006 stand die Disziplinarstrafe fest: Sechs Monate lang soll der Oberkommissar auf 20 Prozent seiner Bezüge verzichten. Der renitente Beamte mochte sich dem Votum seiner Vorgesetzten nicht beugen. Er legte Widerspruch ein, über den bis heute nicht beschieden ist. Damit nicht genug. Inzwischen klagt er auch gegen das Kontaktverbot.

Zu all diesen Vorgängen beziehen Polizeidirektion und Staatsanwaltschaft Hannover auf Anfrage des WESER-KURIER keine Stellung. Die Staatsanwaltschaft betrachtet die Ereignisse als bereits „sowohl in der Öffentlichkeit als auch von den für die Dienstaufsicht zuständigen Stellen umfassend behandelt und überprüft“. Die Polizeidirektion „will und kann“ nicht Stellung beziehen, weil das Geschehen das „sensible Thema VP-Führung“ berührt.

*Name von der Redaktion geändert

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