
Wie der Bericht entstand: das Making-of
Aufgeschrieben von Nicola MEIER und Vivian PASQUET
Eine Freundin aus Studienzeiten, die Jahre zuvor ebenfalls ein Kind verloren hatte, hat mich auf einen Instagram-Post aufmerksam gemacht, in dem es um den Vorfall ging und auch um eine mögliche Berichterstattung. Die Ermittlungen zu Lönnes Tod waren damals, Monate nach seinem Tod, noch nicht weit und seine Eltern hatten den Eindruck, dass diese nicht schnell und umfassend genug geführt wurden. Und so nahm ich, Nicola MEIER, Kontakt mit den Eltern auf. Und es kam zu einem ersten Vorgespräch.
Die eigentliche Recherche begann im Mai 2021 - nach dem Vorgespräch und nachdem ich Akteneinsicht erhalten hatte. Das war im Sommer 2021. Und endete ersteinmal in einer Pause, weil wir, die Eltern und ich, auf die diversen von der Staatsanwaltschaft in Auftrag gegebenen Gutachten warten mussten.
Die Informationen daraus erwiesen sich als komplex. Und weil ich selbst medizinische Sachverhalte nictht wirklich einschätzen konnte, weihte ich eine Kollegin, Vivian PASQEUT mit in die Recherche ein. Fortan arbeiteten wir zu zweit an diesem Fall. Da kann man Arbeitsteilung machen und alles geht schneller, wenn man sich dann regelmäßig gegenseitig über Erkenntnisse und Zwischenergebnisse informiert.
Die Eltern des Babys, das nach einem Fieberkrampf im Rahmen eines Notarzteinsatzes gestorben war, fühlten sich von Beginn an von den zuständigen Behörden nicht ausreichend informiert über den Einsatz und hatten das Gefühl, dass ihnen wesentliche Informationen zum Tod ihres Sohnes vorenthalten wurden. Dieses Gefühl wurde in den folgenden Monaten immer stärker, je mehr sie über die Umstände des Einsatzes erfuhren. Die Ohnmacht, die sie gegenüber den Behörden verspürten, war auch der Grund, wieso sie sich eine journalistische Dokumentation der Geschehnisse wünschten. Und so stiegen wir in das Thema ein.
Dass gravierende Fehler passiert waren, lag auch für uns Journalistinnen auf der Hand. Der Notarzt hatte sich offenbar bei der Dosierung mehrerer Medikamente geirrt. Und er schien das Kind nachfolgend, als es reanimiert werden musste, falsch intubiert zu haben. Wie aber konnten solch schwerwiegende Fehler passieren? Und war es üblich, dass ein Hausarzt zu einem Säuglings-Notfall gerufen wurde – und kein Kindernotfallmediziner? Mit diesen Fragen im Kopf begannen wir, tiefer zur Notfallversorgung von Kindern zu recherchieren.
Vor unserer Recherche dachten wir: Hat man ein schwerkrankes Kind und wählt die 112, kommt ein Arzt, der sich mit der Versorgung von Kindern allumfassend auskennt. Im Gespräch mit etlichen Kindernotfallmedizinern, engagierten Eltern und durch die Lektüre dutzender Fachveröffentlichungen lernten wir: Das ist nicht unbedingt der Fall. In Deutschland sind es äußerst selten Kinderärzte, die zu Kindernotfällen gerufen werden. Fast immer sind die Notarztwägen mit Erwachsenen-Medizinern besetzt. Und die sind häufig nicht ausreichend in der Behandlung von Kindern ausgebildet. Nur wenige Stunden sind für das Thema „Kinder“ während der Ausbildung zum Notarzt reserviert, eine Fortbildungspflicht für die Behandlung der Kleinsten besteht in vielen Bundesländern nicht.
Im Laufe unserer Recherche wurde immer klarer, dass ein Kind im Fall eines medizinischen Notfalls in Deutschland nicht immer die Hilfe bekommt, die es braucht. Ein Problem, das – außer in Fachkreisen – öffentlich kaum bekannt ist. Die häufigsten Fehler, die passieren: Falsche Dosierung der Medikamente und falsche Beatmung. Genau jene Fehler also, die im Fall des verstorbenen Babys passiert waren.
Da dessen Tod noch vor Gericht verhandelt werden würde, wollte außer den Eltern des toten Jungen keiner der Beteiligten öffentlich sprechen. Auch viele vom Fall unabhängige Expertinnen und Experten wollten den Fall nicht öffentlich einordnen. Das war eine große Herausforderung, und es brauchte um so mehr Zeit und Mühe, die medizinischen Sachverhalte einordnen und bewerten zu können. Die Reporterinnen (eine Autorin ist selbst promovierte Medizinerin) wälzten dafür Lehrbücher, studierten Studien und führten Interviews nicht nur mit Kindernotärzten, sondern auch mit Rechtsmedizinern, Pathologen, Erwachsenen-Notärzten, Rettungssanitätern und deren Ausbildern, bis sie sicher sagen konnten: Bei dem Tod des Jungen handelt es sich um mehr um einen tragischen Einzelfall. Er steht auch für ein systemisches Versagen.
Ein Fokus für unseren Artikel, über den wir die Eltern des verstorbenen Jungen vor Veröffentlichung informierten, von dem diese aber enttäuscht waren. Weil er für sie die Schuld des Arztes und der Rettungskräfte, die hätten einschreiten können, zu mindern schien. Leider haben wir heute keinen Kontakt mehr.
Der Notarzt wurde rund ein Jahr nach Erscheinen unseres Artikels wegen fahrlässiger Tötung zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, den Prozess begleiteten wir ebenfalls und schrieben einen Folgeartikel “Warum haben Sie nicht geholfen?”, erschienen am 8. Januar 2024
Inzwischen sind die Eltern des verstorbenen Kindes Teil einer Initiative, die sich für eine bessere Notfallversorgung von Kindern einsetzt: https://denkanloenne.de
Auch jene Mutter, die ihren Sohn ebenfalls bei einem Notarzteinsatz verlor, kämpft dafür: www.heldenstaerker.de. Wie diese letzte Initiative entstand und wie sie arbeitet, haben uns die Initiatoren selbst aufgeschrieben: Das ist Heldenstärker
Online am: 08.02.2024
Aktualisiert am: 27.06.2024
Inhalt:
- "Versorgungslücke": der Originalbericht im SZ-Magazin
- "Warum haben Sie nicht geholfen?" - Der Folgeartikel
- Wie der Bericht entstand: das Making-of
- Die beiden 'ausgezeichneten' Journalistinnen: Nicola MEIER und Vivian PASQUET
- Die Entstehungsgeschichte von HeldenStärker
- Was kann man tun?
Tags:
Gesundheit und Leben | Gesundheitswesen | Justiz | Kinder | Medizin | Notfallrettung

Auszeichnungen:
"Wächterpreis der Tagespresse" 2024