, 04.11.2015

Herzklappen als Ware

Herzklappen als Ware

Süddeutsche Zeitung , 11.08.2006
von Christina BENDT

Dass Ärzte „wie Stare um den Operationstisch herumstehen” und sich um die Überreste eines Menschen streiten, müsse unbedingt verhindert werden, mahnt der Jurist Hans-Ludwig Schreiber seit langem. Wie die Organtransplantation, so müsse auch die Entnahme von Gewebe dringend gesetzlich geregelt werden, fordert der Experte für Transplantationsrecht. Nun hat der Gesetzgeber nach langem Zögern Ergebnisse vorgelegt. Am Mittwoch verabschiedete das Kabinett einen Entwurf für ein Gewebegesetz, das die Verwendung all der nützlichen Überreste regelt, die sich einem Leichnam entnehmen lassen. Herzklappen gehören ebenso dazu wie die Aorta, die Hornhäute der Augen, Knochenteile, Leberstücke oder Zellen der Bauchspeicheldrüse.

Mit dem Gesetzentwurf ist außer der Bundesregierung allerdings kaum jemand zufrieden. Die Bundesärztekammer, deren Ständiger Kommission Organtransplantation Hans-Ludwig Schreiber angehört, bewertete ihn gar als „große Enttäuschung”. Der wichtigste Kritikpunkt: Gewebe würden jetzt pauschal als Arzneimittel gelten. Sie unterliegen damit auch keinem Handelsverbot, sodass „dem gewerblichen Markt für Gewebetransplantate Tür und Tor geöffnet” werde. „Kliniken werden zu pharmazeutischen Unternehmen gemacht”, beklagt Roland Hetzer, Leiter des Deutschen Herzzentrums in Berlin, das selbst über eine große Klappenbank verfügt.

Was Hetzer besonders ärgert: Der Gesetzgeber mache kaum einen Unterschied zwischen den vielen Geweben des menschlichen Körpers. Dabei sei „nicht nachvollziehbar”, weshalb etwa Augenhornhäute plötzlich als Arzneimittel gelten sollen, obwohl sie wie ein Organ der Leiche entnommen und Bedürftigen unverändert eingesetzt werden.

Die Kritiker übersehen dabei allerdings, dass sich in der gesetzlosen Zeit längst ein Markt für die diversen Gewebe etabliert hat. Denn die allermeisten Gewebe müssen aufgearbeitet werden, bevor Ärzte sie weiterverwenden können. Genau dadurch aber entsteht das Problem: Mit solchen Geweben lässt sich Geld verdienen, da die zur Aufbereitung nötigen Zwischenschritte die menschlichen Überreste zur industriellen Ware machen.

Weil es auch den pfiffigsten Biotechnologen bisher nicht gelungen ist, die komplizierten Strukturen des Körpers im Labor nachzubauen, sind die Zellen und Gewebe, die Mutter Natur erschaffen hat, bis heute unersetzlich. Und die Möglichkeiten für ihre Verwendung sind inzwischen so mannigfaltig wie die Gewebe selbst. So können Herzklappen eine schwache Pumpe stärken – und zwar besser als Klappen aus Kunststoff oder vom Schwein. Hornhäute machen Blinde wieder sehend, und Herzbeutelgewebe kann zum Flicken von Gefäßen genutzt werden. Mitunter werden die Gewebe auch zerschreddert. Knochenmasse kann dann Beine verlängern, und Zellen der Bauchspeicheldrüse liefern Diabetikern Insulin. Bisweilen wird Haut sogar zu kosmetischen Zwecken verpflanzt, Grundlagenforscher stillen an allen möglichen Geweben ihren Forscherdrang und Leberzellen halten in der Pharmaindustrie für Toxizitätstests her. „Human-Knorpel, gefriergetrocknet”, „Knochenchips” oder „Leberzelleneinheiten” heißen die Produkte aus den Tiefkühltanks der Gewebebanken.

Mit Unbehagen beobachten Kritiker der Szene, wie die Interessen dabei verquickt werden. So sind viele Firmen, die mit Gewebe Umsatz machen wollen, eng mit jenen Ärzten verbunden, die an der Quelle sitzen: Einige Transplantationsmediziner mischen in dem Geschäft inzwischen mit. Da ist zum Beispiel der Herzchirurg Axel Haverich von der Medizinischen Hochschule Hannover, der im Jahr 2001 die Firma Artiss gegründet hat. Haverich ist noch dazu Stiftungsrat der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) und entscheidet so über die Transplantationspolitik mit. Seine Firma versucht Luftröhren- und Herzimplantate aus menschlichem Gewebe anzuzüchten. „Das ist ein Markt von mehreren Milliarden Mark”, sagte Haverichs ehemaliger Kompagnon, Ministerinnen-Gatte Heiko von der Leyen, anlässlich der Firmengründung.

Die Menschen aber, denen die Gewebe einst gehörten, haben bisher nichts von den möglichen Gewinnen. „Sie werden zum Altruismus motiviert”, sagt die Bioethikerin Ingrid Schneider von der Universität Hamburg. „Aber alle anderen – der Arzt, der Wissenschaftler, der Unternehmer, noch dazu oft in einer Person – profitieren.” Der Nationale Ethikrat hat sich deshalb dafür ausgesprochen, dass ein Teil des Gewinns, der mit Geweben gemacht werde, in einen gemeinnützigen Fonds eingezahlt werden soll.

Ob das neue Gesetz wirklich verhindern kann, dass der menschliche Körper zum Zankapfel wird, ist somit fraglich. Denn es behandelt nicht das konkrete Problem, wer denn im konkreten Fall über die Gewebe eines Toten verfügen soll. Schon jetzt bestehe eine „Konkurrenzsituation von Gewebeeinrichtungen”, beklagt die Bundesärztekammer. Mitunter gibt es Auswüchse wie im Frühjahr 2003 in Göttingen, wo sich Chirurgen – wie von Hans-Ludwig Schreiber immer gefürchtet – am OP-Tisch wortgewaltig darüber stritten, wer die Herzklappen behalten dürfe. „Ich habe es entnommen, also ist das Herz jetzt meins”, proklamierte damals ein Chirurg vom Deutschen Herzzentrum Berlin.

Längst rangeln nicht mehr nur die verschiedenen Gewebebanken um die wertvollen Hinterlassenschaften, sondern auch eigentlich gemeinnützige Organisationen. So hat die DSO eine Gewebe-Tochter gegründet, die DSO-G, die seit Jahren mit ihrem europäischen Pendant BIS aus Leiden zankt, wer die Gewebespenden koordinieren darf. Zu ihrem Leidwesen hat die DSO-G vom Gesetzgeber bisher nicht den Auftrag dazu erhalten, wie ihn die DSO für Organe hat. Das sei auch richtig so, sagt die Ärztekammer: Keinesfalls dürfe die DSO „die Verfügungsgewalt” über die Gewebe bekommen, da sie wegen ihrer Aufgaben in der Organspende „einen privilegierten Zugang” zu Kliniken und Spendern habe.

Getrennt wird ohnehin schon zu wenig zwischen Gewebe- und Organspende. Auch auf den Spendeausweisen wird nicht zwischen beiden differenziert. Für einen Menschen kann es aber einen großen Unterschied machen, ob er mit seinem Herzen Leben rettet oder ob seine Überreste als Biomaterial Verwendung finden. In den USA sind einer Umfrage zufolge 20 Prozent der Angehörigen von Gewebespendern im Nachhinein unglücklich gewesen, wie sie sagten: Wenn sie gewusst hätten, was mit den Geweben passiert, hätten sie sich gegen die Spende ausgesprochen.

Auszeichnungen:

"Wächterpreis der Tagespresse" 2013

Die Menschen hinter dieser Geschichte: