Making-of: Wie die Millionenfalle ins Rollen kam

Eine nachträgliche Rekonstruktion des "GA-WCCB"- Teams"

Alltag in der Tageszeitung einer 300.000-Einwohner-Stadt: Das Rathaus sendet Pressemitteilungen, die Lokalredakteure fragen, schreiben und drucken. Das World Conference Center Bonn (WCCB) ist ein Riesen-, ein 139-Millionenprojekt in der ehemaligen Bundeshauptstadt. Der Investor SMI Hyundai Corporation scheint eine gute Wahl zu sein, und seine PR-Speerspitze Man-Ki KIM überzeugt bei jeder Gelegenheit. Er sprüht förmlich vor Innovation und Zukunftsorientiertheit, vor Bonn-Sympathie und Internationalität. KIM überzeugt parteiübergreifend, auch alle regionalen Medien. Anlässe, an Seriosität und Absicht des Investors zu zweifeln, mag es später geben – und wenn, dann spielen sie außerhalb einer für Journalisten zugänglichen Sphäre und einer mit doppelter Protokollführung.

Alles erfolgt zunächst nach Plan: Spatenstich im Herbst 2006, Erdarbeiten, drehende Baukräne. Das WCCB ist eine wuselige Baustelle, auf der etwas wächst: ein Weltkongresszentrum mit 352-Zimmerhotel.

Beim GENERAL-Anzeiger (GA) sind mehr als 60 Redakteure angestellt, und noch mehr freie Journalisten schreiben für das Blatt. Alle haben Außenkontakte mit verschiedensten Bonnerinnen und Bonnern aus unterschiedlichsten Branchen, und das WCCB involviert einige Bürger beruflich. Diese Bürger und Zeitungsleser scheinen inzwischen, im Sommer 2009, beruflich etwas zu erleben, was im krassen Widerspruch zu den WCCB-Medienberichten steht – etwas, was sie als Staatsbürger empört, als Steuerzahler entsetzt und als Angestellte in Loyalitätskonflikte stürzt. Lockeren, vagen Andeutungen folgen Anfang August 2009 konkrete, anonym an unterschiedlichste Ressorts versendete Dokumente oder getippte Situationsschilderungen. Ein Vorgehen, dass offenbar verhindern soll, dass Informationen in Schubladen oder Abfalleimern der Zeitung verschwinden.

So entsteht im GA Anfang August 2009 ein ressortübergreifendes, kleines Team. Es rekrutiert sich primär aus den Redaktionen Wirtschaft, Lokales und Journal/Wissenschaft. Phasenweise arbeiten auch Redakteure aus Politik und Feuilleton mit. Die hinsichtlich Know-how und journalistischen Präferenzen extrem heterogene Gruppe macht sich auf, das hinter den WCCB-Kulissen ablaufende Geschehen zu verstehen. Zu diesem Zeitpunkt ahnt das „GA-WCCB-Team“ noch nicht, in welche komplexe Welt die Recherchereise führen und wie sehr die in ihm versammelte, unterschiedlichste Kompetenz ihm dabei zum größten Vorteil gereichen und sein bester Kompass sein wird.

Der Aufbruch: mit einer schwachen Funzel durch ein dunkles Kellerlabyrinth. Wo ist der Ausgang? Wo Licht, plausible Zusammenhänge? So ähnlich ist das Redaktionsteam wochenlang unterwegs. Klar ist in den ersten Tagen nur: Bei Bau, Planung und Geldfragen des WCCB läuft vieles, wenn nicht alles schief.

Materialsichtung, Interpretation, die Motivationslage der Absender, sofern namentlich bekannt. Die WCCB-Informationen für die Redaktion stammen aus unterschiedlichsten Quellen, die manchmal offenbar, manchmal offensichtlich sehr nahe am WCCB-Projekt liegen. Bonner Bürger sprechen am Telefon und anonym häufig – sinngemäß – von einem „Verrat an Steuergeldern“. Sie haben mit ihrem Verhalten, einer Mischung aus Ungehorsam und teils anonymem, teils offenem Bürgerprotest, viel zu verlieren. Zum Beispiel ihren Job. Sie antworten mit so etwas wie Gegenverrat, indem sie geheime Informationen weiterreichen.

In dem Recherche-Team werden Regeln vereinbart:

  • Der Schutz der Informanten hat angesichts ihres Risikos oberste Priorität.
  • Entsteht ein regelmäßiger Kontakt von einem Informanten zu einem Mitglied der Recherche-Gruppe, der diesem namentlich bekannt ist, so wird der Informanten-Name der Gruppe nicht mitgeteilt.
  • Mails etc. von Informanten werden in der Gruppe anonymisiert.
  • Ähnlich wird mit unentbehrlichen, externen Experten verfahren, die einzelnen Mitgliedern des Teams helfen, Fachtermini in Dokumenten und Schriftstücken zu interpretieren.

Damit ist das Regelwerk der Zusammenarbeit, auch eines für ein Stück Bürgerdemokratie in einem besonders heiklen Fall, fertig. So mag die Wut als ein Feind der Besonnenheit erscheinen, aber – so kanalisiert – wird sie ein Freund der journalistischen Wahrheitssuche.

Dazu beginnt die eigene Recherche, das Aufspüren von kleinen und großen, vor allem plausiblen Zusammenhängen. Aber: Selbst was plausibel ist, muss nicht stimmen. Ein Riesenpuzzle liegt vor der ressortübergreifenden Arbeitsgruppe. Stammkapital, Nennkapital, Eigenkapital, Fremdkapital. Das sind nicht gerade alltägliche Begriffe in einer Tageszeitung und, wie sich später herausstellt, auch nicht in einer städtischen Verwaltung. Ist eine Nebenabrede eine Quasi-Bürgschaft? Können 60 Prozent Zinsen, verlangt außerhalb des Bankengeschäfts, sittenwidrig sein?

Drei von 1000 Unterfragen. Schließlich SMI: SMI Hyundai Corporation (Reston/USA), SMI Hyundai Management GmbH (Bonn), SMI Hyundai Europe GmbH (Berlin), dazu Hong Architekten Planungsgesellschaft mbH (Berlin) oder Hong Architekten Projektmanagement GmbH (Berlin). Die von der Redaktion eingeschalteten (ehrenamtlichen) Experten finden sogar eine Spur, die von Bonn zu SMI Capital PTY Ltd. in Chippendale (Australien) führt. Vermutlich eine unvollständige Auflistung aller WCCB-involvierten SMI-Filialen. Rein numerisch und geographisch spiegelt das SMI-Netzwerk tatsächlich einen Weltkonzern.

„Das Ganze ist die Summe seiner Teile“, wirbt die Homepage von HONG Architekten in eigener Sache. Aber wo sind die Zusammenhänge, die aus der Funzel des WCCB-GA-Teams einen Scheinwerfer machen?

Die Recherche sollte eigentlich in eine einzige große WCCB-Geschichte auf einer Doppelseite Ende August münden, doch dann erreicht am Freitag, den 21. August 2009 ein dickes Kuvert die Zeitung. Der Verteiler: ExpressDER SPIEGELDie WeltGENERAL-AnzeigerBonner RundschauKölner Stadt-AnzeigerBILD.

Als Absender ein Name: eine Person, die vor Jahren gestorben ist. Inhalt: Kopien von Dokumenten, E-Mails, Verträgen, Gesprächsnotizen. Im Kuvert steckt das Skelett eines Wesens, sozusagen die vierte Erkenntnisebene, während das Redaktionsteam noch am Phantombild dieses Wesens bastelt. Wochen später wird die Redaktion erkennen: alles Schlüsselpapiere, aber keine sich selbst erklärenden.

Eine Zeitungsredaktion erhält viel Post. Wichtiges, Unwichtiges, Überflüssiges. Aus Urlaubsgründen des Adressaten wird das erwähnte Kuvert erst abends gegen 18 Uhr geöffnet. Der darin bekannt gegebene Verteiler kann, muss aber nicht stimmen. Wenn er stimmt, haben die anderen Medien acht bis zehn Stunden Vorsprung. Zumindest für die Blattplanung am nächsten Tag. Da das WCCB-Team des GA aber bereits seit Wochen an dem Fall sitzt, entscheidet die Chefredaktion, das bisher Recherchierte am Samstag, den 22. August 2009 zu veröffentlichen. Kurzerhand wird um 20 Uhr die gesamte Zeitung umgebaut. Überschrift: Die Millionenfalle. Teil I steht nicht dahinter. An eine Serie denkt (noch) niemand.

Groß ist das Erstaunen am Erscheinungstag und den folgenden Tagen: keine Zeile zum WCCB von anderen Zeitungen. Offenbar konnte keine Redaktion mit dem „Kuvert des Toten“ etwas anfangen und war der GA-Recherche-Vorsprung beim Zusammensetzen des WCCB-Puzzle unerwartet groß.

Einige inhaltliche Tests an bestimmten Dokumentenstellen aus dem „Toten-Kuvert“ – im Vergleich zu den bisherigen Recherche-Ergebnissen – ergeben: Passt! Es ist unausgesprochen der Start einer Serie. Die Entschlüsselung möglicher Zusammenhänge und Hintergründe schreitet weiter fort. Es deutet sich an: Die Stadt Bonn könnte bereits in der vorentscheidenden Investor-Suchphase Opfer eines perfiden, generalstabsmäßigen und ausgeklügelten Plans geworden sein, ausgeheckt von einem koreanischen Netzwerk, in dem jeder hochspezialisiert seine Rolle spielte.

Fakten und Zusammenhänge sind wichtig, aber in diesem Fall gibt es noch etwas anderes. Man könnte es die „unsichtbare Materie“ nennen, die für vielerlei Überraschungen gut ist und entsteht, wenn sich Vertreter unterschiedlicher Kulturkreise in Kommunikation und Verhandlung versuchen. Einer aus dem WCCB-Team sagt eines Tages „Strategeme“, während andere ungläubig den Kopf schütteln. Der Redakteur meint, es sei auffällig, dass alle koreanischen WCCB-Akteure bisher in der Lage gewesen seien, ihre Gesprächspartner aus Politik, Wirtschaft und Medien für sich zu gewinnen. Selbst kritischste Situationen hätten Young-Ho HONG, Ha-Sung-Chung oder Man-Ki KIM mit einer Mischung aus Charme und Chuzpe gemeistert. Derjenige, dem das auffiel, recherchiert diesen Aspekt bei Asien-erfahrenen Wirtschaftsexperten und Diplomaten.

„Strategeme“ sind nicht mit Strategie zu verwechseln; sie sind übergeordnet und „bezeichnen eine schlaue, ausgefallene unkonventionelle Art der Problemlösung“, erklärt Strategem-Experte Professor Harro von SENGER. Strategeme, Strategie, Taktik – das sei die Hierarchie der Begriffe. Dieser Seitenarm der Recherche führt eines Tages zur Millionenfalle-Folge XI. Ein Wirtschaftsprüfer kommt zu Wort: „Etwas vormachen, aber etwas anderes machen.“ Ein ehemaliger Diplomat sagt: „Die Bonner hatten eine schwache Position, die ihnen aber selbst gar nicht bewusst war.“ Sie seien sicherlich mit guten Absichten gestartet, aber fachlich und psychologisch nicht ebenbürtig gewesen.

Der Einschub der Strategeme in die Serie entfacht ungeahnte Reaktionen. Die Stadt Bonn, bis heute mit Verteidigungsreflexen gegen die neue mediale WCCB-Offensive agierend, wirft der Zeitung „Diskriminierung“ des asiatischen Teils des internationalen Bonner Publikums vor. Sogar eine diplomatische Delegation aus Südkorea besucht Chefredaktion und WCCB-Recherchegruppe und kritisiert die Berichterstattung. In den vielen diplomatischen Zirkeln Bonns, die als Folge der vielen Bundeshauptstadt-Jahrzehnte bestehen, sieht man das indes völlig anders und empfindet gerade Teil XI als Teil des Rätsels Lösung.

Wenn eine Zeitung vor Ort einen Skandal aufdeckt, in den Kreise der Stadtspitze verstrickt sind, beginnt kein gemächlicher Sonntagsausflug. Alle involvierten Kreise aktivieren andere Kreise, um die Kreise des WCCB-Teams einzuengen oder zu manipulieren. In die andere Richtung unterstützen Verleger, Verlagsleitung und Chefredaktion des GENERAL-Anzeigers das WCCB-Team. Trotzdem beginnen im August 2009 für die Mitglieder des „GA-WCCB-Teams“ bewegte, nervenaufreibende und teilweise auch die Familien belastende Monate. Sie sind auch nach Folge XXXII im April 2010 noch nicht beendet.

In der Zwischenzeit gab es Razzien, Verhaftungen, Verhöre, Gegendarstellungsbegehren – die ganze Palette. Alle WCCB-involvierten GmbHs gehen insolvent. Es geht um Untreue, Betrug, Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr, Bestechung. Jeweils „im besonders schweren Fall“. Die monatelang ruhende Bonner WCCB-Baustelle ist eines der größten kommunalen Infrastrukturprojekte Deutschlands, dazu eine, die in der Eigentümerfrage auf Zypern und Hawaii spielt. Umso unverständlicher erscheint, dass die überregionalen Medien stark zeitverzögert, teilweise erst im Frühling 2010 in das WCCB-Thema einsteigen. Nun profitieren sie von der Vorarbeit der Zeitung vor Ort.

Mittlerweile hat das Thema sich in Teilkomplexe gegliedert: Wie viele Millionen wurden veruntreut? 10, 20, 30 oder mehr als 40? Gegen wen der Koreaner wird Anklage erhoben? Gegen wen aus der Stadtspitze? Und wozu wurde das veruntreute Geld verwendet? Gibt es auch Bonner Profiteure? Personen, Firmen, Parteien? Was muss beim global agierenden SMI-Hyundai-System noch aufgeklärt werden, um das Ganze besser zu verstehen? Auf der Skala der Ungeheuerlichkeiten scheint nach dem Indizienstand des „GA-WCCB-Teams“ im April 2010 das Ende noch nicht erreicht. Aus presserechtlichen Gründen kann dazu heute noch nichts angedeutet werden.

In jedem Fall endet das WCCB für Bonn und seine Bürger in einem Desaster, zudem in einer Phase ohnehin kollabierender Kommunalfinanzen: Das Projekt, von den Südkoreanern mit null Euro städtischer Belastung in Aussicht gestellt, wird nach GA-Informationen den Steuerzahler letztlich 150 bis 270 Millionen Euro kosten. Dabei sind laufende städtische Beratungskosten von 512 Euro pro Stunde bereits eingerechnet.

Bonn, im April 2010
Das "GA-WCCB-Team", bestehend aus
Lisa INHOFFEN
Rita KLEIN
Bettina KÖHL
Bernd LEYENDECKER
Florian LUDWIG
Wolfgang WIEDLCH