Hoffmann-La Roche zahlte später eine Entschädigung von 150 Millionen Euro. Vielen Betroffenen ist das allerdings nur ein Tropfen auf dem heissen Stein, da zwar nicht eindeutig nachzuweisen ist, wie viele Menschen tatsächlich an der Dioxinvergiftung starben. Untersuchungen in den 30 Jahren nach dem Unglück zeigen jedoch einen deutlichen Anstieg von Krebserkrankungen und Hautgeschwüren.
Stanley Adams und das Seveso-Unglück
In seinem Buch Roche versus Adams widmet Stanley ADAMS dem Seveso-Skandal ein ganzes Kapitel. Da er selbst nach seinem Ausstieg bei Roche einige Zeit in Italien lebte, kannte ADAMS die italienische Gesellschaft und deren politische und wirtschaftliche Kultur recht gut. Durch die Aufmerksamkeit, die sein eigener Fall in der Öffentlichkeit erregte, bekam er nach dem Unfall bei der ICMESA zahlreiche Interview-Anfragen italienischer Journalisten. Für ADAMS eine kritische Entscheidung, denn ein Interview konnte für ihn neuen Ärger bedeuten. Schließlich sagte er dem Mailänder Magazin L’Europeo ein Interview zu. Chefredakteur war zu diesem Zeitpunkt Gianluigi MELEGA, den ADAMS als einen kämperischen Enthüllungsjournalisten beschreibt.
Im Interview wurde ADAMS über seine Verbindung zu Roche, seinen eigenen Fall sowie seine Einschätzung zu Seveso befragt. Er berichtete was er wusste. Über Givaudan, ICMESA und die Produktion von TCP. ADAMS beschuldigte Roche und dessen Töchter bei der Errichtung einer neuen ICMESA-Fabrik, an den Sicherheitsstandards gespart zu haben. Als Beleg brachte er an, dass der Konstrukteur der Fabrikpläne, ein Schweizer Ingenieur, Kopien seiner Original-Entwürfe aufbewahrt hätte, die aufzeigten, dass das Werk nicht komplett nach seinem Konzept errichtet wurde.
Er erklärte weiterhin, dass TCP als Basiszutat für „Agent Orange“ benötigt wurde und dass ICMESA viel mehr TCP herstellte als für die Parfümproduktion eigentlich benötigt. Die gesamte Produktion ging nach seinen Worten an eine Givaudan-Fabrik in den USA, von welcher aus das TCP schließlich überall hingehen könnte. ADAMS hielt die Leser des Magazins dazu an, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen.
Die Schlussfrage des Interviewers sollte etwas über Roches Verbindungen in die italienische Politik aufdecken und Klarheit darüber bringen, ob die ICMESA während der TCP-Produktion besondere bürokratische Freiheiten hatte.
ADAMS brachte an, dass der Roche-Manager Gianbattista MEDRI, zuständig für Roches Filiale in Italien, als Christdemokrat enge Beziehungen zu ranghohen Politikern seiner Partei unterhielt. So auch zu Giulio ANDREOTTI, dem damaligen Premier- und ehemaligen Industrieminister Italiens. Ein weiterer Parteifreund war Andrea RIZZOLI, der Besitzer des L’Europeo.
ADAMS sprach offen und MELEGA segnete den Artikel ab. Es sollte nicht ohne Folgen bleiben. RIZZOLI, sein Verleger und außerdem ein Freund ANDREOTTIs, wollte seinen Chefredakteur dazu bringen, die Geschichte nicht zu drucken. MELEGA, der von ADAMS als couragierter Journalist beschrieben wird, weigerte sich. Er wurde drei Wochen später gefeuert.
In einem späteren Radio-Interview schilderte er die Ereignisse aus seiner Sicht: „Ausgehend davon, was mir passierte und was ihm (ADAMS) wiederfuhr, ist es offensichtlich dass man, wenn man sich gegen Riesen auflehnt, seien sie nun politisch oder wirtschaftlich, im Verlauf der Ereignisse möglicherweise zermahlen wird“.
Stanley ADAMS wurde später, im Frühjahr 1977, im Laufe der Ermittlungen zur Unfallursache von einem Gericht in Monza vorgeladen. Durch seinen eigenen Fall war er den Behörden gegenüber misstrauisch geworden und besorgte sich über Freunde beim L’Europeo einen Anwalt. Es stellte sich allerdings heraus, dass auch der Richter lediglich hören wollte, was er über Roche, die Hierarchie und Philosophie des Unternehmens sowie möglichen Verstrickungen der italienischen Politik im Seveso-Fall zu sagen hätte. ADAMS schilderte was er wusste, einschließlich der Roche–MEDI–ANDREOTTI-Verbindung.
Nach Stanley ADAMS Einschätzung stellt der Seveso-Fall ein Musterbeispiel dafür da, auf welche Weise Roche seine eigenen Interessen und die seiner Aktionäre über die der Menschen stellt. Außerdem rügte er eine Kultur politischer Einflussnahme in Italien, die den Menschen das Treffen freier Entscheidungen in jeglichen Bereichen unmöglich machen würde. Zum Unfall selbst schrieb ADAMS bilanzierend: „Das endgültig Unmoralische von ICMESA war, dass Hoffmann-La Roche den Gewinn aus einem profitablen Produkt hatte, während die unschuldigen Einwohner Sevesos unwissentlich das Risiko getragen haben“. Wie er bereits im Interview gesagt hatte: Seine Schlüsse muss daraus wohl jeder selbst für sich ziehen.
Roches Verhalten in Sachen Seveso
“Von allem Anfang an sind Roche und Givaudan bemüht, den verursachten Schaden wieder gutzumachen. Beide Firmen stehen den Behörden bei der Jahre dauernden Bewältigung der Folgen der Katastrophe direkt zur Seite.“
So Hoffman la Roche damals auf seiner Website.
Docj so positiv wie es Roche auf seiner Firmen-Homepage ausdrückt, dürften es nicht alle Beteiligten sehen. Der Chemiker Jörg Sambeth SAMBETH war zum Zeitpunkt der Katastrophe technischer Direktor bei Givaudan und damit auch für die ICMESA verantwortlich. Nach seinen Schilderungen hatte er die Roche-Geschäftsführung schon Jahre vor dem Störfall auf Sicherheitsmängel in der technisch maroden ICMESA-Fabrik hingewiesen, ohne das sich etwas änderte. Als das Kind in den Brunnen gefallen war, war die Reaktion bei Roche erst einmal chaotisch. Adolf JANN der allmächtige Roche-Präsident und Gottvater aller Roche-Angestellten, weilte in Brasilien - ohne ihn wollte niemand vorpreschen. Nach SAMBETH’s Angaben gab es eine Sitzung der restlichen Geschäftsleitung: fünf Tage nach dem Unglück. Das Ergebnis: ein Maulkorb. Alles, was auf Roche oder Givaudan hinweisen könnte, sollte unter dem Teppich gehalten werden. Ebenso das Stichwort Dioxin.