Die Berichte des Handelsblatt, 14.10.2011

von Martin-Werner BUCHENAU, Jürgen FLAUGER

Zweifelhaftes Gutachten

Handelsblatt , 14.10.2011 

Es war - und ist - ein Deal gleich mehrerer Superlative: der Rückkauf der Anteile des französischen Energieriesen Electricité de France (EDF) am drittgrößten deutschen Versorger Energie Baden-Württemberg (EnBW). Es war, sieht man von der Bankenrettung einmal ab, die größte Verstaatlichung in der Bundesrepublik.

Gleichzeitig war der Wechsel des 45-prozentigen Anteils für knapp fünf Milliarden Euro das am dilettantischsten abgeschlossene Geschäft dieser Größenordnung, das je eine staatliche Organisation einfädelte. Es verstieß gegen Recht und Gesetz, es missachtete die Hoheit des Parlaments sowie verschiedene Rechts- und Haushaltsgrundsätze - von kaufmännisch ehrhaftem Verhalten einmal ganz abgesehen.

Vor allem aber ist das industriepolitische Bubenstück für den Steuerzahler ein geradezu ruinöser Deal: Über eine Milliarde haben die Bürger des Schwabenlands innerhalb zehn Monaten verloren. Wie viel es am Ende sein wird, vermag derzeit noch niemand zu sagen. Das EnBW-Management hat schon einmal eine weitere Kapitalspritze von 400 Millionen Euro beim Land angemahnt.

Der Landtagspräsident von Baden-Württemberg, Will Stächele, musste diese Woche zurücktreten, weil er als damaliger Finanzminister das Geld freigab - rechtswidrig, wie heute bekannt ist. Doch er wird nicht das letzte Opfer dieser Affäre sein, denn eingefädelt und zu verantworten haben den Deal andere: allen voran der ehemalige Ministerpräsident Stefan Mappus und sein Freund und Parteibuddy Dirk Notheis, Deutschlandchef von Morgan Stanley.

Mittlerweile hat der Staatsgerichtshof den Kauf der EnBW-Beteiligung als verfassungswidrig eingestuft, weil das Parlament bei dem Fünf-Milliardendeal außen vor blieb. In Stuttgart tritt damit die Aufarbeitung des desaströsen Geschäfts in eine neue Phase.

Noch ist vieles unklar, noch fehlen Details, noch ergibt sich ein lückenhaftes Bild. Doch schon heute deutet sich an, dass viele im Verlauf der Geschichte nicht die Wahrheit gesagt haben.

Bisher sah es selbst für Landespolitiker so aus, als ob der Deal unter extremem Zeitdruck verhandelt wurde. Sie gingen davon aus, dass dieser Prozess gut dokumentiert wurde, wie es bei einem Geschäft dieser Größenordnung üblich ist. Und sie vertrauten darauf, dass sich die damalige Regierung rechtlich in allen Detail abgesichert hat. Der Versuch einer Rekonstruktion hat diese Erwartungen nun enttäuscht.
Nach Recherchen des Handelsblattes war der Deal von viel längerer Hand vorbereitet, als bisher bekannt. Denn schon im Juli 2010 gab es erste Gespräche über das Thema, wie ein EDF-Manager versichert. Damals ist der neue EDF-Chef Henri Proglio zum Antrittsbesuch nach Karlsruhe und Stuttgart gereist.

Für die EDF war die EnBW die wichtigste Tochter - und es standen wichtige Entscheidungen an. Im Herbst 2011 wäre der Konsortialvertrag ausgelaufen, der die paritätische Führung zwischen den beiden Großaktionären regelt, also der EDF auf der einen und dem kommunalen Zweckverband Oberschwäbischer Elektrizitätswerke (OEW) auf der anderen Seite. EDF und OEW hielten beide 45 Prozent an der EnBW .

Proglio traf sich mit Managern und Betriebsräten der EnBW - aber auch mit Vertretern des anderen Großaktionärs OEW. Und er traf sich mit Mappus.

Der EDF-Chef habe angekündigt, so hat Mappus später behauptet, bei der EnBW die Führung übernehmen zu wollen. Sollte ihm das nicht gelingen oder verwehrt werden, wolle er seine Anteile abstoßen.

Das ist, wie gesagt, Mappus Version - und sie ist der zentrale Punkt in seiner Begründung und Verteidigung des Deals. Wenn Proglio nämlich verkauft hätte, so der damalige Regierungschef, dann hätte es sein können, dass sich ein ausländischer Investor für den Anteil interessiert hätte. Es fielen auch Namen von möglichen Interessenten - der russische Gaskonzern Gazprom wurde genannt, aber auch arabische Staatsfonds.

Ein hochrangiger EDF-Manager erinnert sich heute jedoch ganz anders. "Die Initiative ging eindeutig von Mappus aus, es gab einen sehr starken politischen Willen, alles musste sehr schnell gehen", sagte er dem Handelsblatt. "Wir wollten unsere Anteile behalten, die Partnerschaft mit der OEW fortsetzen. Aber der uns gebotene Preis war einfach zu attraktiv". Und der Druck der politischen Autoritäten sei groß gewesen.

Wer also sagt die Wahrheit?

Mappus ließ eine Anfrage des Handelsblatts unbeantwortet.
Der Zeitdruck, den Mappus immer als Begründung für die überhastete Abwicklung angeführt hat, bestand jedenfalls nicht. Und zwar aus mehreren Gründen: Der Konsortialvertrag wäre erst im Herbst 2011 ausgelaufen.

Die Kommunalaktionäre der OEW hätten über ihr Vorkaufsrecht den Einstieg eines Ausländers verhindern können.

Und der Einstieg eines ausländischen Investors mit mehr als 25 Prozent wäre nach dem Außenwirtschaftsgesetz zustimmungspflichtig gewesen. Die Bundesregierung hätte den Verkauf blockieren können.

Wer jedoch Zeitdruck hatte, war Mappus selbst: Im März wurde in Baden-Württemberg neu gewählt, seine Umfragewerte sanken. Und was wäre da besser gewesen, als den Macher zu geben, den industriepolitischen Kapitän, der nicht zulässt, dass ein Ausländer sich an einem schwäbischen Konzern vergreift: Mappus - der Retter der EnBW!

Noch ist unklar, wer die Idee zu dem verwegenen Geschäft hatte. Nur soviel weiß die heutige Regierung: Es wurde lange geheim gehalten. Nicht einmal dem Kabinett vertraute Mappus. Neben ihm und Notheis waren zunächst nur Staatsminister Helmut Rau (CDU) und die Rechtsanwaltskanzlei Gleiss Lutz eingebunden.

Ab wann wer genau informiert ist - das weiß die heutige Landesregierung nicht. Denn Mappus hat kaum Spuren hinterlassen.

Im Staatsministerium hat der neue Ministerpräsident, wie Regierungsvertreter sagen, nur den äußerst dünnen Kaufvertrag mit 50 Seiten, ein paar Seiten Beiwerk und ein sechsseitiges Rechtsgutachten von Gleiss Lutz gefunden.

Dieses Dokument liegt dem Handelsblatt vor. Es zeigt, dass die Vorgehensweise der damaligen Landesregierung juristisch auf äußerst wackeligen Beinen stand.

Pikant ist bereits das Datum des Papiers: Es stammt vom 15. Dezember. Bekannt gegeben wurde der Deal aber bereits am 6. Dezember. Das heißt: Das Gutachten wurde im Nachhinein erstellt.
Zudem ist die rechtliche Argumentation in dem Schriftstück äußerst fragwürdig. Denn laut dem Kaufvertrag gibt das Land eine Garantie dafür ab, dass eine landeseigene Gesellschaft, die Neckarpri GmbH, die als Käufer fungiert, den Kaufpreis leistet, beziehungsweise leisten kann. Für Garantien aber ist der Parlamentsvorbehalt zwingend vorgeschrieben. Also argumentieren die Anwälte zunächst, dass es sich hier nicht um eine solche Garantie handelt, sondern dass das Land die Kaufpreiszahlung als eigene Schuld übernimmt.

Doch auch unter dieser Voraussetzung wäre die Zustimmung des Parlamentes zwingend notwendig gewesen. Es sei denn, es liegt der "Fall eines unvorhergesehenen und unabweisbaren Bedürfnisses" vor. Dann nämlich könne eine Ermächtigung durch Zustimmung des Finanzministers - damals war das Willi Stächele - in Betracht kommen. Diese so genannte Notbewilligungsklausel ist eigentlich für Katastrophenfälle gedacht, damit die Regierung schnell handeln kann, wenn Gefahr im Verzug ist und "unvorhergesehene und unabweisbare" Dinge drohen - wie etwa Naturkatastrophen.

Mappus aber überzeugte Stächele mit anderen Argumenten. Die Beteiligung sei von übergeordnetem Interesse für das Land, sagte er. Der Deal könnte zudem platzen, wenn er vorher bekannt würde, weil dann der Börsenkurs nach oben ginge, und andere Interessenten auf den Plan treten könnten. Außerdem bestand die EDF laut Mappus darauf, dass es keinen Gremienvorbehalt gebe.

Und - wen wundert's - der Gremienvorbehalt war nicht nötig, jedenfalls nicht in dem Gutachten von Gleiss Lutz. Die Kanzlei argumentiert mit dem Pflichtangebot, dass beim Erwerb der Anteile von 45 Prozent an alle Aktionäre gemacht werden muss. Die Anwälte schreiben, dass sich das Angebot durch einen Parlamentsvorbehalt verteuert hätte.

Denn, so Gleiss Lutz: "Hätte man den Erwerb der EnBW-Aktien unter Parlamentsvorbehalt gestellt, so hätte der Stichtag für die Mindespreisberechnung (des Angebotskurses, die Red.) deutlich nach dem Bekanntwerden der Transaktion in der Öffentlichkeit gelegen". Und dann wäre der Aktienkurs - wie immer im Falle von Übernahmen, natürlich gestiegen.

Doch die Argumentation ist, so versichern hochrangige Investmentbanker und Anwälte dem Handelsblatt, "schlichtweg falsch". Denn das Land hätte ohne weiteres am Tag der Bekanntgabe des Deals ein freiwilliges Übernahmeangebot für die ausstehenden Aktien machen können - und somit den Preis des Angebots ohne Spekulationseffekte einloggen können.

Auch der Staatsgerichtshof, also das Verfassungsgericht in Baden-Württemberg, hat inzwischen eindeutig festgestellt, dass der Parlamentsvorbehalt zwingend gewesen wäre.

Gleiss Lutz dagegen versteht die Welt nicht mehr. Die Kanzlei kommt nicht zur Ruhe, vor allem die negative Berichterstattung über die gutachterliche Tätigkeit löst intern Unverständnis aus: "Das Gutachten ist völlig korrekt", heißt es im Umfeld der Kanzlei. Man dürfe eben einen Anwalt nicht mit dem Mandanten verwechseln. "Es hat Warnungen über mögliche Risiken gegeben, die seien aber auf taube Ohren gestoßen", hieß es.

Die Schwachstelle im Gutachten aber hätte vor allem einer der beteiligten Parteien auffallen müssen: der Investmentbank Morgan Stanley. Denn bei Gleiss Lutz hat das Gutachten Rupert Scholz ausgearbeitet, ein ehemaliger Verfassungsrichter, der unter Helmut Kohl auch kurz Verteidigungsminister war. Im Wertpapierübernahmegesetz ist Scholz möglicherweise nicht so firm - doch die Investmentbanker haben täglich mit dem Regelwerk zu tun.

Morgan Stanley kommentiert die Angelegenheit nicht, doch damit machen es sich die Herren des Geldes ein bisschen zu einfach. Zumal sie moralisch mehrfach gegen ihren eigenen Verhaltens-Kodex verstoßen (siehe nebenstehenden Artikel).

So sollen sich die Morgan Stanley Mitarbeiter in Zweifelsfällen immer fragen: "Könnte mein Handeln mir oder Morgan Stanley's Reputation schaden oder für mich oder Morgan Stanley peinlich sein? Für was für Schlagzeilen könnte mein Handeln führen?".

Das Geschäft beschäftigte die Zeitungen bundesweit - und wochenlang. Und natürlich beschäftigt es auch die neue Regierung.

Doch es geht nicht nur um freiwillige Selbstverpflichtungen. Denn bei dem Geschäft - das sagen Vertreter der heutigen Regierung - wurde keine sogenannte Due Diligence vorgenommen. Die alte Landesregierung hat vor dem Kauf also noch nicht einmal gründlich in die Bücher der EnBW geguckt. Auch darauf hätte Morgan Stanley als Berater unbedingt dringen müssen - oder den Deal unter den Vorbehalt einer späteren erfolgreichen Due Diligence stellen müssen, berichten andere Investmentbanker. Pikant ist auch, dass die Vergabe des Auftrages an Morgan Stanley und damit an Mappus Freund Notheis nicht ausgeschrieben wurde.

Zum ersten Punkt rechtfertigte sich Mappus im Dezember 2010: "Gehen Sie davon aus dass wir das Unternehmen genau angesehen haben. Wir haben nicht die Katze im Sack gekauft." Wann diese genaue Prüfung erfolgt sein soll - darüber hat die heutige Regierung keinerlei Erkenntnisse.
Zum zweiten Punkt führte Mappus an, dass im Vergaberecht Ausnahmefälle geregelt seien, unter die dieser Deal falle, weil er unter allen Umständen geheim bleiben müsse - sonst würden die Aktienmärkte reagieren und das Geschäft zumindest verteuern.

Doch Tatsache ist, dass es auch für den Fall von höchst geheimen Transaktionen Wettbewerbsverfahren gibt. So hat der Bund bei viel größeren Deals, wie beispielsweise dem Verkauf von Aktienpaketen der Post oder der Telekom stets einige Investmentbanken zu einem sogenannten Beauty-Contest eingeladen.

Die Regierenden fordern inzwischen Konsequenzen. Wichtigste Frage: Wer haftet eigentlich für die verlorenen Milliarden? Baden-Württembergs Wirtschafts- und Finanzminister Nils Schmid hat zwei mögliche Schuldige gefunden: "Wir holen Rechtsgutachten ein, ob wir gegen Morgan Stanley und Gleiss Lutz Schadensersatz geltend machen können", sagte er dem Handelsblatt.

Zu den möglichen Klagen sagen die Anwälte "Die Kanzlei Gleiss Lutz sieht keine Basis für Haftungsansprüche, die aus dem Urteil des Staatsgerichtshofs von Baden-Württemberg abgeleitet werden könnten."

Unverständnis herrscht bei der jetzigen Regierung nicht nur über die rechtlichen Fehler des Deals, sondern auch über die Schlampigkeit, mit der er dokumentiert wurde. "Bei dem Verkauf einer Gewerbeimmobilie in Gammertingen gibt es mehr Unterlagen als bei der Milliardenübernahme der EnBW-Anteile", sagte der heutige Finanz- und Wirtschaftsminister Schmid dem Handelsblatt.
Die Schlamperei erschwert den Regierenden ihr Ziel - die Schadensbegrenzung. Denn das Geschäft hielt nichts von dem, was Stefan Mappus einst versprochen hatte: "Unser Ziel ist, dass EnBW nach Daimler, Heidelcement und SAP der vierte Dax-Konzern im Land wird", tönte der Ministerpräsident. Das Land wolle die Beteiligung nur auf Zeit halten und strebe einen Börsengang an. "Das ist ein Stück moderne Industriepolitik", sagte er stolz.

Und dazu ein schwäbisches. Den Steuerzahler werde der Deal keinen Cent kosten, tönte Mappus bei der Bekanntgabe des Geschäfts. Die Zinskosten der Anleihen, mit denen das Geld geliehen werden sollte, kalkulierte er, würden unter den erwarteten Dividenden liegen. So die kühne Rechnung.

Der Stückpreis der Aktien von 41,50 Euro sei angemessen. Nach Mappus lag er, die zwischenzeitliche Inflation einberechnet, zehn Prozent unter dem Preis, den das Land beim Verkauf vor neun Jahren erhalten habe.

Angemessen aber war der Preis nur für Mappus. Die Landesbank Baden-Württemberg, eine Tochter des Landes, hatte ihr Kursziel für die EnBW-Aktie schon wenige Tage zuvor von 40,50 Euro auf 37 Euro gesenkt. Jetzt kostet sie noch 32 Euro.