
"Warum haben Sie nicht geholfen?" - Der Folgeartikel vom 8. Januar 2024
Von Nicola MEIER und Vivian PASQUET
Vor drei Jahren starb der knapp sieben Monate alte Lönne bei einem Notarzteinsatz, vor einem Jahr erschien unser viel beachteter Text dazu. Jetzt hat ein Gericht den Arzt schuldig gesprochen – doch viele Fragen bleiben offen. Über ein Urteil, das für die Eltern keinen Frieden bringt.
»Ehrliche Antworten auf unsere Fragen«, sagt die Mutter am letzten Tag des Prozesses: »Das wäre das Letzte, was all diese Menschen noch für uns hätten tun können.« Es sind viele Fragen, die Martje Ratzow und ihr Mann seit drei Jahren haben. Seit einer Nacht im Januar 2021, als ein Notarzteinsatz mit dem Tod ihres damals knapp sieben Monate alten Sohnes Lönne endete. Der Notarzt soll erst die Medikamente viel zu hoch dosiert haben, so dass das Baby einen Herz-Kreislaufstillstand erlitt. Dann misslang die Wiederbelebung. Das Süddeutsche Zeitung Magazin hat vor einem Jahr über den Fall berichtet.
Verantwortlich für den Tod von Lönne sind in den Augen der Landwirte Martje und Niklas Ratzow nicht nur der Notarzt, der den Einsatz leitete, sondern auch die drei nichtärztlichen Rettungskräfte. Die Ermittlungen gegen die Rettungskräfte wurden eingestellt, der Notarzt kam wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht. Seit November 2023 wurde vor dem Amtsgerichts Ratzeburg verhandelt. Jetzt ist das Urteil gefallen: zehn Monate Haft auf Bewährung. Hinzu kommt ein fünfjähriges Berufsverbot.
Der Notarzt ist 60 Jahre alt, ein Allgemeinmediziner mit eigener Praxis, der zusätzlich Einsätze als Notarzt fährt. Fast regungslos verfolgt der Angeklagte in den vergangenen Monaten den Prozess. Manchmal schüttelt er den Kopf, wenn der Anwalt der Gegenseite oder Gutachter seine Schuld herleiteten. Oder wenn die Eltern ihm vorwerfen, er habe seine Fehler vertuschen wollen. Am fünften und letzten Prozesstag lässt er erstmals Emotionen erkennen. Er sieht die Eltern an und sagt: »Mir tut es unsagbar leid, dass Ihr Kind gestorben ist.« Er kenne die entsetzliche Trauer, auch das sagt er, und ihm bricht die Stimme. Er habe selbst ein Kind verloren, durch einen Unfall. »Ich wünsche Ihnen, dass Sie wieder Zufriedenheit im Leben finden«, sagt er. Und dann, ganz am Schluss: »Wenn Fehler passiert sind, bitte ich um Verzeihung.« Dass er diese Fehler gemacht habe, sagt er bis zuletzt nicht.
Am Abend des 18. Januar 2021 erlitt Lönne Ratzow einen Fieberkrampf, sein Vater Niklas Ratzow wählte den Notruf. Um kurz vor 22 Uhr traf der Notarzt gemeinsam mit einem Notfallsanitäter auf dem Hof der Landwirte Ratzow ein. Vor Ort waren da bereits ein weiterer Notfallsanitäter und eine Rettungssanitäterin. Sie hatten Lönne auf den Tisch gelegt und ihm Diazepam gegeben, ein Entkrampfungsmittel. Ein Fieberkrampf ist normalerweise nicht lebensbedrohlich. Lönnes Krampf hatte ungewöhnlich lange gedauert, aber auch er war erfolgreich durchbrochen, als der Notarzt die Küche betrat. Weil das Baby schwach wirkte, sollte es in die Uniklinik nach Lübeck gebracht werden, etwa 45 Minuten Fahrt von Ratzows Heimatort Klein Zecher entfernt. Um während des Transports im Notfall schnell Medikamente geben zu können, wollte der Notarzt einen Venenzugang am Arm legen. Da ihm das nicht gelang, entschied er sich für einen Zugang über den Knochen. Für diese »intraossäre« Gabe bohrte der Arzt ein kleines Loch in Lönnes rechten Schienbeinknochen – um im Anschluss Medikamente über die Knochenmarkhöhle in den Blutkreislauf spritzen zu können.
Lönnes Eltern erzählen vor Gericht, was nach dem Legen des Zugangs geschah. Dass Lönnes Atmung plötzlich flacher wurde, kurz nachdem der Arzt das Betäubungsmittel Lidocain zur Schmerzlinderung über den Schienbein-Zugang gespritzt hatte. Dass die Mutter rief: »Er atmet nicht mehr!« Dass sie aus dem Raum geschickt wurden, weil Lönne intubiert werden sollte. Als sich die Küchentür eine Stunde später wieder öffnete, sagte man den Eltern, ihr Kind sei erfolglos reanimiert worden, ein Seelsorger sei informiert. Nur auf das Drängen der Eltern hin wurde die Lübecker Uniklinik informiert, der Rettungswagen mit Lönne machte sich auf den Weg dorthin. Ein Kindernotarzt fuhr ihm entgegen. Als er das Baby um kurz vor Mitternacht auf einem Parkplatz übernahm, stellte er fest, dass der Beatmungsschlauch nicht in der Luftröhre steckte. Sondern im Rachen. Als Lönne die Kinderintensivstation des Uniklinikums Lübeck erreichte, waren seine Arme und Beine bereits kalt, seine Haut blass, seine Pupillen starr. Noch bevor die Eltern bei ihrem Sohn ankamen, wurde er für tot erklärt. Zwei Uhrzeiten sind den Eltern fest ins Gedächtnis gebrannt. 21.26 Uhr: Da wählten sie den Notruf. 22.22 Uhr: Da blieb Lönnes Herz stehen.
Schon in der Nacht von Lönnes Tod glaubten Martje und Niklas Ratzow, dass dem Notarzt tödliche Fehler unterlaufen waren. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft begannen für die Eltern viel zu langsam. Die Suche nach der Wahrheit fühlte sich für sie in den nächsten Monaten wie ein Kampf an, den sie ganz allein bestritten: Mal erhielten sie monatelang keine Akteneinsicht, mal mussten sie selbst auf Unstimmigkeiten im Notarztprotokoll hinweisen. Worte des Beileids vom Notarzt oder von den drei nichtärztlichen Rettungskräften hörten sie in all der Zeit nicht. Der Notarzt beauftragte stattdessen eine renommierte Medizinrechtskanzlei in München mit seiner Verteidigung. Wie üblich in solchen Verfahren, benannte die Verteidigerin einen eigenen Gutachter. Während des Prozesses stellt dieser Gutachter eine unerkannte Epilepsie als Lönnes Todesursache in den Raum und überlegt einmal laut, ob die Mutter, die damals noch stillte, vielleicht zu viel Koffein zu sich genommen haben könne.
Ein von der Staatsanwaltschaft beauftragter Gutachter, ein angesehener Kindernotfallmediziner, ordnet die Abläufe ganz anders ein. Zwei Fragen, sagt er zu Beginn seiner Erklärung, seien wichtig: Wie kam es zum Herz-Kreislaufstillstand? Und weshalb war die nachfolgende Reanimation erfolglos? Nach dem Legen des Knochenzugangs spritzte der Notarzt ein starkes Betäubungsmittel: Lidocain. Lidocain ist in der Kindernotfallmedizin ein umstrittenes Medikament, weil es so schwierig ist, die richtige Dosis für ein Kind zu treffen. Und weil die Nebenwirkungen – Blutdruckabfall, Herzrhythmusstörungen, Krampfanfälle – lebensgefährlich sein können.
Der Gutachter der Staatsanwaltschaft hält eine Spritze in der Größe hoch, wie sie auch der Notarzt in der Nacht von Lönnes Tod benutzt hat. Man könne mit dieser Spritze kaum die richtige Dosis für ein Kind aufziehen, erklärt er. Er sei sich sicher, dass die Dosis zu hoch war und einen zweiten Krampfanfall auslöste – den der Notarzt mit einem weiteren krampflösenden Mittel zu durchbrechen versucht habe. Entweder das Lidocain allein oder aber die Summe aus allen Medikamenten hätten daraufhin zum Herz-Kreislaufstillstand geführt.
Niklas Ratzow legt die Hand auf die Schulter seiner Frau. Beide wirken während der Prozesstage gefasst, sehen aber müde und abgekämpft aus. Immer wieder wenden sie sich, während die Gutachter sprechen, selbst an die Vortragenden. Spricht Niklas Ratzow, der Landwirt, klingt er wie ein Mediziner. Fachbegriffe wie »Torsade de Pointe« oder »Corpuls3-Gerät« gehen ihm mühelos über die Lippen. Verwechselt der Anwalt der Eltern manchmal medizinische Fachbegriffe, korrigiert ihn Niklas Ratzow umgehend.
Während des Prozesses spricht Niklas Ratzow oft von »dem Kind« statt von Lönne, sichtlich bemüht, seine Emotionen zu beherrschen. Als wolle er die Chance, möglichst sachlich alle Fragen stellen zu können, nicht verstreichen lassen. Warum hat keiner der Anwesenden die Dosierung der Medikamente kontrolliert? Warum hat niemand gesehen, dass der Bildschirm eine fehlerhafte Beatmung anzeigte? Warum hat das Rettungsteam erst nach mehr als einer Stunde Hilfe aus Lübeck angefordert?
Auf die Frage der Staatsanwältin, ob man Lönne durch eine korrekt durchgeführte Reanimation hätte retten können, antwortet der Gutachter der Staatsanwaltschaft: »Ja.« Er zeigt Messdaten aus einem Gerät, mit dem Mediziner prüfen können, ob eine Intubation erfolgreich ist. Zuerst, sagt er, sei die Beatmung erfolgreich gewesen. Irgendwann im Verlauf der Reanimation sei aber kein Sauerstoff mehr im Körper des Kindes angekommen. Lönnes Blutwerte seien vergleichbar mit denen von Ertrinkungsopfern. Die Fehler, die der Notarzt in jener Januarnacht nach Auffassung des Gerichts beging und die dem Baby Lönne Ratzow das Leben kosteten, gehören zu den häufigsten in der Kindernotfallmedizin: falsche Dosierung von Medikamenten sowie falsche Beatmung. Viele Rettungskräfte sind in Deutschland schlecht auf einen Kindernotfall vorbereitet. Hierzulande können Ärzte und Ärztinnen jeder Fachrichtung als Notarzt arbeiten. Die allermeisten sind Erwachsenen-Mediziner und fahren nebenberuflich im Rettungsdienst, so wie der nun verurteilte Notarzt. Sie haben keine tägliche Routine mit kindlichen Körpern, die in vielerlei Hinsicht eine andere Behandlung als die Körper von Erwachsenen brauchen. Immer wieder kommt es so zu tödlichen Zwischenfällen. Obwohl Fachleute seit Jahren warnen, handelt die Politik nur halbherzig: Die Ausbildung von Notärzten ist für Kindernotfälle erschreckend lückenhaft.
Vor dem Prozess haben Martje und Niklas Ratzow dafür gekämpft, dass der Fall am Landgericht Lübeck verhandelt wird, weil dort ein höheres Strafmaß denkbar wäre. Vergeblich. Schon zu Beginn des Prozesses dämpft der Richter deshalb die Erwartung der Eltern an den Ausgang des Verfahrens. »Wir sprechen hier von einem möglichen Strafrahmen wie bei einem Diebstahl. Warum also machen wir das Ganze hier?«, fragt er – und gibt die Antwort selbst: »Es geht hier auch darum, Worte zu finden zwischen den Beteiligten.« Trotz dieses Appells ist dies in fünf Prozesstagen nicht gelungen: dass Eltern, Angeklagter und Zeugen miteinander sprechen.
An einem der Verhandlungstage sitzt eine der nichtärztlichen Rettungskräfte im Zeugenstand, sie bricht in Tränen aus. Sie befinde sich in Therapie und sei derzeit arbeitsunfähig. Sie spricht viel von ihrem eigenen Leid, davon, wie auch sie der Einsatz erschütterte. Von der Medikamentengabe, sagt sie, habe sie nichts mitbekommen. Einer der Notfallsanitäter erklärt während seiner anschließenden Zeugenaussage schlicht: »Das lag nicht in meinem Aufgabenbereich.« Dieser Notfallsanitäter sitzt am letzten Prozesstag im Zuschauerraum. Martje Ratzow spricht ihn direkt an. »Warum haben Sie meinem Sohn nicht geholfen?« Neben Trauer spüren die Ratzows schon lange große Wut. Ihre Vorwürfe sind mit der Zeit immer gewaltiger geworden. Die Eltern gehen inzwischen davon aus, dass der Notarzt seine Fehler bemerkte – und vertuschen wollte.
Der Richter folgt diesem Gedanken während seiner Urteilsbegründung nicht. Aber er sagt, er könne nach jenen Verhandlungstagen vor Gericht besser verstehen, warum die Eltern ihn überhaupt haben. Allzu oft haben sich Notarzt und nichtärztliche Rettungskräfte nicht erinnern können, wenn es darum ging, was in jener Nacht in der Küche geschah. »Es bleibt eine medizinische Blackbox«, sagt der Richter in seiner Urteilsbegründung. Er sagt auch: »Was Sie gesagt haben, war für das Gericht oft nicht glaubhaft.« Was passiert ist, nennt er ein »Multi-Versagen«.
Als er sein Urteil spricht, zehn Monate Freiheitsstrafe auf Bewährung sowie ein fünfjähriges Berufsverbot, verweist er auf das Alter des Angeklagten, 60 Jahre. Er gehe davon aus, sagt der Richter, dass der Arzt nie mehr als Notarzt im Einsatz sein werde.
Online am: 08.02.2024
Aktualisiert am: 26.06.2024
Inhalt:
- "Versorgungslücke": der Originalbericht im SZ-Magazin
- "Warum haben Sie nicht geholfen?" - Der Folgeartikel
- Wie der Bericht entstand: das Making-of
- Die beiden 'ausgezeichneten' Journalistinnen: Nicola MEIER und Vivian PASQUET
- Die Entstehungsgeschichte von HeldenStärker
- Was kann man tun?
Tags:
Gesundheit und Leben | Gesundheitswesen | Justiz | Kinder | Medizin | Notfallrettung

Auszeichnungen:
"Wächterpreis der Tagespresse" 2024