Ein Koffer für den Staatsanwalt - die Reportage

Geheime Fotos aus den Zellen der RAF-Terroristen

Mehr als 30 Jahre ist es her, dass sich Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan- Carl Raspe in Stammheim umgebracht haben. Jetzt sind 400 Fotos aufgetaucht. Sie illustrieren ein umstrittenes Todesermittlungsverfahren, das womöglich wieder aufgenommen wird.

Von Markus HEFFNER und Michael OHNEWALD, Stuttgarter Zeitung, 5. August 2008


Der Koffer ist lange nicht mehr auf Reisen gewesen. Er lag in einem Keller, mehr als dreißig Jahre, bis ihn vor wenigen Tagen jemand hervorgeholt hat, der nicht ahnte, was in ihm schlummert. Das karierte Gepäckstück sollte entsorgt werden und mit ihm die vier orangefarbenen Fotoschachteln voller geheimer Bilder. Sie sind bis heute unter Verschluss gehalten worden, weil sie zu einem dunklen Kapitel bundesdeutscher Geschichte gehören. Der Koffer enthält mehr als 400 Fotos, aufgenommen in den Zellen von Stammheim am 18. Oktober 1977, dem Todestag der Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe.

Wer den Koffer öffnet, der öffnet gleichsam die schweren Stahltüren zu den Zellen im siebten Stock der Justizvollzugsanstalt Stammheim. In Zelle 716 sitzt der sterbende Jan-Carl Raspe mit ausgestreckten Beinen auf seinem Bett, mit dem Rücken lehnt er an der Wand. Ein Geschoss hat seinen Schädel durchbohrt, abgefeuert aus einer Pistole vom Typ Heckler & Koch. In Zelle 719 liegt Andreas Baader mit ausgestreckten Armen, den Mund leicht geöffnet, die Augen zur Decke gerichtet, neben der Schläfe eine Blutlache und darin eine Pistole. In Zelle 720 hängt eine Anstaltsdecke vor dem Fenster, darunter lugen zwanzig Zentimeter über dem Boden die in beige Wollsocken gekleideten Füße von Gudrun Ensslin hervor, die sich am Gitterrost mit einem Elektrokabel erhängt hat. In Zelle 725 krümmt sich Irmgard Möller, gezeichnet von Stichwunden in der Brust.

Was damals mit den führenden Köpfen der gefährlichsten terroristischen Vereinigung im Deutschland der Nachkriegszeit geschehen ist, liefert bis heute Stoff für Spekulationen. Genährt werden sie durch die bizarren Umstände, die Bundeskanzler Helmut Schmidt in diesen bewegten Tagen veranlasst haben, „wegen des Ansehens Deutschlands in der Welt“ eine umfassende Untersuchung zu fordern. Die Fragen, die er stellte, haben sich Millionen gestellt. Was ist in den Zellen passiert? Wie haben die abgeschotteten Terroristen erfahren, dass die Geiselnahme von 86 Lufthansa-Passagieren, die gegen sie ausgetauscht werden sollten, durch den Einsatz der Spezialeinheit GSG 9 in Mogadischu gescheitert war? Wie konnten die prominenten Gefangenen im angeblich sichersten Gefängnis der Republik an Schusswaffen samt Munition gelangen? Wie war es ihnen trotz Kontaktsperre möglich, den gemeinsamen Suizid minutiös abzusprechen?

Die Fahnder zweifeln nicht: Kollektiver Selbstmord

Die Legende vom Auftragsmord geisterte bald durch ein Land, das an den Rand des Staatsnotstands geriet. Die Justiz leitete unter dem Aktenzeichen JS 3627/77 ein Todesermittlungsverfahren ein. In 54 Ordnern und Mappen dokumentierten Beamte um den Stuttgarter Staatsanwalt Rainer Christ umfassend ihre Untersuchungen, in denen Kritiker noch Jahre danach Widersprüche ausmachten. Für die Fahnder stand am Ende unzweifelhaft fest, dass sich im siebten Stock der Justizvollzugsanstalt Stammheim ein kollektiver Selbstmord abgespielt hatte. Zu ihren Beweismitteln gehörten viele der Bilder vom Tatort, die jetzt ungeordnet und verdichtet im verstaubten Koffer aufgetaucht sind.Keiner hatte offenbar Notiz von diesem Koffer genommen, keiner hatte das alte Stück näher betrachtet. Jedenfalls keiner von denen, die noch Auskunft geben können.

Der Koffer hatte seinen Platz im Keller. Niemand kümmerte sich, niemand stellte Fragen, niemand wusste von Fotoschachteln. Von den distanzlosen Bildern, die Jan-Carl Raspe nach der Obduktion seines Schädels zeigen, die Kopfhaut mit sechs groben Stichen an der rechten Schläfe wieder angenäht. Von den Bildern des Kabels, das zur Schlinge wurde und sich um den Hals von Gudrun Ensslin zog. Von den Bildern, die Andreas Baaders grobstolliges Schuhwerk samt grünen Socken zeigen. Von den Bildern der Blutspritzer an jener Hand, mit der er sich in den Kopf geschossen hat. Von den Bildern der Waffen, Hülsen und Einschusslöcher in der Wand. Von den Bildern der schwer verletzten Irmgard Möller bei der Notoperation.Bis heute haben die Stuttgarter Strafverfolger penibel darüber gewacht, dass keine amtlichen Ermittlungsbilder aus den Todeszellen in den Medien auftauchen.

Auszüge aus den Ermittlungsakten gibt es inzwischen in mehreren Archiven, in denen Anwälte ihre Nachlässe hinterlegt haben. Fotos aber sind offiziell nicht auf den Markt gekommen. Die Stuttgarter Strafverfolger konnten alles unter Verschluss halten. Fast alles.

 

Es wird geprüft: Sind neue Ermittlungen notwendig?

Als der „Stern“ am 30. Oktober 1980 „geheime Akten und Fotos über den Justizskandal“ im Blatt ankündigte, von Schlampereien bei den Untersuchungen schrieb und ein Dutzend Bilder aus den Zellen abdruckte, wurde umgehend von Rainer Christ, heute stellvertretender Leiter der Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart, unter dem Aktenzeichen UJS 985/80 ein Ermittlungsverfahren „wegen des Verdachts der Verletzung des Dienstgeheimnisses“ eingeleitet. Die Ermittler stellten das Verfahren gegen unbekannt zwar ein Jahr später ein, weil der Kreis der Dienststellen, die mit den Fotos zu tun hatten, als so groß erschien, dass sich die undichte Stelle nicht einkreisen ließ.

Der Druck der Fahnder aber blieb nicht ohne Wirkung. Noch immer quittiert das Magazin entsprechende Anfragen zur fraglichen Ausgabe mit dem Hinweis: die ist gesperrt.Mehr als dreißig Jahre danach, so sollte man meinen, müsste eigentlich der letzte Winkel ausgeleuchtet und der Umgang mit der Geschichte von größerer Gelassenheit geprägt sein. Kurt Breucker, früher Richter im RAF-Prozess, tut jedenfalls einiges dafür. Er saß neulich bei einer Podiumsdiskussion über die 68er in Heidelberg neben Ulrike Meinhofs Tochter Bettina Röhl, die jetzt selbst Mutter einer kleinen Tochter ist. Das Mädchen war mit im Saal, und irgendwann hockte die Enkelin der gefürchtetsten deutschen Terroristin auf dem Schoß des von der RAF-Anführerin vielfach beschimpften Richters. Das hätte sich der 73-jährige Ruheständler „früher auch nicht träumen lassen“.Doch der Schein der Unbeschwertheit trügt.

Tatsächlich ist die Aufarbeitung des Deutschen Herbsts noch längst nicht beendet. Wie sonst lässt sich der seltsame Umgang mit Zeugnissen jener Zeit erklären? Wohl kaum zufällig sind die Gefangenenpersonalakten der RAF-Häftlinge, die in Stammheim angelegt und nach deren Tod geschlossen wurden, auf unbekannte Weise verschwunden. Die Akten hätten nach dem Gesetz zwanzig Jahre in der Justizvollzugsanstalt aufbewahrt und danach der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden müssen. Für gewöhnlich werden in deutschen Gefängnissen über jeden Inhaftierten Akten geführt, in denen Haftbedingungen und Haftverlauf in allen Einzelheiten dokumentiert sind. Bis zu sechs Bände umfassten Personalakten einzelner Terroristen.

Aufschlussreiches Material. „Trotz mehrerer Besprechungen in Stammheim und trotz enger Zusammenarbeit mit der heutigen Behördenleitung war der Verbleib der Akten nicht mehr aufzuklären“, sagt Elke Koch vom Staatsarchiv Ludwigsburg.Umso mehr hat sich die stets um Archivgut bemühte Beamtin gefreut, als die mit umfangreichem Fotomaterial versehenen Todesermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Stuttgart in Sachen Baader, Raspe und Ensslin im Sommer 2005 vom Staatsarchiv übernommen werden konnten, was dort als kleine Sensation gefeiert wurde. Die Begeisterung über das Material währte nicht lange: Vor sechs Monaten sind die Akten wieder abgeholt worden. Trotz mancher Anfrage, die an die Staatsanwaltschaft gerichtet werden mussten, hat sie in Ludwigsburg laut offiziellen Angaben keiner zu Gesicht bekommen.Gegenüber der Stuttgarter Zeitung bestätigt der für Staatsschutz zuständige Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler, dass er die Akten zurückholen ließ. Die Behörde prüfe derzeit, ob „nach Auswertung vorhandenen Wissens“ in dem politisch brisanten Fall neue Ermittlungen eingeleitet werden.

Konkret geht es darum, ob einzelne Beamte aus dem Sicherheitsapparat im Herbst 1977 von der Absicht der Terroristen wussten und deren Selbstmord folglich staatlich geduldet war. Kollektiver Suizid durch kollektives Wegschauen? Dafür scheint es ernstzuernstzunehmende Indizien zu geben, wie der Umzug der Akten belegt. Sollten sie sich bestätigen, wird die Frage zu klären sein, ob das Wegsehen und -hören als Tötung durch Unterlassen zu werten ist, was im Gegensatz zur unterlassenen Hilfeleistung noch nicht verjährt wäre.Seit der Koffer vor einer Woche gefunden wurde, hat er heftige Aufregung ausgelöst. Der Koffer hat einem Polizeifotografen gehört, der an jenem Morgen danach Dienst hatte. Sein Job war es, die Szenen vom Tatort Gefängnis detailliert zu dokumentieren. Er hat Abzüge gemacht, für die Bundesanwaltschaft, für das Landeskriminalamt – für sich.

 

Der Fahndungsapparat läuft, die Fotos werden ausgewertet

Warum er das Gesehene in vier orangefabenen Schachteln abgelegt und in seinen Koffer gepackt hat, ist nicht bekannt – der Beamte ist mit seinem Geheimnis gestorben. Vielleicht hatte er sich nicht viel dabei gedacht. Vielleicht versuchte er, das Erlebte auf diese Weise zu verarbeiten. Vielleicht wollte er seine persönliche Sicht auf die Dinge jenseits der offiziellen Ermittlungsakten bewahrt wissen. Vielleicht hatte er mehr im Sinn mit den Bildern, die so vieles zeigen.

Die Leute, die den Koffer beim Entrümpeln gefunden haben, waren mit ihm überfordert. Sie sind nach einer aufreibenden Odyssee zur Stuttgarter Zeitung gekommen und am Ende nach schlaflosen Nächten zu dem Entschluss gelangt, den Koffer samt Inhalt der Staatsanwaltschaft zu übergeben. Deren Fahndungsapparat war bereits angelaufen. Die Fotos werden jetzt ausgewertet.