"Versorgungslücke": der Originalbericht im SZ-Magazin
Ein Baby bekommt einen Fieberkrampf, die Eltern wählen den Notruf. Heute sagen sie, der Notarzt trage die Verantwortung für den Tod ihres Sohnes. Für Kindernotfälle fehlen vielen Rettungskräften die Fachkenntnisse. Warum werden sie nicht ausreichend auf den Ernstfall vorbereitet?
Ein Bericht des SZ-Magazin von Nicola MEIER und Vivian PASQUET vom 16. Februar 2023
An seinem letzten Abend wird Lönne wach, seine Mutter Martje Ratzow sieht das Strampeln auf dem Babyfon im Wohnzimmer. Sie holt ihren Sohn aus seinem Babybett, nimmt ihn auf den Arm und singt ihm etwas vor. Nach einer Viertelstunde scheint Lönne wieder einzuschlafen. Dann aber zuckt er, verdreht die Augen. Er erbricht und beginnt zu krampfen. Martje Ratzow ruft nach ihrem Mann.
Es ist 21.26 Uhr am 18. Januar 2021, als Lönnes Vater Niklas Ratzow den Notruf wählt.
Hier ist der Notruf Feuerwehr/Rettungsdienst, in welchem Ort ist der Notfall?
Klein Zecher.
Ein- oder Mehrfamilienhaus?
Das ist ein Einfamilienhaus, Bauernhof.
Klein Zecher ist eine kleine Gemeinde am Rand von Schleswig-Holstein, rund 250 Einwohner. Sattgrüne Wiesen, norddeutsche Weite. Martje und Niklas Ratzow sind Landwirte, beide 40 Jahre alt. Auf ihren Feldern bauen sie Raps, Mais und Gerste an. Sie haben drei Kinder, ihr ältester Sohn ist 2021 sechs Jahre, ihre Tochter vier Jahre und Lönne, ihr jüngster Sohn, knapp sieben Monate alt.
Niklas Ratzow atmet schwer in den Telefonhörer, als er dem Mann in der Leitstelle schildert, dass sein Sohn »krampft und spuckt«.
Bis heute hat die Medizin keine abschließende Antwort darauf, weshalb zwei bis fünf Prozent aller Säuglinge und Kleinkinder bei Fieber zu Krampfanfällen neigen. Weshalb ihre Gehirn-Nervenzellen unkontrolliert Signale feuern, sich ihre Muskulatur versteift, sie kurzzeitig aufhören zu atmen, sich Schaum vor ihrem Mund bildet. Für medizinische Laien sieht ein Fieberkrampf schrecklich aus.
Ich schicke Ihnen die Kollegen vorbei.
Können Sie eine ungefähre Zeit sagen?
Ich schätze mal, so zehn Minuten werden die brauchen.
Alles klar.
Die Leitstelle alarmiert einen Rettungswagen, besetzt mit einem Notfallsanitäter und einer Rettungssanitäterin. Sie werden in jener Nacht zuerst in Klein Zecher eintreffen. Gleichzeitig bekommt ein Team aus Notarzt und einem weiteren Notfallsanitäter die Nachricht: krampfender Säugling! Im Notfall fahren immer ein Rettungswagen und zusätzlich ein Notarztwagen los.
Mit dem Notarzt kommt Hilfe, das ist eine Annahme, von der wir alle ausgehen. Dafür ist er da: um Leben zu retten. Dass nicht jedes Leben zu retten ist, gehört auch zur Wahrheit, manche Notfälle sind zu schwer. Aber ein Fieberkrampf bei einem Baby ist in der Regel nicht lebensbedrohend. Oft dauert der Krampf nur wenige Minuten, und der kleine Körper ist danach erschöpft, aber gesund.
Um 21.51 Uhr erreicht der Notarztwagen den Hof der Familie Ratzow, acht Minuten nach dem Rettungswagen. Der Arzt nimmt die Holztreppe in den ersten Stock, wo in der Küche auf dem Tisch Lönne Ratzow liegt. Die Rettungskräfte haben bereits Lönnes Temperatur gemessen, 38,6 Grad, und ihm rektal zwei Zäpfchen gegeben, Diazepam, ein Entkrampfungsmittel. Der Krampf ist jetzt, um 22 Uhr, dank der Zäpfchen schon durchbrochen.
Drei Stunden später ist der kleine Junge tot.
Wie das passieren konnte, ist inzwischen Gegenstand ärztlicher Gutachten und wird bald vor Gericht verhandelt werden. Denn heute, zwei Jahre später, sagen die Eltern: »Ohne den Notarzt würde unser Kind noch leben.«
Der Tod des Jungen Lönne Ratzow ist mehr als ein tragischer Einzelfall. Er zeigt auch, wie allein gelassen sich Angehörige fühlen, wenn bei einem Notarzteinsatz etwas schiefgeht. Und er steht exemplarisch für ein medizinisches System, das Notärzte nicht immer ausreichend auf die Behandlung von Kindern vorbereitet. Es geht um die Frage, ob das, was vor zwei Jahren in Klein Zecher passiert ist, jederzeit wieder passieren könnte. Oder vielleicht längst passiert ist.
Rufen Eltern in Deutschland den Notruf, rechnen sie damit, dass ein Notarzt kommt, der sich allumfassend mit der Behandlung von Kindern auskennt. Aber das ist die Ausnahme. Oft kommt ein Notarzt, der auf die Behandlung von Erwachsenen spezialisiert ist – obwohl man längst weiß, dass Kinder keine »kleinen Erwachsenen« sind: Ihr Körper funktioniert nicht wie der der Großen, im Notfall muss ein Arzt oder eine Ärztin anders handeln.
Der Notarzt, der in jener Januarnacht vor zwei Jahren nach Klein Zecher geschickt wird, ist Allgemeinmediziner. In seiner Praxis behandelt er vor allem Erwachsene. Menschen mit grippalen Infekten, Bluthochdruck, Diabetes. Wie viele andere Allgemeinmediziner und Internisten, Chirurgen und Anästhesisten fährt er zusätzlich als Notarzt. Natürlich wäre es besser, wenn standardmäßig Kindernotärzte zu Kindernotfällen fahren würden. Doch viele Gemeinden sind froh, wenn die Notarztwagen überhaupt mit Personal besetzt sind. Außerdem, so heißt es oft, seien Kindernotfälle mit zwei bis zehn Prozent aller Einsätze ohnehin selten. Bundesweit treffen dennoch jährlich mehrere Hunderttausend Kinder auf einen Erwachsenenarzt. Meistens verlaufen diese Zusammentreffen gut – weil das Kind nur gestürzt ist, einen leichten Atemwegsinfekt hat, ein gebrochenes Bein oder eben einen einfachen Fieberkrampf. Aber was, wenn nicht?
I. Die Nacht
Im Hausflur der Famile Ratzow brennt eine Kerze, im Wohnzimmer steht ein gerahmtes Foto auf dem Tisch. Es ist November 2022, fast zwei Jahre nach Lönnes Tod. Im ganzen Haus erinnern Fotos an ihn: Lönne nach seiner Geburt, Lönne zwischen seinen Geschwistern, Lönne im Kinderwagen. Stechend blaue Augen, Babylachen. Im Kinderzimmer ist noch immer die Wickelkommode aufgebaut. Darauf Feuchttücher und Lönnes Babyschlafsack. Daneben liegt das Baby -Erinnerungsbuch „Unser erstes gemeinsames Jahr“, bis auf wenige Seiten ist es leer.
Sie hätte sich während der Schwangerschaft so viele Gedanken gemacht, sagt Martje Ratzow heute. Ob sie das schaffen würden: die Arbeit und ein drittes Kind. »Dann war er da – und es war alles so einfach.« An den Trubel auf dem Hof schien Lönne sich im Bauch gewöhnt zu haben. »Er wollte immer dabei sein«, sagt Martje Ratzow. Bei seinen Eltern, bei seinen Geschwistern, die stolz den Kinderwagen über den Hof schoben. Heute haben sie Angst, Lönne zu vergessen. Deshalb gucken sie oft Videos zusammen, damit sie sich besser an ihren kleinen Bruder erinnern. »Mich bringt es fast um«, sagt Martje Ratzow.
Immer häufiger hört sie jetzt, dass sie »auch mal abschließen« müsse. Sie fragt: »Wie denn, wenn nicht aufgearbeitet wird, weshalb Lönne tot ist?« Das Ehepaar Ratzow will, dass endlich jemand zur Verantwortung gezogen wird. Dafür kämpfen sie, bald auch vor Gericht. Andere würden sagen: Sie verkämpfen sich.
Lönnes Todesumstände füllen inzwischen mehrere Aktenorder. Niklas Ratzow, von außen ruhiger als seine Frau, sagt: »Man kann ja auch nicht erwarten, dass sich jeder mit diesen medizinischen Details auskennt.« Er, der Landwirt, weiß inzwischen genau Bescheid über die rettungsdienstlichen Algorithmen von Fieberkrämpfen und den Abbau von Medikamenten im Körper. Er kann erklären, was ein »prolongierter Krampf« ist und was ein »intraossärer Zugang«. Niklas Ratzow nimmt die Stufen in den ersten Stock, wie es am 18. Januar 2021 auch die Rettungskräfte taten. Links die Kinderzimmer, rechts die Tür zur Küche, ein großer Esstisch. Auf dem wurde Lönne damals behandelt. »Hier hat der Notarzt seine Sachen ausgepackt«, sagt Niklas Ratzow und zeigt auf die Arbeitsplatte am Küchenfenster.
Er und seine Frau haben schon am Tag nach Lönnes Tod ein Gedächtnisprotokoll über den Einsatz geschrieben. Das SZ-Magazin hatte außerdem Einsicht in die Ermittlungsakten der Polizei und Zeugenvernehmungen, kennt alle medizinischen Gutachten zum Fall und sprach mit weiteren unabhängigen Medizinern. Auch wenn weder der Notarzt noch die nichtärztlichen Rettungskräfte zu einem Gespräch über die Nacht des 18. Januar 2021 bereit sind, lässt sich so rekonstruieren, was damals passiert sein muss.
Als der Notarzt auf Lönne trifft, wirkt das Baby auf ihn blass. Der Fieberkrampf hat ungewöhnlich lange gedauert, mindestens 20 Minuten, und zu einem leichten Sauerstoffmangel geführt. Deshalb wird Lönne bereits von den nichtärztlichen Rettungskräften mit einer Maske über Mund und Nase beatmet. Wegen der langen Krampfdauer soll das Kind zur Sicherheit in die Uniklinik nach Lübeck verlegt werden, etwa 45 Minuten Fahrtdauer entfernt. Für den Fall, dass sich Lönnes Zustand verschlechtern sollte, versucht der Notarzt einen Venenzugang zu legen, um schnell Medikamente geben zu können. Er sticht Lönne erst an der Ellenbeuge, dann am winzig kleinen Handrücken. Als das nicht gelingt, entscheidet er sich für einen Zugang über den Knochen. Für diese »intraossäre« Gabe bohrt der Arzt ein kleines Loch in Lönnes rechten Schienbeinknochen – um im Anschluss Medikamente über die Knochenmarkhöhle in den Blutkreislauf spritzen zu können.
Woran sich die Eltern noch erinnern, so schreiben sie es in ihrem Gedächtnisprotokoll auf: dass Lönne beim Legen des Zugangs strampelt. Dass der Notfallsanitäter so etwas wie »Ten for ten« sagt. Dass, nachdem der Arzt ein Medikament über den Schienbein-Zugang gespritzt hat, plötzlich Lönnes Atmung flacher wird. Dass das Übe rwachungsgerät rot blinkt und piept und Martje Ratzow ruft: »Er stirbt, nun macht doch was!« Als das Herz ihres Kindes zu schlagen aufhört, werden die Eltern aus dem Raum geschickt. Lönne soll intubiert werden, das ist das Letzte, was die Ratzows mitbekommen. Dann schließt sich die Küchentür zwischen ihnen und ihrem Kind.
22.25–23.25 Uhr keine Info an uns, dreimalige Nachfrage von draußen: »Bitte warten Sie, wir brauchen noch Zeit.«
Die Ratzows versuchen, sich mit ihren Erkenntnissen aus einem Baby-Erste-Hilfe-Kurs zu beruhigen. Dort haben sie gelernt, dass Kinderreanimationen oft erfolgreich verlaufen.
Sie laufen durchs Haus, Treppe hoch, Treppe runter, Martje Ratzow packt eine Tasche, darin Strampler und Lönnes Schlafanzug, für sich eine Zahnbürste. »Gleich fahren wir alle ins Krankenhaus nach Lübeck, habe ich gedacht.«
Mehrfach öffnen sie die Küchentür einen Spalt, sehen ihren Sohn nicht, weil jetzt alle Rettungskräfte um den Tisch herum stehen. Immer wieder, so erinnern sie sich, schicken die Einsatzkräfte sie zurück in den Flur.
23.25 Uhr nach vierter, sehr eindringlicher Nachfrage kommen erst Notarzt und die Frau raus, um uns zu informieren.
Die Eltern schildern, man habe ihnen gesagt, dass ihr Kind nun eine Stunde beatmet wurde und Herzdruckmassage erhalten habe, doch es sei keine Reaktion erfolgt. Der Notarzt, so empfinden sie es, habe den Einsatz abbrechen wollen.
Sie sind die Abläufe inzwischen tausendfach durchgegangen. Wie ihnen die Rettungskräfte mitteilten, dass 35 Minuten zuvor ein Seelsorger informiert worden sei und gleich eintreffen werde. Wie ihnen der Arzt erklärte, Lönne habe wohl sein eigenes Erbrochenes eingeatmet. Auch erinnern sie sich, dass er Lönne noch vor Ort für tot erklären wollte. »Wir haben gefragt, ob Lönne noch mit Sauerstoff versorgt wird«, sagt Niklas Ratzow. »Als der Notarzt das bejahte, haben wir darauf bestanden, dass er jetzt endlich nach Lübeck gebracht wird«, sagt Martje Ratzow.
Erst jetzt, es ist fast 23.30 Uhr und das Rettungsteam schon mehr als eine Stunde in der Küche der Ratzows, bittet es schließlich die Kinderintensivstation des Universitätsklinikums Lübeck um Unterstützung. Umgehend wird ein Kindernotarzt in Richtung
Klein Zecher geschickt. Dort fährt der Rettungswagen mit Lönne los – ohne die Eltern. Es heißt, es sei kein Platz im Wagen, außerdem befinde man sich in der Corona-Pandemie. Martje und Niklas Ratzow sind deshalb nicht dabei, als auf einem Parkplatz hinter einer Ausfahrt der B207 in Ratzeburg, etwa auf halber Strecke, der Lübecker Kindernotarzt Lönne entgegennimmt, kurz vor Mitternacht. Sie sind nicht dabei, als er den Tubus kontrolliert und feststellt, dass dieser nicht in der Luftröhre steckt, sondern im Rachen. Und sie wissen nicht, dass er Lönne erneut intubiert, ehe er wiederholt Adrenalin spritzt. Um 0.28 Uhr erreicht Lönne die Kinderintensivstation des Uniklinikums Lübeck. Da sind seine Arme und Beine bereits kalt, seine Haut blass, seine Pupillen starr. 13 Minuten später, um 0.41 Uhr, wird er für tot erklärt.
Der Seelsorger, der zu Martje und Niklas Ratzow gerufen wurde , fährt das Ehepaar nach Lübeck. In den frühen Morgenstunden des 19. Januar legen Martje und Niklas Ratzow ein Kuscheltier neben ihren toten Sohn ins Krankenbett. Für den Abschied haben die Ärzte Tubus und Magensonde entfernt. Der leitende Kinderarzt erlebt die Eltern in der Ausnahmesituation als »sehr differenziert«. Niklas Ratzow kann das noch heute: ruhig und informiert darüber sprechen, was passiert ist. Aber wenn sie jetzt über den Notarzt reden, sagt Martje Ratzow weinend: »Er hat Lönne umgebracht.«
II. Angst vor Einsätzen
Fast 20 Jahre bevor Lönne Ratzow starb, nahmen rund hundert Ärzte und Ärztinnen während eines medizinischen Workshops an einer Umfrage teil. Die Chirurgen, Anästhesisten, Allgemeinmediziner und Gynäkologen hatten alle einen Notarztschein. In der Umfrage wurden die Mediziner gefragt, vor welcher Art von Einsätzen sie die größte Angst hätten. Ihre Antworten werden bis heute immer wieder von Kindernotfallexperten zitiert. Acht Prozent nannten Patienten, bei denen es Probleme mit der Beatmung gibt. 16 Prozent fürchteten einen »Massenanfall von Verletzten«: etwa schwere Unfälle mit mehreren Autos, bei denen ein Arzt minutenschnell entscheiden muss, wen er sterben lassen muss. Andere fürchteten sich vor mehrfach verletzten Patienten oder abgetrennten Gliedmaßen. Es war eine beängstigende Auswahl von Extremsituationen. Doch ein Szenario übertraf mit 84 Prozent alle anderen Ängste bei Weitem: die Angst, während eines Einsatzes auf ein Kind zu treffen.
»Diese Angst vor dem Kindernotfall ist schon lange bekannt, und trotzdem hat unser System bisher keine zufriedenstellende Antwort darauf. Viele Notärzte sind einfach nicht ausreichend für Kindernotfälle ausgebildet«, sagt Florian Hoffmann. Er arbeitet als Oberarzt auf der Kinderintensivstation des Dr. von Haunerschen Kinderspitals, einer Kinderklinik der Ludwig-Maximilians-Universität in München. An diesem Sommerabend im Juli 2022 sitzt er im Aufenthaltsraum der Hauptfeuerwache in München. Von hier rückt der Kindernotarztwagen aus. Für den arbeitet Hoffmann seit 18 Jahren, inzwischen ist er dessen ärztlicher Leiter.
Immer wenn in München oder im dortigen Umland ein Kindernotfall passiert, informiert die Leitstelle zusätzlich zum gängigen Notarzt auch diesen Kindernotarztwagen. Sieben Tage pro Woche, Tag und Nacht. Die Krankenkassen übernehmen die Kosten – eine Ausnahme. Zwar gibt es auch in anderen Städten Kindernotarztwagen, aber oft fahren diese nicht durchgehend, weil sie auf Spenden angewiesen sind oder nur ein Arzt sie besetzt, ehrenamtlich. In vielen Regionen aber gibt es nicht mal das. Kinderärzte werden nur dann aus einer Klinik nachgefordert, wenn der Erwachsenenmediziner nicht weiterweiß. Manchmal kommen sie zu spät.
In Deutschland können Ärzte jeder Fachrichtung als Notarzt arbeiten. Sie müssen bereits Praxiserfahrung haben und unter anderem einen 80-stündigen Notarztkurs absolvieren. Darin lernen sie etwa, wie man einen Menschen mit zertrümmertem Brustkorb wiederbelebt, Arterienverschlüsse behandelt oder schlechte Nachrichten überbringt. Auch Säuglinge und Kinder haben ihren Platz in der Ausbildung. Trotzdem nennt Florian Hoffmann die Ausbildung »katastrophal«. Er sagt: »Wissen Sie, wie viele Stunden dieses 80-stündigen Notfallkurses im Schnitt für Kindernotfälle reserviert sind? Drei bis vier!« Er sagt auch: »Das bereitet nicht darauf vor, was einen da draußen erwartet.«
Was einen da draußen erwartet: Armvenen, so zart, dass selbst erfahrene Ärzte manchmal keinen Medikamentenzugang legen können. Köpfe, im Verhältnis zum Körper so groß, dass sie im Liegen leicht hin- und herwackeln und Atemschläuche schnell verrutschen. Ein Körper, der je nach Größe und Alter eine andere Dosis Medikamente braucht. Dazu die fehlende Kooperation der Patienten: Kinder strampeln, weinen, beißen.
III. Die Zweifel
In der Nacht, als Lönne Ratzow im Uniklinikum Lübeck für tot erklärt wird, kreuzt der leitende Kinderarzt »Anhaltspunkte für ein nichtnatürliches Geschehen« auf der Todesbescheinigung an. Das ist normal, wenn die Ursache für einen Tod nicht klar benannt werden kann, und hat zur Folge, dass der Leichnam im Rahmen eines sogenannten Todesermittlungsverfahrens obduziert wird.
Es bedeutet auch, dass der Notarzt unter dem Verdacht der fahrlässigen Tötung steht, bis das Todesermittlungsverfahren abgeschlossen ist.
Am Morgen nach Lönnes Tod, Martje und Niklas Ratzow können kaum sprechen, erklären sie ihren beiden größeren Kindern, dass ihr kleiner Bruder gestorben ist. Die Kinder verstehen erst nicht, laufen in die Küche und stehen vor dem Tisch, auf dem Lönne keine zwölf Stunden vorher um sein Leben kämpfte.
Während die Eltern versuchen zu erklären, was sie selbst nicht begreifen, und die nächsten Tage »wie in Trance« verbringen, bekommt die Schicksalsnacht in Lübeck ein Aktenzeichen. Die Staatsanwaltschaft stellt Lönnes Krankenakte sicher, später fährt die Polizei auf dem Hof der Ratzows vor, um sie zu befragen. Die Mutter sucht Aufnahmen vom Nachmittag vor dem Fieberkrampf heraus: Lönne, grinsend im Wollpullunder auf einer mit Erdbeeren bedruckten Babydecke. Ursprünglich fürs Familienalbum gedacht, wird jedes Foto jetzt zum Beweismittel.
Drei Tage nach Lönnes Tod beugen sich zwei Rechtsmediziner über den Leichnam des Babys. Sie heben sein Gehirn heraus und betten es in Formalin. Sie nehmen Proben aus der Bauchspeicheldrüse und dem Magen. Sie füllen Herzblut, Urin und Hirnflüssigkeit ab. Die gerichtliche Leichenöffnung soll klären, ob Lönne an einer unerkannten Vorerkrankung litt und woran er gestorben sein könnte. Außerdem werden die Proben aus Organen und Körperflüssigkeiten an ein toxikologisches Institut verschickt: Dort soll untersucht werden, welche Medikamente in welcher Dosierung Lönne bekam.
Wenige Tage später teilt eine Kriminalkommissarin den Ratzows telefonisch mit, dass in der Lunge ihres Sohnes kein Erbrochenes gefunden wurde. Auch sei Lönne laut Obduktionsergebnis ein bislang gesundes Kind gewesen. Bis dahin quälten die Eltern Zweifel daran, ob sie Lönne wirklich richtig gehalten haben, als er sich während des Krampfanfalls übergab. Oder ob er doch unerkannt von ihnen schwer krank gewesen war?
Vor der Beerdigung bemalen Lönnes Geschwister seinen Sarg. Auf der Einladung zur Trauerfeier steht oben ein Wort, mit Fragezeichen: »Warum?«
Warum, diese Frage stellen sich viele Angehörige, die plötzlich einen geliebten Menschen verlieren. Bei Martje und Niklas Ratzow aber schwingt von Anfang an auch der Vorwurf mit, dass bei dem Einsatz etwas schiefgelaufen ist. Das ist das Erste, was die Ratzows gleich nach dem Einsatz hinterfragen: Warum hat das Rettungsteam während der Reanimation Zeit gehabt, einen Seelsorger zu kontaktieren – noch bevor sie das Uniklinikum Lübeck um Hilfe bei der Behandlung baten? Warum hat der Notarzt einen Zugang in den Knochen gelegt, obwohl es Lönne nach dem Krampfanfall besser zu gehen schien? Und warum stand Lönnes Herz wenige Minuten später still? Warum, warum, warum?
Sie haben, und das spielt eine Rolle für ihre Zweifel, einen Vergleich. Auch ihr ältester Sohn hatte als Kleinkind einen Fieberkrampf, das war 2015. Auch damals kam der Notarzt. Der Einsatz verlief ohne Komplikationen, das Kind wurde direkt nach Lübeck gebracht. Aus dem Krankenhaus kehrten sie mit einem gesunden Kind nach Hause zurück. Martje und Niklas Ratzow schilderten ihr Unverständnis über den Rettungseinsatz bereits in der Todesnacht gegenüber den Lübecker Ärzten und dem Seelsorger. Und sie schildern es auch gegenüber der Polizei. Trotz ihrer Zweifel haben sie anfangs Vertrauen, schnell Antworten auf ihre Fragen zu bekommen. E-Mails an die Polizistin beendet Niklas Ratzow höflich mit »viel Erfolg für Ihre Ermittlungen!«.
In den Wochen nach Lönnes Tod rechnen sie damit, dass sich jemand bei ihnen meldet. Der Notarzt selbst oder jemand der nichtärztlichen Rettungskräfte. Aber das geschieht nicht. Sie schreiben eine Mail an den leitenden Kinderarzt aus Lübeck und fragen nach dem Ausdruck, den sie in Lönnes Todesnacht von einer der Rettungskräfte hörten – und auf den der Notarzt laut ihrer Erinnerung nicht eingegangen ist: »Wir haben einen Begriff wie ›Ten for ten‹, ›Ten for two‹, ›Ten to ten‹ oder Ähnliches in Erinnerung«. Der Kinderarzt aus Lübeck erklärt ihnen, dass der Begriff »Ten for ten« für eine kurze Lagebesprechung steht. Um ein »Ten for ten« bittet ein Mitglied des Rettungsteams dann, wenn eine Situation chaotisch zu werden droht. Die Ratzows nehmen sich einen Anwalt und bitten um Akteneinsicht.
Es wird Frühling, und immer noch haben die Eltern bis auf den Anruf der Kriminalkommissarin keine Information über die Todesumstände ihres Kindes. Immer wieder bitten sie in jener Zeit darum, die Krankenakte ihres Sohnes ausgehändigt zu bekommen und Information über die Zeugenvernehmung der Rettungskräfte zu erhalten. Immer wieder, so erzählen sie es, werden sie vertröstet. Die Monate der Ungewissheit, empfinden sie als »absolute Hölle«.
Erst im April 2021, fast drei Monate nach Lönnes Tod, erhalten die Ratzows Akteneinsicht. Sie lesen, dass der Kindernotarzt, als er Lönne in Ratzeburg übernahm, einen Tubus vorfand, der im Rachen statt in der Luftröhre saß. Und sie lesen, dass ihr Kind in der Küche neben dem ersten Entkrampfungsmedikament auch ein zweites bekommen hat, Midazolam über den Knochenzugang. Über diesen erhielt Lönne außerdem ein starkes Betäubungsmittel: Lidocain. Nicht wegen des Krampfanfalls selbst, sondern gegen die Schmerzen, die der Zugang verursachte.
Sie wissen noch nicht, dass die systemische Gabe von Lidocain, also das Spritzen in den Blutkreislauf, zu jenem Zeitpunkt durch eine medizinische Leitlinie erlaubt ist, aber unter Kindernotfallexperten als hoch umstritten gilt. Weil es so schwierig ist, die richtige Dosis für ein Kind zu treffen, und die Nebenwirkungen – Blutdruckabfall, Herzrhythmusstörungen, Krampfanfälle – lebensgefährlich sein können. Sie lesen auch, dass es keine Zeit gegeben habe, Lübeck früher zu kontaktieren. Sie haben jetzt Antworten auf manche Fragen. Aber sie bringen keine Erleichterung. Als sie die Unterlagen einem Mediziner, einem Bekannten ihres Anwalts, zeigen, äußert der den Verdacht, dass die Medikamente, darunter das umstrittene Lidocain, überdosiert waren. Auch weist der Mediziner darauf hin, dass die notierte Dosis des Lidocains im Protokoll des Notarztes seiner Ansicht nach so nicht stimmen könne, sie müsse tatsächlich höher gewesen sein.
Im Mai 2021, Lönne ist vier Monate tot, kommt es zu einem ersten Treffen des SZ-Magazins mit dem Ehepaar Ratzow. Zwar glauben die Eltern da bereits, dass ihr Kind falsch behandelt wurde. Trotz ihrer Verzweiflung sind sie aber vor allem daran interessiert, lückenlos aufzuarbeiten, was passiert ist. Sie können nicht verstehen, warum alles so lange dauert. Sie berichten vom toxikologischen Gutachten, das immer noch nicht vorliegt – obwohl die Staatsanwältin den Auftrag Ende Januar mit dem Hinweis »bevorzugte Erledigung« versah. Sie erzählen, dass es nicht die Polizei war, sondern sie, die Eltern, die um die Aufzeichnungen der medizinischen Überwachungsgeräte baten. Sie sind empört, dass die nichtärztlichen Rettungskräfte teils erst Wochen nach dem Tod ihres Kindes als Zeugen geladen wurden. Und sie verstehen nicht, warum der Arzt einfach weiterpraktizieren darf. Ihr medizinischer Berater hat ihnen inzwischen genau erklärt, wie sich Lidocain im Körper verteilt und abbaut, wie sich dessen Gesamtmenge nach dem Tod bestimmen lässt und was ein Off-Label-Use ist. Aus dem losen Kontakt mit dem Arzt wird für die Ratzows schnell unverzichtbarer Rat. Niklas Ratzow sagt: »Ohne seine Hilfe wären wir vollkommen hilflos ausgeliefert gewesen.« Je mehr sie das Gefühl haben, dass nicht genug ermittelt wird, desto mehr werden sie selbst zu Ermittlern.
IV. Die Fehler
Es gibt keine Zahlen darüber, wie viele Kinder im Notfall nicht die Behandlung bekommen, die sie bräuchten. Doch kontaktiert man Kindernotfallexperten im ganzen Land, gleichen sich die Erzählungen. Alle berichten davon, immer wieder falsch beatmete Kinder im Krankenhaus entgegengenommen zu haben. Oder von Kindern, die fast gestorben wären, weil der Erwachsenennotarzt auf jede Form der Sauerstoffgabe verzichtet hatte, um bloß keinen Fehler zu machen. Man hört von Kindern, die mit Medikamenten ruhiggestellt wurden, aber still litten, weil die Schmerzmittel falsch dosiert worden waren. Untermauert werden solche Einzelfallberichte von einer Vielzahl internationaler Studien: Kinder werden auch deshalb falsch behandelt, weil Medizinern die Erfahrung beim Umgang mit den kleinen Körpern fehlt. Besonders häufig sind dabei zwei Fehler: eine falsche Beatmung und eine falsche Dosierung der Medikamente.
Je nach Gewicht braucht jedes Kind eine andere Medikamentendosis. Meistens ziehen Ärzte die gewünschte Menge aus den Erwachsenenampullen auf – und verdünnen diese nach einer Rechenvorschrift, um die passende Dosis zu erhalten. Ein Notarzt muss so unter höchstem Stress komplizierte Fragen beantworten, etwa: Wie viele Milliliter muss ich aus der Erwachsenenampulle aufziehen, um die richtige Milligrammanzahl eines Medikaments für ein bestimmtes Körpergewicht zu erhalten?
Es gibt ganze wissenschaftliche Abhandlungen darüber, wie häufig Ärzte bei dieser Rechnerei schwerwiegende Fehler machen. Schon beim falschen Setzen eines Kommas ist manches Medikament zehnfach über- oder unterdosiert. Seit einigen Jahren liegen deshalb in vielen Notarztfahrzeugen »Kindernotfalllineale«: spezielle Maßbänder, die man neben das hilfsbedürftige Kind legen kann. Sie zeigen für jede Körpergröße das durchschnittliche Gewicht des Patienten an. Mit dieser Information und einer mitgelieferten Dosierungstabelle kann der Notarzt ermitteln, wie er das Medikament aufziehen muss. Nur: Viele Ärzte scheuen sich, mit Maßband und Tabelle zu hantieren, wenn aufgeregte Eltern neben dem Kind stehen. Auch berichten viele Rettungskräfte, in ihren Wagen seien Kindernotfalllineale oder vergleichbare Systeme nicht vorhanden. Im Rettungswagen, der damals auf den Hof der Ratzows fuhr, gab es ein solches Lineal. Ob es vom Arzt angewendet wurde, ist nicht geklärt.
Bei der Beatmung von Kindern unterlaufen ähnlich grobe Fehler. Statistisch gesehen kommt ein Notarzt alle drei Jahre dazu, ein Kind zu intubieren, einen Säugling sogar nur alle 13 Jahre. Kaum einer hat Routine mit den kurzen Luftröhren, großen Zungen, den eingeschränkten Sichtverhältnissen in den kleinen Körpern.
Kindernotfallexperten wie der Münchner Arzt Florian Hoffmann empfehlen deshalb, auf die Intubation zu verzichten, wenn man sich nicht sicher fühlt. Oft reiche eine Sauerstoffmaske oder eine sogenannte Larynxmaske, die nicht bis in die Luftröhre vorgeschoben wird. Gerade viele Ärzte, deren Ausbildung teils Jahrzehnte zurückliegt, kennen diese Alternativen nicht. In Kindernotfallkursen werden diese Methoden seit einigen Jahren trainiert, aber eine Pflicht, sich regelmäßig in Notfallmedizin weiterzubilden, gibt es nicht in allen Bundesländern. Und falls doch, ist das Training von Kindernotfällen nicht immer explizit v o rgeschrieben. Es ist, als würden Piloten ihre Pilotenausbildung machen und danach bis zur Rente einfach immer weiterfliegen – ohne seltene Extremsituationen regelmäßig im Flugsimulator zu trainieren.
Das kritisiert auch ein Notfallmediziner, der inzwischen in der Politik ist. Janosch Dahmen, gesundheitspolitischer Sprecher der Grünen, war vor seiner Zeit im Bundestag Oberarzt der ärztlichen Leitung des Rettungsdienstes Berlin. Er sagt: »Es kann nicht sein, dass Notärzte in Deutschland in den Einsatz geschickt werden, die für die wichtigsten Kindernotfälle nicht hinreichend geschult sind. Es gibt ein ausgeprägtes Defizit, was verbindliche Aus- und Weiterbildung angeht.« Dahmen reformierte deshalb den Notarztdienst in Berlin – gegen erhebliche Widerstände, wie er sagt. Inzwischen sind dort zum Beispiel Kindernotfallkurse für Notärzte obligatorisch. Außerdem kämpft er heute als Politiker dafür, dass es im Rettungswesen endlich bessere Qualitätskontrollen und mehr Patientensicherheit gibt – dass mögliche Fehler nicht einfach als unvermeidbar hingenommen werden. Er sagt: »Diese Einstellung ›Wo gehobelt wird, da fallen Späne‹ – die ist zynisch und grundfalsch.«
V. Aus Trauer wird Wut
Niklas Ratzow erntet die Felder ab, weil die Arbeit einfach weitergeht. Martje Ratzow denkt an ihre beiden älteren Kinder, wenn sie morgens kaum aufstehen kann. »Ich bin auch die Mutter meiner noch lebenden Kinder«, sagt sie. Sie beginnt eine Therapie und fängt wieder mit dem Reiten an, um vormittags die Stille im Haus nicht ertragen zu müssen. Sie suchen eine Trauergruppe für die Kinder und schauen sich mit ihnen kindgerechte Bücher über den Tod an. Eines Tages fragt die Tochter, ob sie jetzt nur noch traurige Bücher lesen. Seitdem lesen sie wieder Geschichten aus Bullerbü.
Im August 2021 verschickt das Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Lübeck ein erstes rechtsmedizinisches Gutachten. Darin werten die Rechtsmediziner die Ergebnisse der Leichenöffnung, der i nzwischen vorliegenden Toxikologie und die Ergebnisse der Zeugenbefragungen aus.
Im Gutachten steht, dass der Arzt, der Lönne im Uniklinikum entgegennahm, die lange Reanimationszeit ohne Rücksprache mit einem Kinderarzt und den Wunsch, diese dann einzustellen, als besonders wahrnahm. Es steht geschrieben, dass Lönne kein Erbrochenes in der Lunge hatte, wie es den Eltern in Lönnes Todesnacht mitgeteilt wurde. Es bestätigt sich auch, was der medizinische Berater der Ratzows längst vermutete: Die Konzentration des Lidocains, welches über den Knochenzugang in Lönnes Blutkreislauf floss, sei zu hoch gewesen. Die Dosis könne erklären, weshalb das Herz des Kindes zu schlagen aufhörte.
Aber es bleiben auch Fragen offen: Hatte das Kind einen Herz-Kreislauf-Stillstand, bevor oder nachdem der Arzt das Lidocain spritzte? Lag der Tubus überhaupt irgendwann länger in der Luftröhre oder steckte er vielleicht in der Speiseröhre – bevor er schließlich auf dem Transport in den Rachen rutschte? Das Schreiben schließt mit dem Hinweis, dass Antworten nur ein erfahrener Kindernotfallmediziner geben kann. Ein weiteres Gutachten wird in Auftrag gegeben, diesmal extern. Wieder beginnen Monate des Wartens.
Mit jedem Monat, der vergeht, wächst bei den Ratzows das Unverständnis über die Ermittlungen. Sie können schwer ertragen, dass nicht endlich jemand klar sagt: Hier sind schreckliche Fehler passiert, und wir tun alles, damit das nie wieder vorkommt.
Die juristischen Prozesse, die es zu Recht gibt und die einen Beschuldigten vor einer Vorverurteilung bewahren, scheinen den Ratzows nur dazu da zu sein, den Arzt zu schützen. Immer wieder hören sie, man dürfe den Arzt nicht öffentlich vorverurteilen. Man müsse die Ermittlungen abwarten. Sie haben das Gefühl, es gehe weniger um eine Vorverurteilung. Sondern um eine Vorentlastung des Arztes. »Wer steht denn für das Opfer ein?«, fragt Martje Ratzow. »Für Lönne?«
Lönne, der an jenem Abend gerade noch lachte und strampelte und Stunden später tot war, ein »Leichnam«, so steht es zu Beginn des Sektionsprotokolls, »bekleidet mit einem grau-weiß gestreiften Body mit Sternchenmotiv«.
Am ersten Jahrestag von Lönnes Tod, im Januar 2022, hat das Ehepaar Ratzow den Glauben an die Ermittlungen verloren. Das »Warum?«, das ein Jahr zuvor auf der Einladung zur Trauerfeier stand, ist für sie längst klar beantwortet. Auf der Anzeige, die sie zum Jahrestag in der Regionalzeitung drucken lassen, gibt es keine Fragezeichen mehr. Dort steht: »Ein Jahr ist es nun her, dass man Dir Dein Leben nahm.«
Wut gehört zu fast jeder Trauerbewältigung. Sie kann helfen, Ohnmacht auszuhalten. Die Ohnmacht aus der Nacht, als Lönne starb. Und die Ohnmacht, die sie jetzt wieder fühlen, bei den Ermittlungen. Nur traurig zu sein, hat Martje Ratzows Therapeutin ihr einmal erklärt, sei ein schwaches Gefühl. Wut ein starkes. Längst sprechen die Ratzows nicht mehr vom »Arzt« oder »Beschuldigten«, sondern vom »Täter«. Sie sind jetzt keine Ermittler mehr, sondern Ankläger.
VI. Wünsche nach Veränderung
Auch der erwachsene Körper strotzt vor Unwägbarkeiten und komplizierten Sonderfällen. Manche Ärzte sagen deshalb: Die Aus- und Weiterbildung kann sich nicht nur um die Kinder drehen – auf die Notärzte ohnehin viel seltener treffen. Stefanie Seeger sagt: »Wenn ein Arzt so selten auf ein schwer krankes Kind trifft und keinerlei Routinen entwickeln kann, müsste er dann nicht genau deshalb regelmäßig auf den Ernstfall vorbereitet werden?« Seeger ist die Gründerin von »HeldenStärker«, einem Verein, der sich auf die Weiterbildung in der Kindernotfallmedizin spezialisiert hat. Die Angebote basieren auf Spendengeldern. So können auch Menschen teilnehmen, die sich die oft mehrere Hundert Euro teuren Kindernotfallkurse nicht leisten können oder wollen. Denn viele Arbeitgeber bezahlen ihren Mitarbeitenden diese Kurse nicht.
Seeger steht im Juni 2022 am Rand eines Rednerpults in einem Konferenzsaal in Heppenheim, Hessen. Im Publikum sitzen etwas mehr als hundert Notärzte, Notfallsanitäter, Rettungsdienstmitarbeitende. Sie haben sich freiwillig angemeldet, um einen ganzen Tag lang Vorträge über Kindernotfallmedizin zu hören und wichtige Handgriffe zu üben. Ein Arzt, der seit Jahren als Notarzt praktiziert, wird heute in den Praxiskursen daran scheitern, eine Beatmungsmaske korrekt auf das kleine Gesicht einer Notfallpuppe zu drücken. Rettungskräfte werden die Werte für Puls und Blutdruck von Kindern nicht kennen. Oder nicht wissen, wie oft man bei einem Kind während einer Reanimation auf den Brustkorb drücken muss.
Den »Fachtag für Kindernotfälle« hat Stefanie Seeger ehrenamtlich organisiert, ebenso wie zweitägige Praxiskurse, die ihr Verein anbietet. Zusätzlich bohrt sie regelmäßig bei Behörden nach, weshalb es in ihrem Bundesland immer noch keine Weite rbildungspflicht für Kindernotfälle gibt und warum die freiwillige Teilnahme an Weiterbildungen nicht wenigstens von den Trägern der Rettungsdienste bezahlt wird. Seeger hat sich mit einem Hersteller von Patiententragen für Kinder ausgetauscht und eigenhändig Kindernotfalllineale an alle Notarztautos ihres Landkreises verteilt. Sie sagt, sie sei ein Mensch, der lieber nach vorn statt nach hinten schaut. Nur zögerlich schildert sie deshalb den Grund ihres Engagements.
Seeger ist Mutter von drei Kindern. Ihre Töchter sind am Leben. Ihr Erstgeborener, Erik, starb im Mai 2017, da war er zweieinhalb Jahre alt. Genau wie Lönne Ratzow erlitt Seegers Sohn einen Fieberkrampf. Und genau wie Lönne könnte Erik vielleicht noch leben.
Stefanie Seeger hat sich dagegen entschieden, den detaillierten Ablauf von Eriks Sterben öffentlich zu machen. Sie will die Ratlosigkeit der Retter bei dem Einsatz ebenso wenig anprangern wie deren fehlende Ausrüstung für Kindernotfälle. Zwar ringt sie oft um Fassung, wenn sie von ihrem Sohn erzählt. Aber sie betont, dass sie vor allem zeigen möchte, wie sich etwas ändern lässt. Sie sagt: »Ich mache den Rettungskräften keinen Vorwurf. Die waren auch Opfer unseres Systems.«
Anders als die Ratzows berichtet Seeger von einer großen Empathie der Retter. Davon, wie der Notarzt nach dem Einsatz immer wieder auf Station anrief, um sich nach dem Zustand ihres Sohnes zu erkundigen. Sie erzählt von Gesprächen mit der Klinik, die ihr anbot, den Kontakt mit dem Notarzt herzustellen. Und sie erzählt von einem Gespräch mit dem Verantwortlichen für den Rettungsdienst. Sie hat dessen Worte sinngemäß so in Erinnerung: »Ich sage es Ihnen ganz ehrlich, es tut mir von Herzen leid, was passiert ist. Das ist nicht gut gelaufen.«
Seeger entschied sich gegen ein Gespräch mit dem Arzt. Aber sie betont, dass die Ehrlichkeit und Anteilnahme auf allen Seiten sehr wichtig für ihren Trauerprozess gewesen sei. Eine Klage habe sie so nie in Betracht gezogen. Stattdessen steckte sie später all ihre Kraft in die Gründung ihres Vereins »Helden-Stärker«. Sie sagt: »Ein Gerichtsverfahren hätte mein Kind auch nicht wieder lebendig gemacht.«
VII. Gewissheit
Im Februar 2022, mehr als ein Jahr nach Lönnes Tod, liegt das externe Gutachten zu seinem Sterben vor. Ein Professor und Kindernotfallmediziner hat es verfasst. Das Schreiben führt die Informationen aus den Krankenakten, den Zeugenaussagen, den Ergebnissen des rechtsmedizinischen Gutachtens sowie die Messdaten der medizinischen Geräte zusammen. Es soll Antworten auf die vielen offenen Fragen geben, etwa: War der Zugang in den Knochen mit anschließender Lidocain-Gabe notwendig? Sind die Entkrampfungsmedikamente in der richtigen Dosis gegeben worden? Ist ein Kindernotarzt rechtzeitig um Hilfe gebeten worden? War die Intubation angemessen – und wurde sie korrekt durchgeführt?
Die Eltern lesen in dem Gutachten, dass nicht nur das Lidocain, sondern auch ein Entkrampfungsmedikament überdosiert war – und dass diese Überdosierungen entweder einzeln oder in Kombination zum Herzstillstand ihres Kindes geführt haben. Sie lesen, dass kaum Sauerstoff im Blutkreislauf von
Lönne ankam und die falsche Beatmung viel zu spät erkannt wurde. Sie lesen, dass eine Intubation vermutlich verzichtbar gewesen wäre und stattdessen zum Beispiel eine Larynxmaske gereicht hätte – jenes Utensil, zu dessen Nutzung in modernen Kindernotfallkursen geraten wird. Am Ende des Gutachtens ist zu lesen, es seien ärztliche Behandlungsfehler passiert.
Über die nichtärztlichen Rettungskräfte heißt es in dem Gutachten jedoch: Deren mögliches Fehlverhalten könne nicht beurteilt werden. Das empfinden die Ratzows als weiteren Schlag. Zwar ist die Hierarchie bei einem Rettungseinsatz klar: Der Notarzt trägt die Verantwortung. Aber die Ratzows halten seine Fehler für so schwer, dass sie den anderen Rettungskräften hätten auffallen müssen. Jeder von ihnen, sagen sie, hätte ihn stoppen können. Vor allem der Notfallsanitäter, der den Arzt begleitet hat. Dieser hatte nicht nur nach dem »Ten for ten« gefragt. Sie haben inzwischen auch per Internetsuche entdeckt, dass er sogar selbst We i te rbildungskurse für Kindernotfälle anbot.
Es gibt ein Modell in der Psychologie, das versucht zu erklären, wie eine Kette von menschlichen Fehlern zu einer Katastrophe führen kann oder eben nicht. Im »Schweizer-Käse-Modell« steht jede Käsescheibe für eine Sicherheitsebene. Jede Scheibe hat Löcher, jeweils an unterschiedlichen Stellen. Legt man mehrere Käsescheiben übereinander, werden einzelne Löcher von jeweils der nächsten Scheibe überdeckt – im besseren Fall wird also der Fehler eines Menschen durch das Können eines anderen Menschen wieder gutgemacht: Ein Team arbeitet zusammen, ergänzt sich in seinem Wissen und korrigiert sich untereinander. Klappt das nicht, hat die nächste Käsescheibe das Loch an der gleichen Stelle wie die vorherige. Das Loch bleibt offen.
Die drei Rettungskräfte waren, anders als der Arzt, nicht sofort Beschuldigte. Als die Staatsanwaltschaft nach Lönnes Tod ein Todesermittlungsverfahren einleitete, wurden sie als Zeugen vernommen. Alle kennen den Notarzt, alle hatten bereits vorher Einsätze mit ihm. Alle drei sagten während ihrer Vernehmungen aus, dass aus medizinischer Sicht alles richtig gelaufen sei. Deshalb haben die Ratzows nach der ersten Akteneinsicht nicht nur den Arzt angezeigt, sondern auch die nichtärztlichen Rettungskräfte. Die Ratzows sagen, sie würden keine Ruhe finden, bis sich alle vier vor Gericht zu verantworten hätten. Sie halten es für möglich, dass in der Zeit, als sie vor der verschlossenen Küchentür warteten, das Team die Überdosierung bemerkt hat – und entschied, sie zu vertuschen. Ab dem Frühling 2022 werden die Vorwürfe der Ratzows immer gewaltiger. Sie sprechen jetzt vom »Nach-Tat-Verhalten«. Es klingt, als hätten der Notarzt und die nichtärztlichen Rettungskräfte ihren Sohn vorsätzlich getötet.
Sie sprechen mit weiteren Journalisten, sie wollen, dass schnell berichtet wird, auch vor der Anklage. Dass vor einer Anklageerhebung nur in Ausnahmefällen berichtet wird? Dass es auch eine Version der Gegenseite geben kann, die ihre Vorwürfe vielleicht entkräftet? Und nicht zuletzt: dass Menschen Fehler machen, auch Ärzte, und sie deshalb noch keine Mörder sind? All das, was sie ein Jahr zuvor noch selbst so sahen und reflektieren konnten, ist vergessen.
Der Münchner Kindernotfallmediziner Florian Hoffmann sagt, selbst das beste Team könne nicht verhindern, dass Ereignisse manchmal einen schrecklichen Verlauf nehmen: »Jeder Arzt hat seinen eigenen Friedhof.« Er ermutigt sein Team deshalb immer dazu, das Gespräch mit den Eltern zu suchen. »Wenn wir am Tod eines Kindes schuld sind oder etwas schiefgegangen ist, sagen wir das den Eltern. Das macht ihr Kind zwar nicht wieder lebendig, aber Transparenz hilft bei der Verarbeitung. Sie haben dann eine emotionale Baustelle weniger.«
Aber was, wenn vor Gericht herauskommen sollte, dass der Notarzt sich vielleicht nicht meldet, weil ihn aus seiner Sicht keine Schuld am Tod des Jungen trifft? Er sich nicht angreifbar machen möchte? Oder man ihm davon abrät? Auf diese Überlegung angesprochen, sagt Hoffmann, in Kontakt bleiben könne man immer. Und Mitgefühl ausdrücken sowieso. Worte finden wie: »Es tut mir leid, dass wir Ihr Kind nicht retten konnten.« Und anders als man annehmen würde, sei es eher das Schweigen, das Hinterbliebene zu einer Klage treibe, als das Eingeständnis von Fehlern.
VIII. Ärzte und ihre Anwälte
Während eines laufenden Verfahrens raten Anwältinnen und Anwälte häufig davon ab, dass Beschuldigte mit der Presse reden. Die Anwältin des Notarztes widerspricht gegenüber der Staatsanwaltschaft weiten Teilen des medizinischen Gutachtens. Dessen Ergebnisse nennt sie mal Spekulationen, mal Mutmaßungen. Der fehlplatzierte Tubus? Könne laut Gutachten auch erst während der Reanimation aus der Luftröhre herausgerutscht sein. Der Grund für Lönnes Atem-Kreislauf-Stillstand? Könne nicht mit der im Strafrecht erforderlichen Sicherheit benannt werden.
Um sich gegen den Vorwurf der fahrlässigen Tötung zu verteidigen, hat der Notarzt eine der renommiertesten Kanzleien im Medizinrecht gewählt. Die Kanzlei Ulsenheimer Friederich hat ihren Hauptsitz in München am Maximiliansplatz, knapp 800 Kilometer entfernt von seiner Praxis für Allgemeinmedizin. Ein Bürohochhaus, umringt von edlen Einrichtungsgeschäften und Boutiquen, auf der Webseite der Kanzlei werden Ärzte zielgruppengerecht angesprochen. »Notfallkoffer« heißt eine eigene Rubrik, sie verspricht »Erste Hilfe für Ärzte bei Rechtsproblemen«. Darin gibt es detaillierte Empfehlungen dazu, wie mit der Presse umzugehen sei: »Grundsätzlich gilt es, möglichst jegliche Publizität zu vermeiden.« Es gibt aber auch den Punkt »Adäquate Kommunikation«. Dort heißt es: »Ärztinnen und Ärzte sollten das Gespräch mit den Betroffenen nicht scheuen. Es ist oftmals die entscheidende Weichenstellung für den weiteren Geschehensverlauf.«
Geht es bei Todesfällen, die durch mögliche Behandlungsfehler passiert sind, also vielleicht gar nicht nur um die rechtliche Verantwortung, um Paragrafen und Gutachten, sondern um eine moralische Verantwortung? Um Anteilnahme?
Der Notarzt selbst wird seine Version der Geschehnisse möglicherweise erst vor Gericht erzählen. Dann wird auch klar sein, wie erfahren er im Umgang mit Kindernotfällen war. Und weshalb er sich nach dem Einsatz nicht bei den Eltern gemeldet hat.
Als die Ratzows kurz vor Weihnachten 2022 auch Worte der Anteilnahme von Seiten des Arztes lesen, ist ihr Kind seit fast zwei Jahren tot. Ihr Mandant bedaure Lönnes Tod sehr, schreibt seine Münchner Anwältin. Es ist ihre Reaktion auf die Anklage gegen den Notarzt wegen fahrlässiger Tötung. Der Familie spreche er sein aufrichtiges Beileid aus. Im selben Schreiben fordert sie, auf die Eröffnung des Verfahrens zu verzichten.
IX. Die Rettungskräfte
Ein Anruf in der Redaktion, kurz vor der Veröffentlichung dieses Artikels. Am Telefon ist die Rettungssanitäterin, die in Lönnes letzter Nacht dabei war. Die Ermittlungen gegen sie und ihre beiden Kollegen wurden inzwischen eingestellt. Ihre Verfahren sind aber noch nicht rechtskräftig abgeschlossen, außerdem sind sie Zeugen im Verfahren gegen den Notarzt. Deshalb möchte die Frau immer noch nicht über Details des Rettungseinsatzes sprechen. Aber sie ist bereit, dem SZ-Magazin zu schildern, welche Folgen der Einsatz auch für sie hatte. Sie erzählt von schlaflosen Nächten und von ihrer Angst, wenn bei der Arbeit auch nur der Pieper ging. Davon, dass sie arbeitsunfähig gewesen sei und überlegt habe, beruflich etwas anderes zu machen. »Wir sind alle schwer trau-matisiert gewesen«, sagt sie. »Keiner steckt es einfach weg, wenn ein Kind stirbt.«
Sie erzählt, dass einer der drei nichtärztlichen Rettungskräfte bis heute dienstunfähig sei. Und dass die Vorwürfe der Eltern mittlerweile Auswirkungen bis ins Private hätten. Viele Menschen in der Gegend würden Lönnes Geschichte kennen – samt der schweren Vorwürfe der Eltern. »Wir haben inzwischen Angst vor den Eltern«, sagt die Rettungssanitäterin. Trotzdem habe sie Mitleid und verstehe die Trauer und Wut. »Aber sie gehen zu weit, wenn sie sagen, wir hätten Lönne umgebracht. Wir sind vor zwei Jahren nach Klein Zecher gefahren, um ein Kind zu retten, nicht, um ein Kind zu töten.«
X. Was bleibt
Am Abend des 18. Januar 2023 sitzen Martje und Niklas Ratzow in ihrem Wohnzimmer auf dem Sofa, so wie zwei Jahre zuvor. Die Gedanken kommen dabei unweigerlich, so tief haben die Uhrzeiten sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. 21 Uhr: Da ging das Babyfon. 21.26 Uhr: Da haben sie den Notruf gewählt. 22.22 Uhr: Da ist Lönnes Herz stehen geblieben. Ihre beiden noch lebenden Kinder schlafen in dieser Nacht bei ihren Eltern im Bett, am nächsten Morgen fahren sie alle zum Friedhof und danach ans Meer.
Als Martje und Niklas Ratzow ein paar Tage später vom zweiten Todestag erzählen, sprechen sie auch von den dünnen Erfolgen ihrer vielen Beschwerden. Da ist zum Beispiel das Land Schleswig-Holstein, das nach Lönnes Tod die Weiterbildung für Ärzte neu geregelt hat. Von offizieller Seite heißt es aber, dies sei schon lange beschlossen gewesen. Oder eine Mitteilung der Bundesärztekammer im Deutschen Ärzteblatt. Darin warnt das Gremium davor, Lidocain in den Blutkreislauf eines Kindes zu spritzen, und erwähnt den »Fall eines Säuglings«. Der medizinische Berater der Ratzows hatte an die Bundesärztekammer geschrieben.
»So viele Menschen haben Lönne verraten«, sagt Martje Ratzow. Sie und ihr Mann hätten all jene Aufgaben übernommen, die eigentlich andere hätten übernehmen müssen: die Rechtsmedizin etwa, die Staats-anwaltschaft. Martje Ratzow verlässt weinend das Zimmer. Als sie zurückkommt, legt sie einen Zettel auf den Tisch, auf dem die Namen jener stehen, die auch hätten einschreiten können. Sie wünscht sich, dass diese Namen öffentlich werden.
Wenige Tage nach unserem letzten Treffen mit dem Ehepaar Ratzow lässt das Landgericht Lübeck die Anklage gegen den Notarzt zu. Martje und Niklas Ratzow sind dennoch verzweifelt. Einerseits, weil vor einem Amtsgericht verhandelt werden soll und nicht am Landgericht – ein Hinweis darauf, dass der Arzt eine geringere Strafe bekommen wird als von ihnen gewünscht. Das Landgericht geht außerdem davon aus, dass Lönnes Leben nach einer Fehldosierung ohnehin nicht mehr hätte gerettet werden können. Das widerspricht nicht nur den Ergebnissen des externen medizinischen Gutachtens. Auch Florian Hoffmann zweifelt daran, dass der Junge nach einer Überdosierung nicht hätte erfolgreich wiederbelebt werden können. Er glaubt, dass eine Kette mehrerer Fehler für das Unglück verantwortlich war. Übernimmt das Amtsgericht die Annahme der Lübecker Richter, würde die falsche Beatmung dennoch zur Nebensache während der Verhandlung.
Auch wir, die Reporterinnen des SZ-Magazins, ahnen, dass dieser Artikel für die Ratzows eine weitere Enttäuschung sein könnte. Weil wir keine Namen nennen. Und weil wir zwar auf Missstände im System hinweisen können. Aber für Martje und Niklas Ratzow ist die unzureichende Aus- und Weiterbildung der Rettungskräfte gar nicht das größte Problem. Sondern dass sie allein waren mit dem Gefühl, dass es niemanden interessierte, wie ihr Kind zu Tode kam. Hätten sie nicht zufällig einen Mediziner an ihrer Seite gehabt: Vielleicht hätten sie auch irgendwann aufgehört, Fragen zu stellen. Jetzt, da sie wissen, was ein Corpuls3-Thoraxkompressionsgerät ist und was eine Azidose in der Blutgasanalyse bedeutet, fragen sie: Warum mussten wir uns all dieses Wissen erarbeiten? Wieso schert es niemanden, dass es morgen wieder passieren könnte?
Lönnes Tod aber, das wissen die Ratzows da noch nicht, zieht längst größere Kreise. Mal wird der Fall bei einer Übung für angehende Notärzte besprochen. Mal ist er Thema auf einer Fachtagung. Notfallmediziner im ganzen Land reden von Lönne.
In Berlin
hat der Arzt und Grünen-Bundestagsabgeordnete Janosch Dahmen zum Telefon gegriffen und Martje und Niklas Ratzow angerufen. Er hat sich angehört, was sie über den Einsatz berichten. Dem SZ-Magazin sagt er: »Ich glaube, dass es viel mehr solcher Fälle gibt. Viele Angehörige haben in solch einer schlimmen Situation aber nicht die Kraft, die notwendigen Ermittlungen anzustoßen.« Er sagt auch: »Dass Fehler passieren, die nie hätten passieren dürfen, ist schlimm. Unerträglich ist, wenn anschließend nicht alles getan wird, dass so etwas nicht noch einmal passiert.«
In München
erzählt der Kinderintensivmediziner Florian Hoffmann, er habe einen Traum. In diesem Traum sitzen überall im Land verteilt Kindermediziner vor Bildschirmen, einen Knopf im Ohr, und beraten Notärzte und nichtärztliche Rettungskräfte während ihrer Einsätze. Dafür funken medizinische Geräte alle medizinischen Werte der Patienten direkt in die Zentrale. Kein Erwachsenenmediziner muss in diesem Traum wegweisende Entscheidungen allein treffen, wenn er sich bei der Behandlung eines Kindes unsicher fühlt.
In Heppenheim
sagt Stefanie Seeger, die Gründerin von »HeldenStärker«, wenn sie ganz frei spinnen dürfe, dann wünsche sie sich ein Weiterbildungszentrum, gegründet von ihrem Verein. Sie sieht Ärzte und Notfallsanitäter, die gemeinsam für den Ernstfall trainieren. Vor allem aber sieht sie Politiker, wie sie ein Gesetz zur bundesweiten Weiterbildungspflicht für den Kindernotfall beschließen.
In Klein Zecher
erzählen Martje und Niklas Ratzow von ihrem Plan, einen Gedächtniswald für Lönne zu erschaffen. Ihre Kinder sollen einen Ort haben, wo sie sich an ihren kleinen Bruder erinnern.
Verlässt man den Hof der Ratzows und biegt nach einigen Hundert Metern auf die Landstraße ab, sieht man linkerhand ein Stück Erde, etwa so groß wie ein Fußballfeld. Ein Traktor fährt darauf, hier soll der Wald bald wachsen. Ein kleiner Baum steht schon da. Ratzows haben ihn als Erstes gepflanzt. Es ist Lönnes Baum, eine Elsbeere. Sie kann mehr als hundert Jahre alt werden.
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Hinweise:
Alle Kapitel dieser Geschichte lassen sich direkt aufrufen und verlinken unter www.ansTageslicht.de/Notarzt-Kinder. Der Originalartikel im SZ-Magazin vom 16.2.2023 hatte den Titel “Versorgungslücke” und ist aufrufbar unter www.sueddeutsche.de (Pay-wall!)
Online am: 08.02.2024
Aktualisiert am: 26.06.2024
Inhalt:
- "Versorgungslücke": der Originalbericht im SZ-Magazin
- "Warum haben Sie nicht geholfen?" - Der Folgeartikel
- Wie der Bericht entstand: das Making-of
- Die beiden 'ausgezeichneten' Journalistinnen: Nicola MEIER und Vivian PASQUET
- Die Entstehungsgeschichte von HeldenStärker
- Was kann man tun?
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