, 04.11.2015

Begrabene Hoffnung

Süddeutsche Zeitung , 26.01.2006
von Christina BENDT

Dass es wirklich schlecht um sie steht, haben Ärzte der Frau sogar schriftlich bescheinigt. Als Fall mit „hoher Dringlichkeit“ liegt die Lungenkranke im Münchner Klinikum Großhadern. Um zu überleben, benötigt sie dringend ein Spenderorgan. Doch obwohl vergangene Woche in Zwickau eine Frau starb, deren Lunge der Münchner Patientin zugeteilt wurde, wartete diese am Mittwochabend noch immer. Auf der Intensivstation kämpfte sie weiter um ihr Leben, während das Organ auf einem Friedhof liegt. Die Ursache für ihr Leid: ein bizarrer Machtkampf zwischen Chirurgen und der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), deren staatlicher Auftrag es ist, die Organspenden zu koordinieren.


Nach eigenem Bekunden vertritt die DSO „die Interessen der Patienten, die auf eine lebensnotwendige Transplantation warten“. Doch in diesem Jahr will DSO-Chef Günter Kirste sparen – ausgerechnet an der Rufbereitschaft, welche sicherstellt, dass Ärzte zu jeder Tages- und Nachtzeit und bei noch so widrigem Wetter die kostbaren Organe holen. Während die Chirurgen bislang für ihre Bereitschaftsdienste entlohnt wurden, soll jetzt nur mehr die Organentnahme selbst bezahlt werden. Weil die Kliniken die Kürzungen nicht akzeptierten, kündigte Kirste zum 1. Januar einseitig die Verträge mit ihnen. „Die DSO wollte Druck ausüben“, sagt der Münchner Herzchirurg Bruno Reichart. „Aber die Ärzte gehören doch anständig bezahlt.“ Die Folge ist, dass sich viele Kliniken weigern, die neuen, schlechteren Verträge mit dem Organ-Monopolisten DSO zu unterzeichnen.


Ohne Vertrag aber wollten sich die Großhaderner Chirurgen nicht ins Flugzeug setzen, um die lebensrettende Lunge für ihre Patientin zu holen. „Wir sind nicht einmal versichert“, sagte ein Chirurg, der nicht namentlich genannt werden will, der SZ. Doch auch seine Kollegen aus den Transplantationszentren rund um Zwickau, die die Lunge für München entnehmen sollten, weigerten sich. „Wir haben kein Personal, um für andere zu explantieren“, lautete unisono die Absage der Universitätsklinik in Jena und der Herzzentren in Leipzig und Dresden. Weil die Rufbereitschaft nicht mehr entlohnt wird, halten viele Zentren keine Entnahmeteams mehr vor – auch Großhadern: „Die DSO wusste, dass wir keine Rufbereitschaft mehr stellen“, sagt der Chirurg. „Jetzt ist es zur Eskalation gekommen.“


Der Zustand sei skandalös, sagt Hans Neft, Referatsleiter im bayerischen Sozialministerium: „Man kann doch nicht Verträge kündigen, ohne eine Anschlussregelung zu haben.“ Die Chefs der bayerischen Transplantationszentren hätten aber versprochen, dass ein Fall wie in Zwickau nicht noch einmal passieren werde. „Wir fliegen jetzt wieder“, versichert der Großhaderner Chef-Chirurg Karl-Walter Jauch der SZ. „Wir waren blauäugig, dass wir dachten, die anderen Kliniken entnehmen für uns.“ Die DSO nennt die Vorfälle „äußerst bedauerlich“. Es gebe nun „definitive Absprachen“, damit „Entnahmen“ künftig sichergestellt seien.
Die Münchner Patientin kann nur hoffen, dass sie noch rechtzeitig ein neues Angebot erhält. In jedem Fall aber fehlt das Organ, das in Zwickau mit der Spenderin beerdigt wurde, der Gemeinschaft der 492 Kranken auf der Warteliste. Pro Jahr werden nur etwa 220 Lungen transplantiert.

Auszeichnungen:

"Wächterpreis der Tagespresse" 2013

Die Menschen hinter dieser Geschichte: