, 04.11.2015

Eine Niere auf dem kleinen Dienstweg

Süddeutsche Zeitung , 09.02.2006
von Christina BENDT

Als der Mann gestorben war, begannen seine Angehörigen zu verhandeln: Alle Organe dürften die Ärzte entnehmen, um damit Kranken zu einem neuen Leben zu verhelfen. Aber nur unter einer Bedingung: Eine Niere ist für die Witwe des Verstorbenen reserviert.

Der Arzt Onur Kücük befand sich in einem Dilemma: Herz, Lunge, Leber – auf all das warten schwerkranke Patienten sehnlichst. Zugleich war der Wunsch, den ihm die Familie des Toten am 20. Januar in Berlin vortrug, eigentlich verständlich. Schließlich hatte der Verstorbene seiner Frau schon zu Lebzeiten eine Niere spenden wollen; sie aber wollte nicht, dass er sich für sie aufschneiden ließ. Und so war es vermutlich im Sinne des Toten, wenn die Witwe nach seinem Ableben eine seiner Nieren bekommt.

Aber Kücük wusste auch: Wenn er sich auf die Bedingung der Familie einlässt, verstößt er gegen das Transplantationsgesetz. Das Gesetz sieht zweifelsfrei vor, dass über Organe von Toten nicht verhandelt wird und dass Organe nur nach medizinischen Kriterien vergeben werden. Die Nieren eines Toten erhalten jene Menschen, die ganz oben auf der Liste der 13 000 Wartenden stehen und das Organ am dringendsten benötigen.

In seiner Not rief Onur Kücük seinen Vorgesetzten an und der wieder seinen Vorgesetzten, und so landete der Verhandlungsfall schließlich bei Günter Kirste, dem Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), welche für die Koordinierung der Organspende zuständig ist – und auch für deren gesetzeskonformen Ablauf.

Trotzdem sah sich Kirste dem Gesetz offenbar weniger verpflichtet als der Arzt aus Berlin. Der DSO-Chef rief kurzerhand die Spitzen der Organvergabe in Deutschland an, um einen Weg am Gesetz vorbei aufzutun. Das geht aus Unterlagen hervor, die der SZ vorliegen. Demnach telefonierte Kirste mit Hans-Ludwig Schreiber, dem Vorsitzenden der Ständigen Kommission Organtransplantation (StKO), welche die Praxis der Organspende im Einklang mit dem Gesetz regeln soll. Und er sprach mit Axel Rahmel, dem Direktor von Eurotransplant. Die internationale Stiftung nimmt anhand der Wartelisten und üblicherweise auch anhand der gesetzlichen Regeln die Verteilung der Organe vor.

Die abendlichen Gespräche führten schnell zur Einigung. Gemeinsam verständigten sich die drei Transplantations-Eminenzen darauf, die Wartenden auf der Liste zu übergehen und der Witwe die Niere ihres Mannes zuzuteilen.

Dass sie das Transplantationsgesetz (TPG) brachen, war den Beteiligten bewusst. „Ja, das hat direkt gegen das Gesetz verstoßen“, sagte der Jurist Schreiber der SZ. „Das haben wir uns bei der Entscheidung sehr wohl klar gemacht.“ Allerdings sei die Frau seit fünf Jahren für eine Transplantation angemeldet gewesen, und es habe der Verlust aller Organe des Toten für andere Wartende gedroht. „Sollten wir die verkommen lassen?“, fragt Schreiber. Dass infolge dieser Entscheidung nun „einer der übergangenen Wartenden sterben könnte“, räumte der Jurist ein. „Es wird natürlich das Rechtsgut anderer Wartender verletzt.“ Dennoch kam DSO-Chef Kirste, wie aus einem Schreiben hervorgeht, zu dem Schluss, es sei eine „menschliche und ärztlich sinnvolle Lösung“ gefunden worden. Rahmel äußerte sich zunächst nicht.

Es ist anscheinend eine Frage von Theorie und Praxis: Erst Anfang Dezember hatte sich die StKO in Berlin getroffen und die „Problematik der Zustimmungsbeschränkung“ erörtert. Der Anlass: Nach den Erfahrungen der DSO häuften sich die Fälle, in denen Angehörige für eine Organspende Bedingungen stellten. Mitunter sollten Verwandte, Freunde oder gar ein (womöglich reicher) Bekannter einzelne Organe bekommen; mitunter wurde auch gefordert, dass die Organe nicht an Ausländer gehen – oder nur an gläubige Katholiken.

Die Besprechung in Berlin ließ keinen Zweifel: Solche Zustimmungsbeschränkungen seien unzulässig, folgerte Hans Lilie, Medizinrechtler an der Universität Halle, dem Sitzungsprotokoll zufolge. Sie störten das Solidarsystem der Organspende. Selbst Rahmel sagte damals laut Protokoll: Wenn sich die Angehörigen durch Gespräche nicht überzeugen ließen, ihre Bedingungen aufzugeben, könne eben keine Organentnahme erfolgen.

Doch sechs Wochen später galt all das offenbar nichts mehr. Nachträglich wurde das Vorgehen im Fall der nierenkranken Frau noch in einer Sitzung mit Helmut Sengler, Ministerialrat im Bundesgesundheitsministerium, abgestimmt. Alle seien bei dem Treffen mit Sengler der Meinung gewesen, dass „richtig gehandelt wurde“, auch wenn dies eigentlich „eine Änderung des TPG“ erfordere, schrieb Kirste am 25. Januar an die Ärzte der DSO. Sollten solche Fälle wieder auftreten, sei die Führung der DSO zu kontaktieren. „Jeder Fall wird akut in einer Telefonkonferenz zwischen der DSO, Eurotransplant unter Hinzuziehung von Herrn Prof. Schreiber oder Herrn Prof. Lilie diskutiert und entschieden“, schrieb Kirste. Welche Voraussetzungen für eine Vorzugsbehandlung nötig sind, ließ er offen.

Es könne durchaus sinnvoll sein, dass nahe Verwandte bei der Organspende bevorzugt werden, sagt Gundolf Gubernatis, der viele Jahre bei der DSO gearbeitet hat und nun Vorstand in einem Wilhelmshavener Krankenhaus ist. „Schließlich ist niemandem klar zu machen, warum die eigene Familie unberücksichtigt bleibt.“ Doch dazu müsse man nun einmal das Gesetz ändern und nicht einfach am Gesetz vorbei handeln. „Wenn eine Runde von älteren Herren nach eigenem Gutdünken über Leben und Tod entscheidet, schafft das jedenfalls kein Vertrauen in die Transplantationsmedizin“, sagt Gubernatis. „Gerade mit solcher Willkür wollte das Transplantationsgesetz aufräumen.“

Die Vorkommnisse werfen erneut die Frage auf, ob die Kontrolle über die Beteiligten rund um die Organspende ausreichend ist. Erst vor kurzem war bekannt geworden, dass eine Patientin, die mit hoher Dringlichkeit auf eine Spenderlunge wartete, ihr lebensrettendes Organ wegen Vertragsstreitigkeiten nicht erhalten hat. Hintergrund war, dass die DSO bundesweit Ärzten die Verträge zur Organentnahme gekündigt hatte (siehe Kasten).

Die bayerische Sozialministerin Christa Stewens (CSU) sieht daher dringenden Bedarf, der DSO genauer auf die Finger zu schauen. Doch im Bundesgesundheitsministerium, wo Helmut Sengler, der auch den Nieren-Fall von Berlin gut hieß, für Fragen der Organspende zuständig ist, sieht man „keinen Handlungsbedarf“. Nun müssten die Prüfungs- und die Überwachungskommission, die die Arbeit von Eurotransplant und der DSO kontrollieren sollen, ihre Arbeit machen, sagt eine Ministeriumssprecherin.
Womöglich brauchen diese Kommissionen aber selbst eine bessere Überwachung. Denn ihnen waren die Probleme mit den gekündigten Verträgen zur Lungenentnahme längst bekannt, als das Spenderorgan für die Großhaderner Patientin verloren ging. Schon am 18. November hatten die Münchner Chirurgen nicht nur der DSO, sondern auch dem Vorsitzenden der beiden Kommissionen, Heinz Angstwurm, schriftlich mitgeteilt, dass sie gemäß der Kündigungen ab dem 1. Januar 2006 keine Organe mehr entnehmen. Angstwurm wollte sich zu diesem Fall nicht äußern.

Noch sind die Kommissionen, die das Transplantationsgesetz schützen sollen, im Berliner Nieren-Fall nicht aktiv geworden. Der Jurist Schreiber, der den Handel zuließ, gehört selbst der Prüfungskommission an. Eurotransplant-Mann Rahmel war bis vor kurzem dabei.

Wenn ein Organspender gestorben ist, entscheidet das Gesetz, wer seine Organe bekommt – oder eine Telefonkonferenz dreier Herren.

Auszeichnungen:

"Wächterpreis der Tagespresse" 2013

Die Menschen hinter dieser Geschichte: