Reportage: „Sind so kleine Seelen“

Was tun wir unseren Kindern an? „Oft nichts Gutes“, sagt Marie-Luise Hepp, seit zwanzig Jahren Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Anmerkungen zur deutschen Bildungspanik.
Von Michael OHNEWALD, Stuttgarter Zeitung, 27. Februar 2010


Es ist wieder einer dieser ganz normalen Werktage in der Mitte der Gesellschaft. Wie immer verbringt ihn Marie-Luise Hepp mit Kindern, die so gute Startchancen haben wie keine Generation vor ihnen. Voller Kleiderschrank, volles Kinderzimmer, voller Kühlschrank. Die Kleinen werden von Eltern zur Sprechstunde gebracht, denen nichts zu teuer ist für dieKarriere ihrer Söhne und Töchter, die mindestens so erfolgreich werden sollen wie sie.

Marie-Luise Hepp zieht den Vorhang zur Spielecke in ihrer Ludwigsburger Praxis zu. „Für Eltern verboten“, heißt es an der hölzernen Pforte. Was sie dahinter erfährt, passt nicht recht zum aufgehübschten Bild der Wohlstandskinder und schon gar nicht zu den politischen Hochglanzprospekten im Kinderland Baden-Württemberg, in denen so manches steht über Bildungschancen, aber nichts über Bildungspanik.

Heute war Elena in der Praxis, die sich blutig ritzt. Danach kamen Jens, der mit 13 ein „Burn-out“ hat, und Aynur, die aus Angst vor der Schule fast jeden Morgen spuckt. Jetzt wartet eine Mutter draußen. Sie hofft, dass Frau Doktor bei ihrem Sohn tief drinnen an den Stellschrauben des Ichs dreht, damit er wieder ins innere Gleichgewichtkommt und besser in der Schule wird. Frau Hepp geht es sacht an. Sie hat einen Sandkasten im Sprechzimmer. Dort gräbt sie mit dem Jungen. Sie suchen nach dem, was man nicht sehen, aber fühlen kann.

Es gibt eine ganze Menge „Unsichtbares“ im deutschen Bildungswesen. Die Politik hat die Brisanz dieses Themas erkannt. Es könnte Wahlen entscheiden. Wütende Eltern gehen auf die Straße. Andere suchen ihr Glück in Privatschulen, die einen Rekordandrang verzeichnen, oder werden gleich selbst zum Hilfslehrer. Vierzig Prozent der Väter und Mütter helfen ihren Kindern regelmäßig bei den Hausaufgaben. Manche fühlen sich unwohl dabei, bis sie feststellen, dass es ihre Nachbarn genauso machen. Zunehmend verlagern sich schulische Inhalte in die Elternhäuser. Sonntags wird in vielen Wohnstuben gelernt. Zusatzunterricht statt Muße. Wer nicht selbst mit dem Filius paukt, hilft anders nach. Fast zwei Milliarden geben deutsche Eltern jährlich für Nachhilfe und Lernsoftware aus.

Leider reicht auch das Eintrichtern oft nicht, um die „Rücksitzgeneration“ nach vorne zu bringen. In solchen Fällen liegt der Griff nach Präparaten nahe, puschende und beruhigende: Doping, über das man nicht gerne spricht. Vielleicht deshalb, weil es nicht etwa Kinder aus verarmten Elternhäusern oder sozial schwierigen Verhältnissen sind, die damit behandelt werden, sondern vor allem Schüler aus wohlhabenderen Familien, denen es scheinbar an nichts mangelt. Kinderpsychiater wie Marie-Luise Hepp stellen diesen Trend seit längerem fest. Die Frau, zu der Patienten aus der ganzen Region kommen, ist eine Art Seismograf für erziehungsbedingte Erschütterungen. Was die Nachfrage nach Medikamenten für Kinder betrifft, gibt es für sie kein Vertun: „Das hat bei uns massiv zugenommen.“

Frau Hepp sagt, dass immer mehr Kinder von Erwachsenen zu ihr geschickt werden, welche sich zu Diagnosen wie Hyperaktivität berufen fühlen. „Darf es auch etwas anderes sein“, fragt sie in solchen Fällen gerne mit ironischem Unterton, bevor sie sich ihr eigenes Bild macht. ADHS-Syndrom? Manche der vermeintlichen Patienten haben allenfalls einen intensiven Bewegungsdrang, den sie jedoch kaum noch ausleben können in einem Alltag, auf dem wachsender Druck lastet, welcher von Erwachsenen erzeugt wird, die selbst unter Druck stehen und deshalb zu Drückern werden – zu Wegdrückern.

Wenn es darum geht, was Kindern auf der Seele brennt, wird die Schuld gerne in Lehrplänen gesucht, selten aber in eigenen Lebensplänen. In der Verzweiflung hilft manchmal auch eine ärztliche Diagnose. Dann übernehmen andere die Verantwortung. Am Ende steht ein Befund, das „Ich weiß jetzt warum“-Syndrom, welches von Fachleuten kuriert wird, die sich auf die Reparatur von Seelen verstehen. Nur an sich selbst repariert der erwachsene Mensch nicht so gerne.

Dabei wäre es dringend geboten. Jedes fünfte Kind in Deutschland leidet unter Phobien und Panikattacken. Seit 1990 hat sich die Zahl der Kinder- und Jugendlichen, die in einer psychiatrischen Klinik behandelt wurden, im Südwesten verdreifacht. Fast 18 Prozent der Jungen und zwölf Prozent der Mädchen gelten laut einer Studie des Robert- Koch-Instituts als verhaltensauffällig oder emotional belastet. Tendenz steigend.

Die Befundmappen der Kinderpsychologen, die immer weniger werden, obwohl die Zahl der Betroffenen rasant steigt, bilden diese Entwicklung ebenso ab wie die Statistiken des Kinderschutzbunds in Stuttgart. Fast pausenlos klingelt dort das Kinder- und Jugendtelefon. Am anderen Ende der Leitungen sitzen junge Menschen, „die sich abgehängt fühlen“, wie Uwe Bodmer vom Telefondienst berichtet. Inzwischen gibt es auch einen Apparat für Eltern. Dort meldete sich neulich ein Pfarrer: „Ich nehme wahr, dass meine Kinder zunehmend unter dem Druck der schulischen Erwartungen leiden.“ Uwe Bodmer kann das bestätigen. „Die Angst vor schlechten Noten ist bei uns am Telefon ein Dauerbrenner“, sagt er. „Irgendwas läuft elementar schief in dieser Gesellschaft.“

In der Praxis von Marie-Luise Hepp wird manches wieder gerade. Bei ihr lernen Eltern und Kinder, sich zu vertrauen. Dafür braucht es Geduld. „Gebt der gemeinsamen Zeit eine eigene Qualität“, lautet ihre Botschaft. „Vertraut in eure Kinder und genießt die Zeit, die ihr miteinander habt.“ Doch so leicht ist das offenbar nicht. Statt über die kleinen Wunder zu staunen, die sich bei Kindern jeden Tag neu vollziehen, verzweifeln viele Eltern daran, dass ihre Kinder keine Wunderkinder sind.Für einen Moment schaut die Ärztin ins Wartezimmer. Es ist noch einiges zu tun. Am Türrahmen hängt eine Karte, auf der steht: „Du musst die Welt nicht verstehen. Aber du musst einen guten Platz darin finden.“ Frau Hepp hilft bei der Suche. Nicht eine Sprechstundenhilfe nimmt das Telefon ab. Sie macht das selbst.

Das hat den Vorteil, dass sie auch den Eltern begegnet und ihre Schwingungen spürt. Kinder begleiten heißt auch Eltern begleiten. Beide stehen oft gleichermaßen unter Bewährungsdruck. „Ich erlebe Erwachsene häufig sehr verunsichert“, sagt Frau Hepp. „Gerade dort, wo die Welt scheinbar in Ordnung ist, werden oft sehr hohe Mauern um das Privatleben gezogen, hinter die kaum jemand blicken kann.“Vieles geht schon in den ersten Schuljahren schief. Fast jedes zehnte Kind ist heute bereits mit fünf in der Grundschule. Alles soll schneller gehen im globalen Verdrängungswettbewerb. G8 im Gymnasium, verkürztes Bachelorstudium. Immer mehr Stoff wird in kleine Köpfe gepresst. Wachstum geht vor, wie später in der Wirtschaft. Die großen Köpfe befeuern die Selbststeigerung. Sie achten auf Zehntelsnoten und trimmen den Nachwuchs auf Konkurrenz. „Wir lassen uns vermessen“, sagt Marie- Luise Hepp. „Das ist die große Verführung.“

Experten wie der Schweizer Professor und Bestsellerautor RemoH. Largo glauben, die Ursachen zu kennen: „Die Erwartungen, Ansprüche und Ängste von Eltern haben in beängstigender Weise zugenommen. Viele haben Zukunftssorgen. Sie fürchten um ihren Arbeitsplatz und um die finanzielle Sicherheit. Deshalb haben sie auch Angst um den Erfolg ihrer Kinder. Hinzu kommt, dass die meisten Menschen heute nur noch ein oder zwei Kinder bekommen. Der Wert des einzelnen Kindes ist also enorm gestiegen. Es sind Wunschkinder, aus denen etwas Herausragendes werden soll.“Was aber ist mit dem Mittelmaß, was mit den Schwächeren? Was ist mit denen, die durchhängen, weil es zu Hause nicht rund läuft? Was ist mit Kindern, die heute noch nicht so weit sind, aber vielleicht morgen? „Wir haben für sie zu wenig Zeit!“ Diesen Satz hört Frau Hepp oft in ihrer Praxis. Sie sieht das ein bisschen anders. „Der Tag hat 24 Stunden, das hatte er auch schon bei den Sauriern“, sagt sie. „Es kommt darauf an, womit wir diese Zeit füllen. Das Innehalten undVerweilen ist für viele kein Wert mehr.“

Die Ärztin nimmt eine Kugel ausMooreiche aus dem Regal im Sprechzimmer, als wollte sie das Gesagte illustrieren. Die Kugel ist auf der einen Seite weich wie ein Kinderpopo, auf der anderen hat sie Risse und ist rau wie Schmirgelpapier. Bei ihr dürfen Kinder beide Seiten zeigen. So wie Anja, die gerade im Nebenzimmer ein Bild malt. Sie zeichnet ein Mädchen mit einem Herzen, in dem ein Friedhofskreuz steckt. „Wir achten zu wenig aufeinander“, sagt Marie-Luise Hepp mit einer Stimme, die so warm ist, dass es auf der Haut kitzelt. Sie sieht ein bisschen traurig aus.Der letzte Patient hockt im Wartezimmer. Ein Mädchen, das unter den Folgen des Amoklaufs von Winnenden leidet. Ihre Schule ist nicht in Winnenden, sondern ein gutes Stück entfernt. Sie musste sich damals im Klassenzimmer auf den Boden legen, Hände über den Kopf, eine Stunde lang. Keiner wusste, wo der Schütze ist, ein Junge, der in unfassbarer Weise ausgerastet ist. Das hat traumatische Erlebnisse, die weiter zurückliegen, bei ihr freigelegt. Bleischwere Angst sitzt jeden Tag neben ihr in der Schule. Frau Hepp arbeitet dagegen an.

Haben sich unsere Kinder verändert? Oder spiegeln sie nur wider? Was tun wir ihnen an, wenn sie nicht mehr Kinder sein dürfen, wenn sie zu Projektionen von Erwachsenen werden, die ihre eigene Identität über sie definieren? Was geht in Kindern vor, wenn sie nach dreieinhalb Jahren Schule auf zwei Noten reduziert werden, auf die Zukunftschancen erteilt werden? Was passiert in ihnen, wenn Dressur vor Lernen kommt? Was löst es aus, wenn den Kleinen vor lauter Fürsorge der Großen zwischen gedrängtem Schulprogramm, Musik und Sport keine Zeit mehr fürs Spielen bleibt?Einfache Antworten gebe es nicht, sagt die Kinderpsychiaterin nach einem langen Tag in der Praxis. Sie ist sich nur in einem sicher: „Wir müssen wieder mehr in Entwicklung denken.“ Das sei aus der Mode gekommen in einer Zeit, in der alles auf Knopfdruck gehen soll. Draußen hat sich unangemeldet eine Frau ins Wartezimmer geschlichen. Eine Mutter, die nicht weiterweiß. Der Sohn macht ihr Probleme. Vielleicht ist es auch umgekehrt. Frau Hepp bleibt länger.


Wie die Geschichte im Original auf einer ganzen Seite in der Zeitung abgedruckt und mit Bildern und Überschriften ge-layoutet war, können Sie hier als pdf-Datei anschauen: Sind so kleine Seelen