Die Berichte der Stuttgarter Nachrichten, 15.02.2008

von Jürgen BOCK

"Die Hilfsfristen werden schöngeredet"

Die Rettungsdienste können in Stuttgart die gesetzlich vorgeschriebene Hilfsfrist nicht einhalten. Während die Verantwortlichen in der Kritik stehen, melden sich immer mehr Betroffene zu Wort - Patienten ebenso wie Mitarbeiter der Hilfsdienste. 

In Baden-Württemberg müssen die Rettungsdienste nach 15 Minuten am Unfallort sein. Eine vergleichsweise großzügige Regelung - die aber in Stuttgart dennoch nicht eingehalten wird. Ordnungsbürgermeister Martin Schairer hat den Missstand bereits vor drei Monaten festgestellt. Weil konkrete Schritte dennoch ausblieben, steht er nun ebenso in der Kritik wie der zuständige Bereichsausschuss aus Rettungsdiensten und Krankenkassen sowie das für die Frist verantwortliche Sozialministerium.

Unsere Leser treibt das Problem um, die Reaktionen häufen sich. Dabei melden sich sowohl Mitarbeiter von Feuerwehr oder Deutschem Roten Kreuz (DRK), die von unhaltbaren Zuständen sprechen, als auch Bürger, die als Patienten Erfahrungen mit langen Wartezeiten machen mussten.

"Die Diskussion, ob ein Eintreffen des Notfallteams nach 15 Minuten erfolgt oder erst nach 17, ist eher akademisch, wenn man tatsächliche Notfälle anschaut", sagt etwa Rainer Nanz. Seine Nachbarin habe sich 2006 im Garten einen komplizierten Beinbruch zugezogen. Beim Notruf habe man zunächst lange diskutieren müssen. Das Rote Kreuz sei erst nach einer Stunde eingetroffen. "Ich kann mir schlecht vorstellen", schlussfolgert Nanz, "dass dieser Fall ein einsamer Ausreißer in der Statistik ist."

Noch frappierender sind die Erfahrungen, die Ingrid Oberglock machen musste. Als ihre Schwester nachts starke Bauchschmerzen bekam, rief sie den Notarzt. Der sei nach einer halben Stunde gekommen und nach einer Spritze wieder gegangen. Da die Schmerzen heftiger wurden, rief Oberglock erneut bei der Leitstelle an. Dort wurde ihr beschieden, alle Kräfte seien im Einsatz. Daraufhin meldete sie sich ein drittes Mal und sprach von einem Herzinfarkt - prompt sei ein Rettungswagen erschienen. "Ich finde es eine Unverschämtheit, dass man im Notfall mit der Rettungsleitstelle diskutieren muss", ärgert sich Ingrid Oberglock. Auch Heiko Steinicke spricht von "einem Roulettespiel" und schlägt vor, mehr Defibrillatoren im Stadtgebiet anzubringen, damit wenigstens Herzstillstände schneller bekämpft werden können.

Doch auch viele Mitarbeiter halten die Situation für untragbar. Sie äußern sich anonym, um keine Schwierigkeiten zu bekommen. "Der Rettungsdienst ist unter aller Sau", schreibt ein Angehöriger der Berufsfeuerwehr. Andere Städte hätten die doppelte Anzahl an Rettungswagen, die Hilfsfristen würden schöngerechnet, es fehle überall am Geld. "Auf der Leitstelle gibt es immer noch kein Personalkonzept", bemängelt der Insider, auf Rettungsfahrten müsse man sich ständig wegen Verspätungen entschuldigen und habe nicht einmal mehr Zeit, die Fahrzeuge zu desinfizieren.

Ein DRK-Mitarbeiter berichtet Ähnliches: "Wir sind hier kurz vor dem Verzweifeln." Die Überlastung sei extrem, viele Kollegen gingen nur aus Angst um den Arbeitsplatz nicht an die Öffentlichkeit.

Oder sie suchen nach Alternativen. "Die besten Fachkräfte verlassen Baden-Württemberg", weiß ein weiterer DRK-Mitarbeiter. Hier gebe es keine Gelder und keine Perspektive. Schuld daran seien auch die eigenen Vertreter im Bereichsausschuss: "Die müssen endlich vernünftig verhandeln."

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