Wie der Koffer erst zur Stuttgarter Zeitung und dann zum Staatsanwalt gelangte

Die Geschichte einer Geschichte


Im Juli 2008 ist es auch in Stuttgart und Umgebung Hochsommer. Der Stuttgarter Zeitungs-Journalist Michael OHNEWALD führt an jenem Sonntag kulinarische Regie beim Familiengrill, als das Telefon läutet. Sein Kollege Markus HEFFNER, der als Polizeireporter übers Wochenende im Pressehaus die Stallwache hält, ist ganz aufgeregt: Jemand habe angerufen, weil er viele Fotos von den RAF-Terroristen gefunden habe. Ob man die brauchen könne? Sie würden sogar die These vom staatlichen Mord an den RAF-Gefangenen belegen.

Michael OHNEWALD entscheidet sich sofort, sich den seltsam klingenden 'Vogel' anzuhören. Man trifft sich am Montag morgen. Der Anrufer ist immer noch ganz aufgeregt, fühlt sich beobachtet und verfolgt - wegen der heißen Bilder. Zwei davon hat er mitgebracht. Eines ist dem Redakteur bekannt, das andere nicht - er hat es noch nie gesehen.

OHNEWALD lässt sich ersteinmal alles erklären. Der Anrufer, ein Neffe eines verstorbenen Polizeifotografen, habe auf dessen Dachboden aufgeräumt. Und dann diesen Fund gemacht. Er habe dann auch gleich beim stern in Hamburg angerufen, berichtet er. Und dort habe man ihn nicht ernst genommen.

Natürlich ist auch beim Gruner + Jahr-Verlag in Hamburg, der die Illustrierte stern herausgibt, Wochenende. Allerdings: Eine Notredaktion rund um die Uhr für eventuelle Fälle wie etwa beim Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL gibt es dort nicht. Auf den Hinweis des Anrufers,

  • dass er eine ganze Tasche mit unbekannten Fotos von Deutschlands bekanntesten Terroristen habe,
  • dass man darauf sehen könne, wie es in den Zellen nach dem Selbstmord ausgesehen habe,
  • dass die Fotos die These stützen könnten, die RAF-Gefangenen seien umgebracht worden,

reagiert man in Hamburg nach Darstellung des immer noch aufgeregten Informanten eher ungläubig: Er könne die Fotos ja mal zuschicken!

OHNEWALD in Stuttgart hingegen ist sofort elektrisiert. Er lässt sich die Tasche gegen das Versprechen aushändigen, sie am nächsten Tag in jedem Fall wieder zurückzugeben. Er müsse die Fotos prüfen. Geld allerdings könne er keines zahlen, Fahrtkostenerstattung ausgenommen. Die Stuttgarter Zeitung betreibt keinen Scheckbuchjournalismus.

Die Bilder dokumentieren nicht nur, was nach dem Selbstmord Sache war, sie sind teilweise auch schockierend. Darunter Fotos von gerichtsmedizinischen Obduktionen, auf denen z.B. Jan-Carl RASPE mit abgezogener Kopfhaut zu sehen ist - im Einschussloch im Kopf ein Bleistift. Oder eine Aufnahme, wie Gudrun ENSSLIN in ihrer Zelle aufgefunden wurde: erhängt am Fenstergitter, davor eine aufgehängte Wolldecke, damit die Wärter beim Kontrollieren durch den Spion nur sehen können, dass das Fenster verdeckt ist, aber nicht was zwischen Wolldecke und Fenster geschieht.

Für den Reportagenmann eine Supergeschichte, die er nun für die "Dritte Seite" schreibt. Und das mit originalen und unbekannten Fotos zum Mythos "RAF". Die aber auch klar die Selbstmordthese belegen - ganz im Gegensatz zur Einschätzung des Informanten. Denn immer noch hält sich vereinzelt die Fama, dass es sich beim Tod der Terroristen in der Nacht bzw. am frühen Morgen des 18. Oktober 1977 um einen Selbstmord "unter staatlicher Aufsicht" gehandelt habe - die Bundesregierung unter ihrem Kanzler Helmut SCHMIDT hatte nicht nur die Forderungen der RAF-Entführer des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin SCHLEYER abgelehnt, sondern ebenso das Ansinnen der palestinensischen Flugzeugentführer der Lufthansa-Maschine "Landshut". Der Staat wollte sich als nicht erpressbar zeigen. Der Tod der einsitzenden RAF-Häftlinge konnte ihm - so gesehen - nur von Vorteil sein.

Michael OHNEWALD, schon wegen der räumlichen Nähe mehrfach mit dem Thema 'RAF' befasst, steht vor einem typischen journalistischen Dilemma. Auf der einen Seite will er einige Foto veröffentlichen und eine Geschichte dazu machen, auf der anderen Seite gilt es den Informanten zu schützen. Und: Er muss die originale Herkunft der Bilder kennen, um deren Bedeutung auch strafrechtlich einschätzen zu können.

OHNEWALD trifft sich mit einem inzwischen pensionierten Richter aus der damaligen Zeit. Der kennt die Bilder nicht. Er kennt allerdings die Archivarin des Staatsarchivs in Ludwigsburg, wohin die so genannten Todesermittlungsakten gewandert seien, die die Staatsanwaltschaft nach dem Selbstmord der RAF-Häftlinge zusammengetragen habe, um zu prüfen, ob sich jemand durch Unterlassen bzw. unterlassene Hilfeleistung 'schuldig' gemacht habe. Das Ergebnis war negativ ausgefallen.

Im Ludwigsburger Staatsarchiv erkennt die zuständige Archivarin die Fotos als Duplikate. Die Originale lägen in den Todesermittlungsakten. Die allerdings

  • habe noch niemand von Außen zu Gesicht bekommen, obwohl schon viele entsprechende Anträge gestellt hätten - bisher habe die Justiz noch jedem die Einsichtnahme verweigert

  • und sie seien inzwischen auch garnicht mehr da - die Staatsanwaltschaft habe sie bereits wieder abgeholt - angeblich um nochmals zu prüfen. 


OHNEWALD will sich jetzt mit den Staatsanwälten treffen.

Das nächste Treffen findet allerdings mit Vertretern des Staatsschutzes statt. Der ist nämlich inzwischen längst aktiv geworden - seien es die vielen Telefonate gewesen, die der aufgeregte Neffe des verstorbenen Polizeifotografen geführt hatte, oder die gezielte Nachfrage im Staatsarchiv: Egal wie: Als Michael OHNEWALD einem Staatsschützer gegenüber sitzt, um über die Übergabe der aufgefundenen Fotos zu verhandeln, kann er auf einem Papier, das auf dem Schreibtisch seines Gegenüber liegt, mehrere Namen erkennen, die dort gelistet sind. Offenbar die Namen der potenziell in Frage kommenden Personen, die mit den Fotos zu tun gehabt haben könnten.

OHNEWALD, der als Journalist Schriften selbstverständlich seitenverkehrt entziffern kann, erkennt dort auch den Namen des Onkels seines Informanten. Bis zum Neffen ist der Weg dann nicht mehr weit. Jetzt ist entschlossenes Handelns angesagt.

OHNEWALD macht den Vertretern der Staatsschutzabteilung ein konkretes Angebot:

  • Er wird einige ausgewählte Fotos veröffentlichen und eine Geschichte dazu machen - der Staatsschutz verzichtet darauf, irgendwelchen Druck zu machen

  • im Gegenzug werde er den Informanten davon überzeugen, die Fotos freiwillig der Staatsanwaltschaft zu übergeben.

So geschieht es auch. Der Neffe geht zur Staatsanwaltschaft und wird dort eine Stunde lang 'verhört'. Er übergibt die rund 400 Fotos und wird wieder 'entlassen'. Damit können die Fotos nicht mehr auf dem "Markt" auftauchen. Denn das war eine Sorge der Staatsanwälte: Dass damit etwa die BILD-Zeitung über Wochen ihre Seiten füllen könnte.Michael OHNEWALD und sein Kollege Markus HEFFNER können ihre 'Geschichte' drucken: Ein Koffer für den Staatsanwalt.Die Veröffentlichung in der Stuttgarter Zeitung erregt internationale Aufmerksamkeit.

DER SPIEGEL meldet einen spektakulären Fund. Und auch die Illustrierte stern meldet - eher wortkarg - , dass neue Fotos aufgetaucht seien. Dass diese Fotos am stern vorbeigegangen sind, steht dort allerdings nicht. Die Stuttgarter Zeitung kann ob des gewaltigen Medien- und Öffentlichkeitsechos am nächsten Tag erneut darüber eine größere Geschichte machen:

 

(JL)