Die einzelnen Artikel des SZ-Spezials "Die Waffenrepublik", 30.06.2012

Tage des Donners

 

Ein Donner fährt durch den Körper, auf die Knochen, in den Magen, als der Schuss sich löst. Unmöglich, nicht zusammenzuzucken. Obwohl der Schütze des Sturmgewehrs drei Schießstände weiter liegt, hinter dieser etwa einen Meter langen, schwarzen Waffe. Den Lauf stützt er auf kleine Sandsäcke, um besser zielen zu können. Wieder ein Schuss, ein wenig Rauch. Die Profis bleiben gelassen, hier trainieren Polizisten und Bundeswehrsoldaten. Doch wer das Abfeuern zum ersten Mal live erlebt, duckt sich ein wenig, wenn die Schallwelle ihn erreicht.

Den Schießstand zu betreten, ist ein seltsames Gefühl: positive Aufregung und etwas Angst, als würde man in der Schlange vor einer Achterbahn warten. Macht Schießen euphorisch? Wie schnell verschwinden die Hemmungen? Was ändert der erste Schuss?
Der Schieß-Keller erinnert an eine Kegelbahn, nur lauter. Die Schüsse fallen unregelmäßig, über den Boden verteilt liegen Patronenhülsen. Schießende Menschen kennen die meisten nur aus dem Fernsehen. Hier gibt es keinen John McClane, den Polizisten aus „Stirb langsam“, der immer einhändig schießt, keine Killer wie in „Pulp Fiction“ oder „Reservoir Dogs“. Die Schützen im Schießstand sind nicht kaltschnäuzig, sondern konzentriert. Oft dauert es eine gefühlte Ewigkeit, bis sie angelegt haben, anvisieren, abdrücken. Einhändig schießen sie nie.

Zwischendurch feuert das Sturmgewehr. Es ist nichts für den ersten Schuss. Anfängern wird ein leichteres Jagdgewehr empfohlen, Kaliber 22 LfB. Das steht für „Lang für Büchse“ und reicht aus, um einen Hasen zu erlegen. Die Schießscheibe fährt nach hinten, 50 Meter, der Schießtrainer lädt das Magazin mit vier kleinen, etwa zweieinhalb Zentimeter langen Patronen. Auf den Bauch legen, das rechte Bein anwinkeln, das stabilisiert den Körper.

Fremd und ungemütlich fühlt sich das an. Der kantige Gewehrkolben passt nicht in die Schulterbeuge, das rechte Auge schafft es kaum zum Zielfernrohr, dafür ist der Hals irgendwie zu kurz und das Gewicht des Oberkörpers lastet auf dem linken Arm, dessen Hand auch das Gewehr abstützt. Der rechte Zeigefinger tastet nach dem Abzug, die Waffe ist gesichert. Der kleine Hebel lässt sich leicht umstellen. Und jetzt? Warten auf den Rückschlag. Harmlos. Der Schuss ist im Vergleich zum Gewehr nebenan ein leises Klicken, fast enttäuschend.

Viele Sportschützen begeistert vor allem die Technik ihrer Waffe. Der Dortmunder Soziologe Arne Niederbacher hat deutsche Schützen zwei Jahre lange beobachtet: Sie sammeln verschiedene Modelle, erforschen deren Geschichten, informieren sich über alle Neuerungen. Für diese Technikbegeisterung spielt es keine Rolle, ob die Waffe töten kann. Und auch der sportliche Wettkampf erscheint zweitrangig. Schätzungen sagen, dass höchstens ein Viertel der deutschen Vereinsschützen auf den Schießstand geht, um Wettbewerbe zu gewinnen.

Die Pistole ist eigenwilliger als das Jagdgewehr, eine P 30, 9x19 mm, mit der auch Polizisten schießen. Die Einweisung dauert nicht lange: gerade stehen, Beine etwas auseinander, ein wenig in die Knie gehen. Die rechte Hand umschließt den Griff, die linke legt sich darüber. 25 Meter bis zur Zielscheibe, am besten streckt man ihr die Pistole so weit wie möglich auf Augenhöhe entgegen, konzentriert sich auf den rechten Arm, der darf nicht einknicken. Zielen ohne Zielfernrohr, mit Kimme und Korn, Hauptsache geradeaus. Der Rückschlag wird nicht so schlimm, sagt der Besitzer der Waffe. Die Zeigerfingerspitze auf den Abzug, langsam abdrücken und den Arm strecken, strecken, strecken. Schuss.

Kann man sich so bei Gefahr wirklich selbst verteidigen? Einem Polizisten gibt die Waffe im Einsatz Sicherheit, sagen Polizeipsychologen. Doch die Beamten trainieren regelmäßig für den Ernstfall. Für den Laien kann es dagegen gefährlicher sein, eine Waffe aus der Handtasche oder unter dem Kopfkissen hervorzuziehen, als sich zu ergeben. Denn sie provoziert den Angreifer, der womöglich selbst bewaffnet ist. Amerikanische Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Waffenträger öfter Mordopfer werden als Unbewaffnete. Der Anblick einer Pistole macht nicht nur Kriminelle nervös: Auch Polizisten berichten, dass sie eher abdrücken, wenn ihr Gegenüber bewaffnet ist.

Der erste Schuss aus einer Neun-Millimeter. Die Pistole reißt nach oben aus, die Arme fliegen mit, die Kontrolle ist weg. Von wegen nicht so schlimm. Die Hände schwitzen, der Kopf wird warm. Fünf Schuss sind im Magazin. Bei jedem Schuss zittert der Arm ein wenig mehr. Mehr Kontrolle wäre schön. Diese Waffe kann einen Menschen töten.

Auf einen anderen zu zielen – allein die Vorstellung erscheint absurd. Der Mensch hat eine angeborene Hemmung, einen anderen Menschen zu töten, sagen Biologen. Wenn er ihn als seinesgleichen erkennt, bekommt er Mitleid. Mit der Waffe auf jemanden zu zielen, ist daher für viele unmöglich. Wenn ein Polizist schießen muss, quälen ihn danach große Gewissensbisse – vor allem dann, wenn er vorher noch mit dem Erschossenen gesprochen hat. Was Soldaten angeht, können moderne Kriegswaffen ihre Hemmung zum Abdrücken überlisten: Sie müssen das Opfer aus großer Entfernung treffen können. Dann erscheint das Ziel dem Schützen nur noch als abstrakter Gegenstand.

Am Schießstand geht es darum, den Zehner zu treffen, die Mitte der Zielscheibe. Oder einmal im Leben die Wucht eines Sturmgewehrs zu testen. Es ist die zivile Variante eines G 3, mit der früher die Bundeswehr schoss. Bei ihr löst sich immer nur ein Schuss, kein Dauerfeuer wie beim Militär. Doch auch so durchschlägt das Projektil einen mitteldicken Baumstamm, heißt es. Erstmal wiederholt sich alles: hinlegen, zurechtrücken, durchs Zielfernrohr schauen auf die Scheibe, diesmal in 100 Metern Entfernung. Den Kolben noch enger an der Schulter, damit er gar nicht erst Fahrt aufnehmen und aufs Schlüsselbein prallen kann. Es ist die dritte Waffe an diesem Tag, doch das Abdrücken wird nicht leichter.

Wird es irgendwann normal, wenn man nur oft genug schießt? Der ehemalige Militärpsychologe Dave Grossman behauptet, dass sich die Hemmschwelle zum Töten durch Konditionierung verringert. Der gleiche Effekt könne sich einstellen, wenn jemand regelmäßig mit Computerspielen in einer virtuellen Welt herumballert – eine umstrittene These. Als sicher gilt bisher nur, dass die sogenannten Ego-Shooter die Aggression kurzfristig steigern. Mit dem realen Schießstand haben diese Spiele nichts zu tun. Niemand würde sie kaufen, wenn er darin nur auf Zielscheiben schießen könnte. Und kein Sportschütze würde sich eine menschenähnliche Attrappe in den Schießstand stellen.

Mit dem G-3-Gewehr ist es fast unmöglich vorbeizuschießen. Das Zielfernrohr zeigt präzise an, wohin der Schuss geht. Das Donnern, das selbst Zuschauern durch die Glieder fährt, jetzt hat man es selbst in der Hand, in der Schulterbeuge, am rechten Auge. Einfach langsam den Abzug immer weiter nach hinten ziehen, nicht zögern. Es gibt kaum Widerstand, das Gewehr schießt quasi von allein. Es bebt, schlägt aus, das Bild im Fernrohr verwackelt. Nur in der Schulter wird der Schuss am nächsten Tag noch zu spüren sein. Sonst hat sich nichts verändert.