Um Leben und Tod: Organtransplantationen

Legitimationsdefizite und Rechtsstaatsferne sind die Zentralprobleme der Transplantationsmedizin in Deutschland

Überlegungen von Prof. Dr. Wolfram HÖFLING, Universität Köln

Seit langem ist bekannt, daß die Schere zwischen Organtransplantationen und auf ein Organ wartenden Patienten in Deutschland weit geöffnet ist. Und es gilt für viele ebenso als ausgemacht, daß dies an der erweiterten Zustimmungslösung liegt, wonach die Explantation eines Organes der vorangehenden Einwilligungserklärung des Betroffenen oder der Zustimmung der Angehörigen bedarf. Wolle man die Spendenquote von zur Zeit ca. 15 pro eine Million Einwohnern (15 pmp) erhöhen, so müsse man auf Informations-, Entscheidungs- oder Widerspruchsmodelle setzen.

Die Spitzen aller Bundestagsfraktionen haben sich nunmehr darauf geeinigt, in allernächster Zeit einen interfraktionellen Gruppenantrag einzubringen, wonach die Bürger(innen) regelmäßig, in strukturierter Form und mit Nachdruck mit dem Thema konfrontiert werden sollen. Als Vorbild und Maßstab für derartige Reformüberlegungen zur Steigerung des Organaufkommens in Deutschland dient oftmals Spanien, das eine Spenderquote von fast 35 pmp aufweist. Die Debatte ist indes unterkomplex und lenkt die Aufmerksamkeit weg von den elementaren Konstruktionsfehlern des deutschen Transplantationsrechts und seinen verfassungsrechtlich hochbedenklichen Organisations- und Entscheidungsstrukturen. Sie kann z. B. nicht erklären, warum in Deutschland selbst signifikante Unterschiede im Organaufkommen festzustellen sind. Hamburg etwa erreicht mit einer Quote von 25,3 das Niveau Österreichs, das mit seiner Widerspruchslösung ebenfalls als Musterland gilt. Unter sachverständigen Beobachtern herrscht deshalb auch weitgehende Einigkeit darüber, daß andere Gründe für die prekäre Knappheit verantwortlich sind, etwa die unzureichende Kooperation zwischen den Entnahmekrankenhäusern und der Koordinierungsstelle Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO).

In Umsetzung einer EU-Richtlinie hat die Bundesregierung nunmehr zwar einen Gesetzentwurf vorgelegt, der u. a. durch die Institutionalisierung von Transplantationsbeauftragten die Steuerungsschwächen des geltenden Rechts auffangen will. Das kann indes die erforderliche grundsätzliche Neujustierung des Transplantationsrechts nicht ersetzen.

Die Transplantationsmedizin

  • erweist sich trotz ihrer professionellen Etablierung weiterhin als große psycho-emotionale Herausforderung,
  • zwingt zu ethischen Grenzgängen
  • und berührt Tabuzonen.

Das „Geschenk“ gleichsam neuen Lebens aus dem Sterben eines Anderen bei der sog. postmortalen Organspende, der nach klassischem Medizinrecht nicht indizierte Eingriff in die körperliche Integrität des Lebendspenders im fremdnützigen Interesse, die Allokationsentscheidungen, mit denen nicht nur Lebenschancen zugeteilt, sondern implizit auch „Todesurteile“ über nicht berücksichtigte Patienten gesprochen werden, all dies macht deutlich, vor welchen Schwierigkeiten der parlamentarische Gesetzgeber bei der Regulierung steht.

Elementare Bedingung ist dabei, daß er die Beachtung fundamentaler formaler Kriterien wie Transparenz, Konsistenz und Legitimität sichert. Gemessen hieran erweist sich das geltende Transplantationsgesetz (TPG) als ein bedrückendes Beispiel eines mißlungenen Systems regulierter Selbstregulierung. In Anknüpfung an die vorgefundenen Strukturen hat der Gesetzgeber ein überaus kompliziert gesponnenes Netz von Kooperationsmustern geschaffen:

  • mit Implantationsmonopol hinsichtlich vermittlungspflichtiger Organe ausgestattete Transplantationszentren,
  • eine Stiftung niederländischen Rechts, nämlich Eurotransplant, die das Vermittlungsmonopol besitzt;
  • eine mit strafbewehrter Exklusivität ausgestattete Koordinierungsstelle, die DSO;
  • schließlich die Bundesärztekammer, ein nicht rechtsfähiger Verein, dem durch § 16 TPG die zentrale Funktion zugewiesen ist, die Regeln zur Feststellung des Todes, zur Aufnahme in die Warteliste und zur Organvermittlung festzustellen.

Diese weitgehende Delegation der Entscheidungsprozesse an private Akteure wirft zwangsläufig die Frage nach der staatlichen Gewährleistungsverantwortung auf. Ihre Beantwortung ist klar. Der Gesetzgeber verweigert sich bis heute einer angemessenen Regulierung. An drei Problembereichen sei dies verdeutlicht.

Erster Problembereich

 

Nach § 12 Abs. 3 Satz 1 TPG sind die vermittlungspflichtigen Organe „nach Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, insbesondere nach Erfolgsaussicht und Dringlichkeit“ zu vermitteln. Hier offenbart sich ein kardinaler Geburtsfehler des Gesetzes. Nicht nur, daß der Normtext mit Dringlichkeit und Erfolgsaussicht auf strukturell konkurrierende Kriterien für die Verteilung verweist, ohne nähere Angaben über das Verhältnis zueinander zu treffen. Schlimmer noch: Der Gesetzgeber erweckt den illusionären Anschein, als sei die Verteilung knapper Organe ein medizinisches Problem. Doch es gibt schlechterdings keine medizinischen Gründe, eine Heilung oder Lebensverlängerung, die möglich und indiziert ist, nicht zu versuchen.

Fragen der Organverteilung sind vielmehr Gerechtigkeitsfragen. Was aber ist „gerecht“? Darf man z. B. sog. Non-ET-Residents, also Patienten, die nicht im Eurotransplantverbund einen Wohnsitz haben, von der Vermittlung bestimmter Organe ausschließen? Kann es wirklich sein, daß eine israelische Staatsbürgerin, die zum Zwecke einer kombinierten Nieren-/Pankreastransplantation an ein deutsches Universitätsklinikum kommt, dort 20.000 Euro für die Diagnostik und weitere 100.000 Euro für die Aufnahme auf die Warteliste zahlt (nach welchen Gebührensätzen eigentlich?), um kurze Zeit später zu erfahren, sie sei auf Anweisung von Eurotransplant wieder von der Warteliste genommen worden?

Immerhin hat hier das Landgericht Essen in einem der seltenen Fälle der Justizbefassung mit der Transplantationsmedizin kurzen Prozeß mit dieser Praxis gemacht. Ein anderes Beispiel: Jahrelang folgte die Verteilung von Lebern weitgehend gesundheitsutilitaristischen Kriterien. Die Richtlinien der Bundesärztekammer schrieben vor, daß in Abwägung von Dringlichkeit und Erfolgsaussicht Zweitdrittel der zu verteilenden Lebern für nicht hochdringliche Patienten zur Verfügung stehen sollten. Insbesondere Patienten mit chronischer Lebererkrankung drohte damit der „Tod auf der Warteliste“.

Zweiter Problembereich

Mit Beginn des Jahres 2007 sehen die neuen Verteilungskriterien eine diametral andere Zuteilungspraxis vor. Nunmehr ist die Allokation von Lebern sehr viel stärker auf das Kriterium der Abwehr konkreter Lebensgefahr umgestellt mit der Folge schlechter „Organnutzungseffizienz“. Die neue Praxis soll hier nicht kritisiert werden. Doch die Frage drängt sich auf, was ausgerechnet die Bundesärztekammer dazu legitimieren soll, derartige Gerechtigkeitsfragen zu entscheiden. Es zeugt entweder von einer abgrundtiefen Verständnislosigkeit für die Problematik oder aber von anmaßender Selbstüberschätzung, wenn der Präsident der Bundesärztekammer jüngst die Befugnis zum Erlaß der Allokationsregeln als elementaren Bestandteil der ärztlichen Selbstverwaltung verteidigt hat.

Die Entscheidung über Leben und Tod ist nichts weniger als Selbstverwaltung des medizinischen Subsystems, sie ist Fremdverwaltung existentieller Grundrechtsgüter! Die unzureichende Legitimation nicht nur der Bundesärztekammer, sondern auch der Vermittlungsstelle Eurotransplant erfährt eine die Verfassungswidrigkeit der Regelungen manifestierende Zuspitzung daraus, daß die transplantationsmedizinischen Entscheidungsprozesse nahezu vollständig der Aufsicht entzogen sind; sie sind geradezu darauf angelegt, rechtsstaatliche Kontrolle und Rechtsschutz zu unterlaufen. Gegen wen und gegen was und wo eigentlich soll ein nicht auf die Warteliste aufgenommener, ein fehlerhaft platzierter, ein schlicht übergangener Patient klagen? Wie wehrt man sich in Deutschland gegen Entschei-dungen der niederländischen Stiftung privaten Rechts Eurotransplant?

Ein dritter und letzter Problembereich:

Die menschendienliche Perspektive der Transplantationsmedizin bleibt unterbelichtet, wenn sie sich nicht offen der dilemmatischen Situation stellt, daß es in einem zweifachen Sinne um Leben und Tod geht: nicht nur auf der Seite des Empfängers, sondern auch auf derjenigen des Spenders. Die auch in dieser Zeitung mehrfach aufgegriffene erneute Diskussion um die Gleichsetzung von Hirntod und Tod des Menschen ist dabei nur ein, wenn auch zentrales Thema. Die alles entscheidende Frage, wie wir uns das Subjekt denken, von dem wir sagen, es sei schon tot (genug), ist mitnichten eine Angelegenheit medizinischer Monopolkompetenz. Mit besonderer Aufmerksamkeit müssen auch die Entwicklungen im Eurotransplant-Bereich beobachtet werden, den Organmangel über neue Spendergruppen diesseits des Hirntodes abzumildern. Die in jüngster Zeit intensivierte Diskussion um die Non-Heart-Beating-Donors darf die Politik nicht ignorieren. Von besonderer Brisanz ist dabei die Organentnahme bei jenen Patienten, die als infaust eingeschätzt werden und bei denen man sich zur Beendigung der lebenserhaltenden Maßnahmen entschließt. Und endgültig Tabugrenzen berührt die Transplantationsmedizin, wenn, wie nunmehr in Belgien, Organe bei Patienten entnommen werden, die zuvor euthanasiert worden sind.

Solange sich der Gesetzgeber diesen drängenden verfassungsrechtlichen wie medizinethischen Herausforderungen gegenüber als ignorant erweist, werden punktuelle Interventionen in das System die Grundvoraussetzung für eine Erhöhung der Spendebereitschaft der Bürger weiterhin fehlen, nämlich

  • das Vertrauen in die Integrität,
  • Legitimität
  • und in die rechtsstaatliche Rationalität der Transplantationsmedizin.

 


 

Dieser Essay von Wolfram HÖFLING, der u.a. einen Kommentar zum Transplantationsgesetz herausgegeben hat, erschien am 15.12.2011 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ).
Überlegungen zur ineffizienten Organisationsstruktur bei einem der wichtigsten Akteure in der Transplantationsmedizin finden sich unter Die DSO: Einflussnahme und Interessengeflecht.

Auszeichnungen:

"Wächterpreis der Tagespresse" 2013

Die Menschen hinter dieser Geschichte: