Making-of: 'Verkaufte' Familienhilfe

von Barbara SCHÖNHERR

Es sollte mein letzter Versuch sein, im Sozialbereich zu arbeiten. Nach insgesamt drei Stellen, bei denen ich mich immer fragte, was soll das, wem wird damit geholfen?

Dass ich überhaupt beim Fernsehen gelandet bin, verdanke ich der ersten dieser drei Stellen. Ein Projekt für Drogenabhängige in Rosenheim, für das man eine Ärztin und zwei Sozialpädagoginnen einstellte, und eine ganze Etage eines Hauses anmietete. Leider gab es keine Klienten.
Aus lauter Langeweile bewarb ich mich beim Bayerischen Rundfunk für eines der heiß begehrten Fernsehpraktika und bekam es. Vermutlich aufgrund meines Studiums in der Redaktion “Erziehung und Ausbildung“. Vorbildlich bekam man hier einen „Einführungskurs in den TV-Journalismus“.

Wir mussten sogar mit einer Mini-DV-Kamera selbst einen Film drehen. Das war es: Lost forever!
Mit nichts erzähle ich eine Geschichte lieber, als mit Bildern und einer lebendigen Dramaturgie. Immer noch arbeite ich daran, eine Dokumentarfilmerin zu werden, ein bisschen neidisch auf meinen, um einiges jüngeren Kollegen, David Sieveking, der mit dem Film „David wants to fly“ eine weltweite Meditationsbewegung entlarvte – auch ein Wächter!

Bei mir wurde es ein Zeitungsartikel für den Tagesspiegel. Er wurde wie von selbst geboren aus einer Seele, die randvoll war, und zum Ausdruck bringen wollte, was sie in diesem speziellen Fall und all die Jahre davor gesehen hatte. Ich selbst war mal ein Opfer dieser Branche und dann auf dem besten Weg ein „Täter“ zu werden. Ja, dabei musste ich mich leider ertappen. Und die Versuchung war groß, auf diesen ausgetrampelten Pfaden weiterzugehen. Das wäre sicher gewesen und so gemütlich. Zumal man als freie Journalistin ein eher nervenaufreibendes Leben führt.

Doch die Familienhilfe schien mir, zumal ich sie noch nicht kannte, ein unbestechliches Feld zu sein. Fälle, wo das Jugendamt eingeschaltet wird, und es um das sogenannte „Kindeswohl“ geht, müssten ja wohl professional angegangen und bearbeitet werden, glaubte ich.

Die beiden Geschäftsführer waren im Vorstellungsgespräch sehr sympathisch. Es zeigte sich aber bald, schon weil sie einander nicht grün waren, ein brodelndes Betriebsklima. Schnell vermittelte mir ein Kollege: Das fachliche Interesse der beiden Chefs sei gleich Null. Ein anderer Kollege erklärte mir, schon durch die Tatsache, dass ich als Helfer in eine Familie käme, würde ich das System verändern und allein daran müsse man mindestens ein halbes Jahr arbeiten.

Das war ein erster Hinweis: Familienhelfer arbeiten an irgendetwas Undefinierbarem. Ich dachte, man arbeitet am Problem der Familie und das ist definierbar. Und wenn es das nicht ist, macht es wenig Sinn, daran zu arbeiten. In allen Familien, in denen ich eingesetzt war, gab es mit dem Jugendamt keine Zielvereinbarungen, sowie es die Verträge mit dem Senat vorschreiben. Das heißt der freie Träger kann mit dem Fall machen was er will. Und der Jugendamtsmitarbeiter ist froh, dass er ihn vom Tisch hat.

Wie verhalten sich wohl Mitarbeiter, deren Chefs signalisieren, wir leben von den Fällen und einen fachlichen Anspruch haben wir nicht. Der Mitarbeiter lebt von seinem Chef. Also ist es doch im eigenen Interesse, möglichst lange mit den Familien herum zu eiern. Das Jugendamt verlässt sich darauf und übt keine Kontrolle aus. Das große Manko des Sozialbereichs ist, dass alle glauben, für diese Arbeit gebe es überhaupt keine Maßstäbe. In meinen Augen ist das eine Verweigerung von Professionalität.

Was mich aber am meisten stört, auf die Mitarbeit der Familien wird überhaupt kein Wert gelegt. Im Gegenteil. Zwei meiner Familien bekommen die Familienhilfe aufs Auge gedrückt, und sie nehmen sie an, aus Angst, das Jugendamt nimmt ihnen sonst die Kinder weg. Von solchen Fällen habe alle über die Presse gehört. Und, dass dies schon oft ohne nachvollziehbare Gründe geschehen ist.

Wieder ein Hinweis darauf, dass es sich hier um einen ziemlichen Sumpf handelt. Es gibt inzwischen eine große Bewegung der vom Jugendamt geschädigten Eltern. Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Bundesregierung auf die vielen Klagen aufmerksam gemacht, die dort eingereicht werden. Doch die Politik scheint in diesem Sumpf mit drin zu stecken.

„Einen selbstverständlichen Komplott“ nennt einer der Dienst ältesten Kinderpsychiater von Berlin die Arbeit der Ämter und freien Träger und stellt in einem Brief an mich fest: „Dieser immens teure und ineffektive Apparat wird zum eigenen Nutz und Frommen am Laufen gehalten“. Die Referentin einer Jugendstadträtin schreibt: „Die Hilfen zur Erziehung (HzE) sind eine Lizenz zum Geld drucken für die Träger! Alles völlig unkontrollierbar und: Kontrolle ist auch gar nicht erwünscht! Schon gar nicht, dass irgendetwas aufgedeckt wird. Die Politik ist sich eins mit den Trägern, man pflegt ein gutes Verhältnis miteinander. Träger sind per se Gutmenschen, die ausschließlich hervorragende Arbeit leisten.“ Was ich dann auch noch im Zuge meiner Recherchen erfahre ist: Es gibt keine Fachaufsicht über das Jugendamt.

Immerhin sagt mir die Referatsleiterin der Senatsverwaltung eine Prüfung bei meinem Träger zu. Aber erst nach dem der Artikel veröffentlicht wird, kommt es dazu. Ich bitte um die Ergebnisse. Die Referatsleiterin hat beschlossen, nicht mehr mit mir zu kommunizieren. Über ihren Pressesprecher lässt sie mir mitteilen, nichts von meinen Vorwürfen gegen meinen Träger würde zutreffen. Ich stelle einen Antrag auf Akteneinsicht.

Die Prüfungsunterlagen sind ein dicker Stapel Papier, beigeheftet wurden sogar die bösen Leserbriefe der Geschäftsführer freier Träger an den Tagesspiegel. Nichts in diesen Unterlagen weist irgendeine inhaltliche Prüfung von Fallbearbeitungen auf. Diese sogenannte Prüfung ist ein Witz, bzw. sie hat gar nicht stattgefunden.

Der Chefredakteur vom Tagesspiegel, Lorenz Maroldt, hatte auf meinen Einschreibebrief mit einem Satz geantwortet: „Das möchte ich gerne im Tagesspiegel lesen!“ Er räumt dafür eine Doppelseite ein und verändert kaum ein Wort, lässt meinen Text in der Ich-Form bestehen. Natürlich bekommt er dann eine Menge Gegenwind.

Der Bezirksstadtrat für Jugend behauptet plötzlich, er habe doch für ein Gespräch zur Verfügung gestanden, bis heute war das aber nicht möglich, und nun ist er Bürgermeister von Charlottenburg. Die Jugendamtsdirektorin rechtfertigt sich in einem dreiseitigen Schreiben, sie sei schon immer gegen das Outsourcen operativer Aufgaben aus dem Jugendamt gewesen. Doch im nächsten Satz erklärt auch sie, die Zusammenarbeit mit den freien Trägern sei geprägt von gegenseitigem Vertrauen.

Nur eine Handvoll erboster Geschäftsführer der immerhin 785 freien Träger in Berlin schreibt ein paar Briefe an den Tagesspiegel. Aber in den BVV-Sitzungen der Bezirksämter werden die „Hilfen zur Erziehung“ von nun an in Frage gestellt, das erfahre ich von einem RBB-Radioreporter aus dem Ressort Politik. Der Artikel habe ziemlich Staub aufgewirbelt, sagt er.

Ich werde auf eine Tagung des einzigen Fachverbandes für Sozialarbeit in Hannover eingeladen und sitze Geschäftsführern aus ganz Deutschland gegenüber. Sie können nicht verstehen, warum ich so wenig Vertrauen in diese Form der Sozialarbeit habe. Einer behauptet gar, ohne diese würde unsere Gesellschaft zusammenbrechen. Neben mir sitzt ein Psychologe, der eine Studie an 7000 Klienten in Berlin durchgeführt hat – für die Senatsverwaltung. Er bekommt einen hochroten Kopf, als ich sage, es gebe keine wirkungsorientierte Evaluation. Ich ahne schon das Schlimmste. Diese Studie werde ich mir mal ansehen.

Im Januar erfahre ich, dass nach dem Tod eines zwölfjährigen Mädchens in Hamburg sämtliche Akten des Jugendamtes und der zuständigen freien Träger beschlagnahmt wurden. Müssen dafür eigentlich erst Kinder sterben?

Doch dann geschieht etwas Wunderbares: Der Stadtrat für Jugend von Neukölln ruft mich an und bittet um ein Gespräch. Wir treffen uns. Wir treffen und erneut. Wir haben uns viel zu erzählen. Es geht weiter und ich bin voller Zuversicht. Es wird genügend Menschen geben, die sich für das Richtige einsetzen. Und ich werde weiter darüber schreiben.