Nach dem ersten Gespräch mit Elke D. im September 2021, in dem sie mir die Freigabe für ihre in einer Cloud gespeicherten Dokumente gab, habe ich zunächst mit dem Aktenstudium begonnen. Allein das familienpsychologische Gutachten umfasst 150 Seiten.
Viele Fragen, die ich nach dem Motto hatte: Das kann doch gar nicht sein - wurden mir bei der Lektüre der Akten beantwortet.
Von vornherein klar war für mich, dass ich Elke D. und ihr Kind so stark wie möglich anonymisiere. Das habe ich Elke D. gegenüber auch von Anfang an klargestellt. So verzichtete ich auch auf die Bezeichnung des Geschlechts des Kindes und nenne es bis heute in der gesamten Berichterstattung nur "das Kind". Die TV-Sender haben in ihrer Berichterstattung das Geschlecht des Kindes genannt, doch ich bin der Ansicht, dass ich als Lokalredakteur eine besondere Verantwortung gegenüber den beiden Protagonisten habe, eben weil ich so dicht dran bin und sich Leser die Berichte auch ausgeschnitten und aufbewahrt haben.
Bei dem Fall geht es nicht nur um einen Sorgerechtsstreit, sondern auch um den von einem Expertenteam geäußerten Verdacht gegen den Kindesvater, sein eigenes Kind sexuell zu missbrauchen. Die Kindesmutter selbst hat übrigens diesen Verdacht nie geäußert.
Nach einem ersten Aktenstudium bat ich den Kindesvater um seine Sicht der Dinge. Er teilte mir mit, dass er nicht bereit sei, sich mir gegenüber zu äußern. Er schob dann noch hinterher: "Ich würde Ihnen aber abraten, hier weder wilde Spekulationen in die Welt zu setzen, noch eine Bühne zu bieten haltlose Anschuldigungen zu veröffentlichen." Glücklicherweise sprach der Chefarzt der Paderborner Kinderklinik mit mir und bestätigte, dass er und sein Expertenteam bei ihrer gutachterlichen Stellungnahme dabei bleibe, dass es den Verdacht auf sexuellen Missbrauch gebe. Dadurch konnte ich einer Mitarbeiterin des Jugendamtes des Kreises Lippe nachweisen, dass sie bei der Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Minden gelogen hat.
Nachdem sich die Anwälte Elke D.s anfänglich noch etwas zurückhaltend äußerten, konnte ich durch Transparenz meiner Berichterstattung und dem - für mich selbstverständlichen - Einhalten von Absprachen, rasch ihr Vertrauen gewinnen. Mittlerweile bekomme ich jeden Schriftsatz der Anwälte in Kopie. Dieses Vertrauen ist sicherlich auch entstanden, weil ich für die Anwälte und Elke D. auch in meiner Freizeit, abends und am Wochenende erreichbar war und bin.
Solch ein Fall lässt einen nicht los - jedenfalls geht es mir so. Ich arbeite in einer kleinen Lokalredaktion in der es natürlich kein Investigativteam gibt. Das heißt, dass die Tagesproduktion Vorrang hat. Die Kollegen haben mit zwar oft den Rücken freigehalten, aber viele Telefonate und Recherchen habe ich in meiner Freizeit gemacht. Andererseits: Wozu bin ich Journalist geworden, wenn ich nicht auf eine solche Geschichte anspringe.
Welche Kreise die Geschichte zieht, habe ich mir zunächst nicht vorstellen können. Mittlerweile weiß ich, dass die Geschichte auch außerhalb des Verbreitungsgebietes der "Neuen Westfälischen" viral ging. Dadurch kam ich in Kontakt mit
- Sonja HOWARD, einer Angehörigen des Betroffenenrat des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung und Mitglied im Nationalen Rat gegen sexuellen Kindesmissbrauch,
- es Weiteren zum Hamburger Soziologen Wolfgang HAMMER, der 2022 eine Studie veröffentlichte, in der er strukturelle Missstände in deutschen Jugendämtern beschreibt
- und zum Ehrenvorsitzenden der Deutschen Kinderhilfe, Rainer BECKER.
Die Interviews mit diesen und anderen Experten halfen, der komplexen Struktur der Geschichte einen Rahmen zu geben und sie damit für die Leser interessant und spannend zu halten. Hilfreich war auch, als sich die TV-Schauspielerin Rebecca IMMANUEL bei mir meldete. Sie engagiert sich seit Jahren für den Kinderschutz. Eine Reportage über ihren Besuch in Detmold, bei dem sie ein Video über den Fall drehte, gab der Artikelserie eine zusätzliche Farbe.
So offen und vertrauensvoll die Zusammenarbeit mit der Seite von Elke D. ist, so verschlossen geben sich die Gegenseiten. Natürlich habe ich sowohl den Kindesvater als auch den Landrat des Kreises Lippe, Axel LEHMANN, wiederholt um Gespräche gebeten. Dem Landrat bot ich auch ein Hintergrundgespräch an. Alles wurde abgelehnt und gipfelte in dem Satz seines Pressesprechers: "Es wird kein Gesprächsangebot geben."
Allerdings gab es ein einziges Gespräch mit der Leiterin des Kreisjugendamtes und dem zuständigen Verwaltungsvorstand des Kreises Lippe. Voraussetzung für dieses Gespräch war jedoch, dass der Fall Elke D. nicht angesprochen wird. Dieses Gesprächsangebot nahm ich gemeinsam mit dem stellvertretenden Chefredakteur der "Neuen Westfälischen" wahr.
Auch Gesprächsanfragen an das Amtsgericht / Familiengericht Detmold und die Staatsanwaltschaft Detmold wurden abschlägig beschieden. Resümierend kann ich sagen, dass die Behörden bei meinen Anfragen drei Schilde hochhielten:
- "Datenschutz",
- "laufendes Verfahren"
- und "nicht zuständig".
Während ich zunächst annahm, die Geschichte wäre nach zwei, drei Berichten geschrieben, kam immer mehr hinzu. Wie komplex der Fall ist, lässt sich erahnen, wenn ich sage, dass der Fall Elke D. mittlerweile drei große Aktenordner füllt, plus vielen Internetseiten. Meine Schwierigkeit bestand darin, dem Leser jedes Mal erneut die Geschichte spannend zu erzählen, was auch gelang, wenn man sich die Zugriffszahlen aus dem Internet auf die Geschichten anschaut.
Hilfreich waren die Gespräche mit den Kollegen in der Redaktion, bei denen auch besprochen wurde, wie ich den Spannungsbogen aufrecht erhalten kann, denn zwischen den einzelnen Veröffentlichungen lagen manchmal mehrere Wochen. Die Berichte wurden abwechselnd im überregionalen Teil, im Lokalen und natürlich immer im Internet veröffentlicht. Im überregionalen Teil wurden mir vom Verlag Themenseiten zur Verfügung gestellt.