Giangs erste Reise - die erste der beiden Reportagen

Wie deutsche Behörden mit einem vietnamesischen Mädchen umgehen

Giang Luong ist vor 14 Jahren in Deutschland geboren und besucht in Untertürkheim das Gymnasium. Im September sollte sie nach Vietnam abgeschoben werden. Die nächtliche Polizeiaktion endete in Berlin und wirkt bis heute nach. Ein Fall zwischen Herz und Gesetz.
Von Michael OHNEWALD, Stuttgarter Zeitung 24. Januar 2009


Dies ist die Geschichte von Giangs erster großer Reise. Sie lässt sich auf mindestens zwei verschiedene Weisen erzählen. Es gibt die Sicht von Giang, und es gibt die Perspektive der Behörden. Dazwischen liegen Welten.

Für Giang beginnt die Geschichte in einer Septembernacht, finster wie die Mienen derer, die sie aus dem Schlaf reißen. Am späten Abend fährt die Polizei vor dem Haus in Obertürkheim vor. Als das Mädchen die Türe der kleinen Mietwohnung öffnet, ahnt sie nicht, was ihr bevorsteht. Die Beamten geben der Familie eine halbe Stunde, um die Koffer zu packen. Es dauert fast so lange, bis Giang begreift, was das heißt: Sie soll weg von zu Hause, weg von Deutschland.

Giang ist mit ihrer Familie noch nie weg gewesen. Die Freundinnen aus der achten Klasse des Wirtemberg-Gymnasiums haben ihr nach den Ferien oft von Urlaubsreisen erzählt, vom Meer in Italien, von den Bergen in der Schweiz. Giang konnte nichts erzählen. Es ist ihrer Familie verboten zu reisen. Sie darf den Stuttgarter Raum nicht verlassen. Das steht in Papieren, die aussehen wie Pässe: „Der Inhaber ist ausreisepflichtig. Wohnsitznahme in Stuttgart wird angeordnet.“

14 Jahre geht das schon so. 14 Jahre nur geduldet. 14 Jahre mit begrenztem Radius. Manchmal träumt Giang davon, was jenseits der Grenzen liegt, die ihr seit der Geburt gezogen sind. Wenn sie aufwacht, ist dann alles wieder beim Alten. Vielleicht kann man sich das vorstellen wie bei einem Karpfen in der Badewanne. Vielleicht hält er die Wanne für den Ort, der ihm bestimmt ist, wenn er nur lange genug drin ist.

Ihre erste Reise hatte sich Giang anders vorgestellt. Es ist Sonntag, der 28. September 2008. Die Polizeibeamten drängen zur Eile. Giang packt ein paar Kleider ein und das Foto ihrer besten Freundin. Die Atmosphäre ist bedrückend, die Eltern sind verzweifelt. Ihre andere Tochter Mai Linh, sechs Jahre alt, ist krank. Sie konnte wegen einer Magen-Darm-Grippe in der Woche davor nicht zur Schule und nimmt Antibiotika. Die Vollstrecker des staatlichen Gewaltmonopols halten Mai Linh trotzdem für transportfähig und bringen die Familie nach Ludwigsburg. Nach einer Leibesvisitation steigen die Vietnamesen in einen vergitterten Polizeiwagen. Mai Linh muss sich übergeben. Die Eltern, die in der Vergangenheit vieles von ihrer Tochter ferngehalten haben, erklären Giang, dass man sie in Deutschlands Hauptstadt bringen und von dort nach Vietnam abschieben will. Giang kennt dieses Land nicht. Es ist ihr fremd. Sie kommt sich vor wie in einem schlechten Film.

Noch in der Nacht wird die Familie Luong nach Berlin zum Flughafen Schönefeld gefahren. Am frühen Morgen erreicht der Polizeiwagen das Abschiebegefängnis. Als die Beamten die Türe der Zelle verschließen, fühlt sich Giang wie eine Verbrecherin, die nicht weiß, was ihr zur Last gelegt wird. Ihre Gedanken kreisen um die Schule, für die sie sich vergebens angestrengt hat. Ihre guten Noten sind plötzlich nichts mehr wert. Sie weiß nicht, ob sie ihre Freundinnen wiedersehen wird. Sie konnte sich nicht einmal verabschieden.

Nach drei Stunden in der Zelle steht kurz vor dem geplanten Langstreckenflug nach Vietnam die routinemäßige Untersuchung durch einen Arzt der zuständigen Luftfahrtgesellschaft an. Mai Linh ist geschwächt und hat Fieber. Der Arzt erklärt das Kind für nicht reisefähig. Wieder fällt die schwere Türe ins Schloss und das Warten beginnt von neuem. Am frühen Nachmittag wird die Familie von einer Polizeistreife zum Bahnhof begleitet. Die Beamten drücken ihnen Fahrkarten in die Hand. Mehr als sieben Stunden dauert es, bis sie wieder in Obertürkheim sind.

Einmal Berlin und zurück – die Reise wirkt nach. Nicht nur deshalb, weil die Polizei Giangs Familie die AOK-Karten abgenommen hat und die kranke Schwester danach tagelang nicht zum Arzt kann. Schlimmer sind die Bilder, die sich im Gedächtnis eingenistet haben. Sie kommen ins Laufen wie bei einem Video, das man nicht stoppen kann. Es braucht nicht viel, nur ein Klingeln an der Türe oder eine Polizeistreife auf der Straße und schon tobt es im Kopf. Giang kämpft auf ihre Weise dagegen an, indem sie öfter die Wohnung in Obertürkheim verlässt, die mit Angst geheizt ist. Manchmal übernachtet sie bei einer Freundin. Dort schläft sie besser.

Es ist beschämend, was Giang und ihrer kleinen Schwester durch die misslungene Abschiebeaktion angetan worden ist.
Uwe Bodmer vom Kinderschutzbund

Giang braucht Hilfe. Ihr Vater wendet sich an den Kinderschutzbund in Stuttgart und bringt die verstörte Tochter zu Ines-Sabine Becker, einer Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie. „Die Patientin leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, die dringend behandlungsbedürftig ist“, lautet die Diagnose. Um seelisch gesunden zu können, benötige Giang „Sicherheit, Schutz und die Möglichkeit, in ihrer Heimat auch beheimatet zu sein und bleiben zu dürfen“. So endet sie, Giangs erste Reise – im Behandlungszimmer einer Ärztin für Psychiatrie.

Johannes Schmalzl erzählt die Geschichte dieser Reise anders. Der Stuttgarter Regierungspräsident hat der nächtlichen Abschiebung der Familie zugestimmt und entsprechende Papiere gezeichnet. Seine Behörde sieht er in einer langen Reihe von Instanzen, die sich mit dem Fall beschäftigt haben, wie Schmalzls Sprecher David Bösinger sagt. Von staatlicher Willkür könne keine Rede sein.

Wenn Giang nach Vietnam muss, dann verlieren viele von uns nicht nur eine Mitschülerin, sondern auch eine Freundin.
Sabrina aus dem Wirtemberg-Gymnasium

Die andere Version der Geschichte von Giangs erster Reise beginnt lange vor ihrer Geburt, in einer Zeit, als Deutschland noch geteilt war. Ein Vietnamese namens Dung kommt 1988 offiziell als Gastarbeiter nach Zwickau. Die DDR hat mit der Sozialistischen Republik Vietnam ein Abkommen geschlossen, das die Qualifizierung vietnamesischer Arbeiter in ostdeutschen Betrieben vorsieht. Dung, 1963 rund hundert Kilometer von Hanoi entfernt in Haiphong geboren, heuert im Automobilwerk des sozialistischen Bruders an und baut Trabis für DDR-Bürger.

Als die Mauer fällt, hat der Trabi keine Zukunft – und Dung keinen Job. Nach der Wende zieht es den Vietnamesen in den Süden, wo es Arbeit gibt. Dung landet in Stuttgart. Willkommen ist er nicht. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnt seinen Asylantrag 1991 ab. Er kämpft darum, bleiben zu dürfen. Dung beginnt bei einer Metalltechnikfirma in Stuttgart als Lagerarbeiter und lernt die Vietnamesin Huong kennen, die wie er in Deutschland Asyl beantragt.

Mitte der neunziger Jahre macht Dung den größten Fehler seines Lebens, wie er selbst im Rückblick sagt. Er begeht mit anderen Vietnamesen eine Straftat, für die er fünf Jahre im Gefängnis landet. In der Untersuchungshaft erfährt Dung, dass er Vater wird. Tochter Giang kommt in Filderstadt zur Welt und verbringt ihre ersten Jahre mit der Mutter in einem Heim für Asylbewerber. Als Dung aus dem Gefängnis in Heimsheim entlassen wird, stellt ihn sein früherer Arbeitgeber wieder
als Staplerfahrer ein. Dung findet eine Wohnung, in die Giang und ihre Mutter einziehen. 2002 kommt Mai Linh zur Welt.

Dung strengt sich an bei der Arbeit. Sein Chef weiß ihn zu schätzen. „Er hat sich zu einem unverzichtbaren Mitarbeiter entwickelt, den wir ungern verlieren würden“, sagt der Geschäftsführer der Firma, der Dung nach zehn Jahren in ungekündigter Stellung ein gutes Zeugnis ausstellt. Dung lebt für die Familie. Sein Stolz ist Giang, die es trotz erschwerter Bedingungen aufs Gymnasium geschafft hat. Sie ist beliebt in der Schule und bei den Nachbarn. „Mach es besser als ich“, rät er seiner Tochter. „Nutze deine Chance.“

Diese Chance ist von Anfang an klein. Bereits 2004 fordert das Regierungspräsidium die Familie unter Androhung der Abschiebung zur freiwilligen Ausreise auf. Giang ist zu diesem Zeitpunkt neun und Mai Linh zwei. Die Eltern klagen und verlieren vor dem Verwaltungsgericht. Die Straftat des Vaters wiegt schwer. Auch der Petitionsausschuss des Landtags und die Härtefallkommission sehen keine Möglichkeit auf ein Bleiberecht.

Im August 2008 zeichnet Regierungspräsident Schmalzl die Abschiebung ab. Giangs erste Reise wird vorbereitet. Der Fall nimmt für die Stuttgarter Behörde eine unerwartete Wendung, als der Arzt in Berlin die erkrankte Mai Linh für nicht reisefähig erklärt. Auf die gescheiterte Abschiebung folgt ein reger Schriftverkehr. Der Rechtsanwalt Jürgen Balbach zeigt sich erbost über den Umgang mit der Familie. Er schickt Schmalzl den ärztlichen Befund über die psychischen Folgen für Giang und legt beim Verwaltungsgerichtshof in Mannheim Beschwerde ein. Für den Fall, dass die Familie noch einmal abgeholt werde, droht der Jurist mit einer Anzeige wegen Körperverletzung: „Eine erneute Abschiebung würde eine weitere unmenschliche und erniedrigende Behandlung darstellen.“

Die Petenten haben die Bundesrepublik wieder zu verlassen, da sie keine Anerkennung als Asylberechtigte gefunden haben.
Aus der Beschlussempfehlung zur Petition

Nicht nur für den Rechtsanwalt hat der Fall zwei Seiten. Auch andere mischen sich ein. Wie ist es zu erklären, dass der Vietnamese Dung über all die Jahre bleiben konnte, obwohl sein Asylantrag bereits 1991 abgelehnt worden ist? Seit wann müssen Kinder für ihre Eltern haften? Ist es moralisch vertretbar, ein in Deutschland geborenes Mädchen nach 14 Jahren angepassten Lebens so zu behandeln? Diese Fragen stellt Uwe Bodmer vom Kinderschutzbund in Stuttgart. „Die Abschiebeaktion missachtet nicht nur die Kinderrechte“, sagt er, „sie verstößt auch gegen den Grundsatz unantastbarer Würde.“

Für den Stuttgarter Regierungspräsidenten Johannes Schmalzl endet die Geschichte von Giangs erster Reise mit einem überraschenden Schreiben aus Mannheim, das ihm gestern zugegangen ist. In einem siebenseitigen Beschluss untersagt der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg per einstweiliger Anordnung vorläufig die Abschiebung der Familie Luong nach Vietnam.


Wie die Geschichte im Original auf einer ganzen Seite in der Zeitung abgedruckt und mit Bildern und Überschriften ge-layoutet war, können Sie hier als pdf-Datei anschauen.