Ein anderer Fall: Petra RICHERS in Bayern

von Uwe KRÜGER

Den nachfolgenden Fall von Petra RICHERS dokumentieren wir mit freundlicher Genehmigung der "Internationalen Zeitschrift für Journalismus" message (Ausgabe 2/2008). Hier geht es ebenfalls um ein privat geführtes Pflegeheim: "Haus Wendelstein" im bayerischen Brannenburg im Landkreis Rosenheim.

1. Teil: Im Pflegeheim

Es ist ein Freitag, der 13., an dem Petra Richers aus dem heimatlichen Rheinland nach Oberbayern übersiedelt. Mit Sack und Pack und den zwei Söhnen, deren zwei Väter längst nicht mehr Teil ihres Lebens sind. Es ist Februar 2004; ein Pflegeheim in Brannenburg bei Rosenheim hat ihr einen Job angeboten.


Es ist schon am Anfang einiges merkwürdig. Die Bezahlung liegt unter Tarif. Aber okay, sie ist neu in der Branche, hat eigentlich Krankenschwester gelernt und nach einem schweren Arbeitsunfall noch Pflegemanagement studiert, um nicht mehr mit den Muskeln arbeiten zu müssen, sondern als Pflegedienstleiterin mit dem Kopf. Seltsamer ist schon, dass im Arbeitsvertrag ihre Aufgaben nicht beschrieben sind. „Man stellte mich den Mitarbeitern als neue Schreibkraft vor“, erinnert sich Petra Richers, die doch eigentlich den Pflegern gegenüber weisungsbefugt sein sollte.
Bald wird ihr klar, dass das Methode hat. Die Besitzer und Leiter des „Hauses Wendelstein“ – ein älteres Ehepaar und seine zwei Söhne, die alle mit im Haus wohnen – wollen offensichtlich keine anderen Autoritäten zulassen. Die Konflikte lassen nicht lange auf sich warten.

Heizung und Putzfirma – überflüssig

„Wenn ein Bewohner verstarb, dann wurde er sofort nach unten in die Leichenkammer geschafft“, sagt Richers. Das ist laut Bestattungsgesetz verboten, erst muss ein Arzt gerufen werden, der den Tod feststellt. „Ich gab die Anweisung, den Toten nicht runterzubringen, aber die Besitzer haben gedroht: Wer ihn nicht runterbringt, dem wird gekündigt! Die wollten den Toten nicht im Haus haben.“


Ohnehin scheinen die Bewohner lediglich ein Kostenfaktor zu sein. Im kalten April 2004 wird über Wochen die Heizung abgestellt, um Heizöl zu sparen; Bewohner und Personal frieren. Manchen Senioren schreibt man Limonade auf die Rechnung, wenn sie nur Wasser bekommen haben. Zum Frühstück gibt es jeden Morgen das Gleiche: eine einzige Scheibe Toast mit Marmelade, der immergleichen Marmelade.
Es fehlt an Desinfektionsmitteln, Waschlappen, Gummihandschuhen. Gebrauchte Windeln werden nicht weggeworfen, sondern getrocknet und wieder verwendet. „Es gab oft keine Seife, keine Körperlotion. Aber für all das bezahlen die Pflegekassen das Pflegegeld!“


Das Personal reicht hinten und vorne nicht, Pfleger müssen wochenlang durcharbeiten und werden sogar zum Putzen abgestellt, weil die sparsame Heimleitung der Putzfirma gekündigt hat. Petra Richers schreibt eine Notiz über „gravierende personelle Unterbesetzung“: Die Pflege der Bewohner sei nicht mehr gewährleistet, sie könne die Verantwortung dafür nicht übernehmen. Sie will, dass der Vize-Heimleiter dieses Papier unterschreibt, aber der weigert sich.

Kündigung aufs Fax gelegt

Die ganze Zeit schluckt die 43-Jährige ihre Wut hinunter. Die Magensäure sprudelt, Richers erbricht Blut, ihre Speiseröhre entzündet sich. Freunde raten ihr, endlich diesen Job hinzuschmeißen. Im Juli 2004, ein halbes Jahr nach ihrer Einstellung, legt sie die Kündigung aufs Fax.


Dann geht sie ins Landratsamt zur Heimaufsicht, die alle Pflegeheime kontrollieren sollte, und erstattet auch Anzeige bei der Staatsanwaltschaft. Die Heimaufsicht begeht das Heim, es passiert nicht viel. Auch der Staatsanwalt sprüht nicht gerade vor Aktivität. Im September 2004 greift Petra Richers zum Telefonhörer und ruft das Oberbayerische Volksblatt an, die Lokalzeitung für Rosenheim und Umgebung.

2. Teil: In den Medien

Der Redakteur des Oberbayerischen Volksblattes ist nicht besonders glücklich mit seiner Whistleblowerin. Mehrmals haben sie telefoniert, Petra Richers hat ihm von Skandalen erzählt und von Beweisen. Dann war sie bei ihm in der Redaktion, aber mit den Beweisen war das so eine Sache.


„Ich habe nichts Stichhaltiges bekommen. Keine klassischen Pflegeskandale, die etwa Angehörige hätten bestätigen können. Sie hat sich auf den autoritären Führungsstil der Heimleitung konzentriert, wie die menschlich mit den Bewohnern und dem Personal umgeht“, sagt der heute 41-jährige Ludwig Simeth, Rosenheimer und seit dem 19. Lebensjahr beim Oberbayerischen Volksblatt, mit Unterbrechung fürs Studium. „Das ist schwer zu handhaben. Da stoße ich als kleiner Lokalredakteur an meine Grenzen.“

Keine Zeit für Investigatives

Und seine Grenzen sind eng. Mit ein bis zwei Kollegen muss er täglich zwei Seiten produzieren, dazwischen Richtfeste, Autobahnunfälle und Grundstücksstreitereien beleuchten. Eigentlich hat er für so etwas gar keine Zeit; aber er nimmt sich immer mal eine halbe Stunde.
Schwierig ist zum Beispiel Richers’ Vermutung, das Heim würde vor scharfen Kontrollen des Landratsamtes verschont, weil der Oberkontrolleur gemeinsame Sache mit den Betreibern mache. Das Gerücht, das Richers schon von mehreren Seiten in der Pflegebranche gehört hat, geht so: Die Heimbetreiber besäßen in Florida ein Ferienhaus, und der Heimaufseher im Landratsamt würde dort kostenlos Urlaub machen.


Prinzipiell ist so etwas schon möglich, denkt Redakteur Simeth; Pflegeheime sind ein gutes Geschäft in der landschaftlich reizvollen Gegend, in die Senioren aus ganz Deutschland ziehen. Aber wie soll er das aufklären? Er ruft einen ehemaligen Redakteurskollegen an, der mittlerweile Sprecher des Landratsamtes ist. Der sagt ihm im Vertrauen: „Die Sache ist hier schon geprüft worden, und du kannst mir glauben: Der Mann war noch nie in den USA.“


Und so erscheint dann am Nikolaustag 2004 – drei Monate nach dem ersten Anruf von Petra Richers in der Redaktion – auf der Rosenheim-Lokalseite der Aufmacher „Ein Pflegeheim unter Beschuss“. Richers, namentlich nicht genannt, wird mit ihren Vorwürfen zitiert; der Heimleiter nennt das eine „ganz üble Hetzkampagne“ und kontert, die Probleme hätten an ihrer „Unfähigkeit“ gelegen, sie sei mit ihrem Job als Führungskraft „völlig überfordert“ gewesen. Das Landratsamt sagt, man habe das Heim kontrolliert, und tatsächlich habe man „Mängel festgestellt, die inzwischen zum Teil behoben“ worden seien. Ein Schlagabtausch ohne großen Erkenntnisgewinn.

Recherche auf eigene Faust

Die öffentliche Kritik an ihrer Person trifft Richers schwer; in ihrem Arbeitszeugnis hatte der Heimleiter sie noch als „sehr qualifizierte, stets engagierte und absolut zuverlässige Mitarbeiterin“ bezeichnet. Und sie recherchiert selbst, spricht mit anderen ehemaligen Mitarbeitern des Heims; viele haben dort gekündigt. Auch ihre Vorgängerinnen hatten den Verdacht, das Landratsamt kündige seine Kontrollen an.
Anfang 2005 kommt Bewegung in die Sache, der Staatsanwalt schaltet sich doch noch ein. Eine Handvoll Polizisten zieht los, interviewt frühere Mitarbeiter des Heims. Es wird eine Akte angelegt. Die Polizisten stellen ihre Arbeit zwar bald wieder ein, aber Richers kommt über verschlungene Wege an die Akte. Jetzt hat sie etwas in der Hand, jetzt kann sie sagen: Es gibt eine polizeiliche Akte über das Heim und den Kontrolleur des Landkreises.


Das gibt ihr Kraft für ihren Kampf, denn persönlich geht es ihr nicht gut. Dreimal wird sie am Magen operiert, während sie eine berufliche Wiedereingliederungsmaßnahme absolviert. Danach ist sie gezwungen, Hartz IV zu beantragen – denn als Krankenschwester kann sie nicht mehr arbeiten, und als Pflegedienstleiterin darf sie nicht mehr. Die Pflegekassen bescheinigen ihr, sie habe in den letzten fünf Jahren nicht genügend Berufserfahrung gesammelt. „Berufsverbot“ sagt Richers dazu, die ohnehin den Eindruck hat, dass in Bayern viele Stellen erstaunlich eng zusammenarbeiten.

Das „Horror-Heim“: Aber wo steht es?

Die Medien kommen noch einmal ins Spiel: Buchautor Markus Breitscheidel, der in Wallraff-Manier Missstände in Pflegeheimen aufgedeckt hat, recherchiert für den Nachfolgeband seines Bestsellers „Abgezockt und totgepflegt“ ihren Fall. Unter der Überschrift „Das Horror-Heim“ veröffentlicht er die Ergebnisse; aber weil der Verlag juristische Konsequenzen fürchtet, werden Heim und Personen nicht namentlich genannt. Richers ärgert das.


Durch Breitscheidel vermittelt, ruft daraufhin Monitor an. Ein Redakteur recherchiert und dreht mit seinem Team zwei Tage lang in ihrer Gegend. Am 28. September 2006 kommt dann der Beitrag „Schweigen und leiden – Alltag in deutschen Pflegeheimen“. Acht ARD-Minuten lang geht es um das Schicksal von Altenpflegerinnen, die Alarm geschlagen haben. In zwei Minuten wird die Geschichte von Petra Richers erzählt; das Haus Wendelstein wird zwar gezeigt, aber nicht genannt; nicht einmal das Bundesland wird erwähnt.


Auch kein Wort über den Kontrolleur im Landratsamt, kein Wort über ihren Ärger mit den Pflegekassen und ihr Hartz-IV-Problem. „Es ist ein Larifari-Beitrag“, schimpft Petra Richers, „total nichtssagend.“ Der Journalist hält zwar noch monatelang Kontakt, versucht zu helfen, wo er kann – doch ihre Unzufriedenheit bleibt.


Im November 2007 schreibt sie einen langen Brief an Sat.1, an die Redaktion des Magazins Akte 07, und schildert ihren Fall. Sie erhält keine Antwort.

3. Teil: Vor Gericht

„Ich fühle mich wie ein gehetztes Tier“, sagt Petra Richers zur Begrüßung an einem Nachmittag im Januar 2008, wir fahren in ihre kleine Wohnung. Eine halbe Beruhigungstablette hat sie schon genommen. Morgen ist Gerichtstermin in der Kreisstadt, wir werden früh raus müssen. Für sie kein Problem, sie schläft ohnehin seit Monaten miserabel.


Man könne keine großen Sprünge machen mit Hartz IV, erzählt Richers, zumal wenn man viel rauche. Sie greift zu einer Schachtel West. „Normalerweise stopfe ich, aber heute bin ich zu nervös dazu.“ Ihre Haare hat sie kupferrot gefärbt, weil sie ein Herbsttyp ist und warme Farben zu ihr passen. Auf den Tisch hat sie gelbe Tulpen gestellt, obwohl Silvester erst ein paar Tage her ist. Sie will, dass Frühling wird.
Die Staatsanwaltschaft habe sämtliche Verfahren gegen das Haus Wendelstein inzwischen eingestellt, erzählt Richers, mit der Begründung, die Bewohner müssten selbst aktiv werden. „Die können das aber gar nicht“, sagt sie, „die sind dement.“

Kleiner Gerichtssaal, kaum Zuschauer

Vor Gericht am nächsten Morgen geht es nicht darum, ob in dem Pflegeheim die Bewohner tatsächlich ausgepresst werden wie Zitronen. Es geht auch nicht darum, ob der Kontrolleur im Landratsamt beide Augen zudrückt und mit den Heimbetreibern gemeinsame Sache macht. Im wohnzimmergroßen Saal B 139 des Landgerichts Traunstein geht es darum, ob Petra Richers verbreiten darf, dass der Heimaufseher seine Kontrollen offenbar ankündigt und möglicherweise korrupt ist. Denn der hat auf Unterlassung geklagt.
Es gibt nicht viele Zuschauer. Die Presse ist in Gestalt einer freien Journalistin da, die noch nicht weiß, wer ihr den Artikel abnimmt. „Wenn Richers gewinnt, könnte das sogar in München gedruckt werden, in Bild oder im Merkur“, sagt sie. Vom Whistleblower-Netzwerk sitzt Antje Bultmann da, die Richers beraten und ihr einen guten Anwalt vermittelt hat.


Sie habe niemals behauptet, der Mann sei korrupt, sondern immer gesagt: „Aus der Akte geht hervor“. Das ist ihre Verteidigungsstrategie, aber sie geht nicht auf. Zeugen werden gehört, mit denen Petra Richers über das Thema gesprochen hat. Zunächst geht es noch um die Frage, ob Richers wirklich jedes Mal „aus der Akte geht hervor“ dazugesagt hat. Irgendwann wird das aber auch egal, denn in der Akte stehen ja auch bloß wiedergegebene Gerüchte.


Die letzte Zeugin macht Richers noch einmal Hoffnung: Es ist eine ihrer Vorgängerinnen im „Haus Wendelstein“. Sie sagt, dass das Florida-Gerücht in der Pflegebranche schon kursierte, lange bevor Richers nach Bayern kam. Auch sie hat Schlimmes in dem Heim erlebt, und als sie deshalb zur Heimaufsicht ging, wurde ihr gekündigt. Wegen „Anschwärzen beim Landratsamt“, wie die Betreiber damals begründeten.

„Wer schützt die Bewohner?“

Doch das spielt alles keine Rolle. Schließlich platzt Richers der Kragen, sie wird laut: „Aber wer schützt die Bewohner, die uns anvertraut sind? Wer schützt die Generation, die Deutschland für uns wieder aufgebaut hat? Darum geht es mir!“ „Darum geht es hier aber nicht“, entgegnet der Richter, und die junge Rechtsanwältin des Heimaufsehers legt nach: „Seit 2004 verbreiten Sie diese Gerüchte, und das ist verboten!“ „Sie müssen den Wahrheitsbeweis antreten“, ermahnt sie der Richter.

Richers hat keine Wahl: Sie unterschreibt eine Unterlassungserklärung. Verstößt sie dagegen, muss sie 250.000 Euro bezahlen oder ein halbes Jahr ins Gefängnis. Der Richter lächelt begütigend und gibt einen Tipp: „Am besten, Sie nehmen den Namen des Klägers einfach nicht mehr in den Mund.“

Bis heute hat Petra Richers keinen neuen Job gefunden; auf 200 Euro Gerichtskostensitzt die Hartz-IV-Empfängerin immer noch. Im Oberbayerischen Volksblatt erschien zwei Wochen nach der Verhandlung ein kurzer Gerichtsbericht der freien Journalistin, ohne Namen. Und im Pflegeheim hat sich offenbar bis heute nichts geändert.