Interview mit Chefredakteurin Irina GREBNEVA

Wie alles anfing und wie es weiterging

Die Zeitung „Arsenjevskije Vesti“ aus Arsenjev ist die drittgrößte regionale Wochenzeitung der Region Primorje Russlands. Sie berichtet regelmäßig und unbeirrt über heikle Themen wie Korruption und Schmuggel. Die Zeitung erscheint wöchentlich in der Region Primorje. Auflagenhöhe: 12.000 bis 14.000 Exemplare.

Im Mai 2010 wurde dem Blatt ein Gerd-Bucerius-Förderpreis "Freie Presse Osteuropa" zuerkannt. Das Interview entstand kurz danach.

Erzählen Sie uns etwas über Ihre Redaktion. Wie hat alles angefangen und mit welchem Motiv?

Im Jahr 1991 in Arsenjev, in der Kleinstadt der Region Primorje, hat sich eine demokratische Bewegung gebildet. Tausende Menschen sammelten sich zu Kundgebungen. Im Jahr 1992 haben fünf Mitglieder dieser Bewegung eine städtische Zeitung gegründet und registrieren lassen. Aber sie wurde aus der städtischen Druckerei hinausgeworfen. So kam die Zeitung in die Hauptstadt der Region und wurde dort bald zur Ortszeitung. Da das Volk die Wahrheit wollte, ist es auf uns zugegangen. Und die "Macht" - im Namen der Rechtsschutzorgane - bedrängte uns ohne Ende mit Fragen: «Warum schreiben Sie das alles?» So kam es , dass die Zeitung zu einem bürgerrechtlichen und oppositionellen Blatt wurde.

Gab es eine öffentliche Aufmerksamkeit im Westen, bevor Sie den Bucerius-Förderpreis „Freie Presse Osteuropas“ bekommen haben?

Fast alle Journalisten, die wegen Informationen nach Primorje kamen, sind als Erstes vor allem zu uns gegangen. Trotzdem wurden wir erst nach der Unterstützung von George SOROS (US-amerikanischer Investor ungarischer Herkunft und Betreuer vieler Fonds) zur bedeutsamen Zeitung. Im Jahr 1999 haben wir eine finanzielle Beihilfe in Wert von 65.000 $ von ihm erhalten. Ein Teil der Geldsumme 50.000 $ haben wir für die Ausrüstung der Zeitung bekommen. Den anderen Teil 15.000 $ für die Organisation der Webseite und die Internetverbindung. Und jetzt - 10 Jahre später - haben wir den Bucerius-Förderpreis bekommen.

Wurden irgendwelche Artikel von der „Arsenjevskije Vesti“ in europäischen Zeitungen publiziert? Wenn ja, dann wo und zu welchem Anlass?

Nein. Mehrmals gaben wir Interviews für bekannte Zeitungen im Westen und in den USA. Unsere Journalistin Marina SAVADSKAYA hat z.B. an der Zusammenstellung eines Buches, eines Sammelbandes der UNO (Organisation der Vereinten Nationen) mitgeschrieben: „Die Ziele der Entwicklung des Jahrtausends: die Meinungen und die Erfahrung der russischen Regionen». Dort werden die Regionen von Primorje bis zum Kaliningrader Gebiet (Oblast Kaliningrad) vorgestellt. 
Außerdem wird das Abonnement unserer Zeitung seit 2002 in der Bibliothek des US-Kongresses archiviert.

Wurde in Ihrer Zeitung bezüglich der Preisverleihung berichtet?

Natürlich! Das Foto, auf dem alle Preisträger auf der Terrasse abgebildet sind, war auf der Titelseite. Dazu gab es eine große Reportage mit den Fotos der Preisverleihung auf der Doppelseite. Und jetzt steht in jeder Zeitungsausgabe über 
dem Titel die Aufschrift mit roten Buchstaben: „Preisträger Gerd Bucerius - Preis“.

Gab es in Russland Berichte in den Medien über die Preisverleihung?

Nein! Nur einige kurze Meldungen in den elektronischen Massenmedien.

Wie hat die Öffentlichkeit reagiert?

Unsere Freunde und Leser reagierten sehr stürmisch. Sie haben uns mit Torte und Blumen gratuliert. Die Initiative gegen die Korruption, an deren Gründung wir uns aktiv beteiligt hatten, hat sich zusammen mit uns gefreut und war sehr stolz auf uns.

Wie hat die Regierung von Primorje reagiert?

Es gab keinerlei Reaktion seitens von der Regierung. Die Erklärung der Medienaufsichtsbehörde "Roskomnadsor" über die Annullierung der Registrierung unserer Zeitung bei Gericht hat höchstwahrscheinlich nicht mit dem Preis zu tun.

Wurde es für Sie leichter oder schwerer Ihre Arbeit auszuüben nachdem Sie den Preis erhalten haben – wenn ja, was denken Sie, warum?

Dieser Preis gab uns mehr Sicherheit. Jetzt fühlen wir uns selbstbewusster. Deswegen ist es schwieriger geworden, uns einzuschüchtern. 
Es hilft uns natürlich auch bei der Arbeit, denn die Angriffe auf die Zeitung nehmen besonders in der Vorwahlzeit zu.

Denken Sie, dass der Preis für Sie eine Art Schutz vor dem Druck der Regierung darstellt? Oder hat der Preis vielleicht eher Nachteile bewirkt?

Die Regierung reagiert überhaupt nicht auf unseren Preis. Obwohl es eine neidische Stimme aus den ihr gegenüber 'loyalen' elektronischen Medien über die „feindliche“ Finanzierung aus dem Ausland gab. Aber diese Sachen interessieren uns nicht. Wir achten nicht darauf.

Wenn sich nach der Preisverleihung Ihre Probleme mit der Regierung erneuert oder verschlimmert haben, was denken Sie, warum?

Unsere Regierung hasst die Bürgerrechtsorganisationen und behindert auf jede nur denkbare Weise Finanzierungen aus dem Ausland. Aber bis jetzt hat sich bei uns niemand deswegen gemeldet.

Haben westliche Medien über Sie nach der Preisverleihung berichtet?

Das wissen wir nicht.

Wurden Sie von Journalisten von westlichen Verlagen interviewt?

In Zusammenhang mit dem Preis – nein. Nur in Hamburg hat mich eine Journalistin für dem lokalen Rundfunk interviewt. Leider habe ich das Interview nicht gehört.

Wurden Sie zu internationalen Konferenzen eingeladen?

Ich werde ständig eingeladen. Aber die Fahrtkosten sind zu teuer. Leider muss ich absagen.

Im Westen bekannt oder Aufmerksamkeit erlangt zu haben, bedeutet das zugleich in Ihrer Heimat einen gewissen Schutz?

Wahrscheinlich stört solche Bekanntheit nicht. Bis jetzt wurden wir im Westen nur in den extremen Momenten bekannt. Zum Beispiel im Jahr 2000, als ich für fünf Tage verhaftet wurde. Dagegen habe ich mit einem Hungerstreik protestiert. 
Oder als wir im Jahr 2009 die russische Regierung vor dem Europäischen Gerichtshof besiegt haben (siehe ROMANENKO et al versus Russia).

Ehrlich gesagt leben wir mit dem Westen wie in verschiedenen Welten. Deswegen war der Bucerius-Förderpreis für uns auch eine große Überraschung.

Wenn Sie Präsident der Russischen Föderation wären und die Möglichkeit hätten, die Arbeitsbedingungen der Medien zu ändern, was würden Sie als erstes tun?

Vor allem würde ich die Finanzierung der Massenmedien aus dem staatlichen Budget untersagen. Wir können nicht mit solchen Medien konkurrieren. Zweitens den Monopolismus zu bändigen. Er schränkt die kleineren und mittleren Unternehmen ein, die unsere Werbung finanzieren könnte. Drittens: schneller der Welthandelsorganisation (WTO) beizutreten. Dies würde uns ermöglichen, die Rentabilität dank der Werbung aus dem Ausland, zu erhöhen. 
Alles ist eine Geldfrage: Gibt es kein Geld, dann gibt es auch keinen qualitativen Journalismus. 

Es gibt schon einige Verbesserungen in unserem Land, was die Durchsichtigkeit der Arbeit der Regierung angeht. Aber das sind alles nur Worte und ist der Arbeit der Oppositionsmedien geschuldet. Die Regierung erzählt nicht gerne Details über ihre Arbeit. Zu Pressekonferenzen werden wir gar nicht eingeladen, weil unsere Zeitung ungeeignete Fragen stellt. Und vielen Beamten ist es sogar verboten, Kontakt zu unserer Zeitung zu haben. Aber der Mangel an Informationen seitens der Regierung wird durch Informationen ergänzt, die wir von den Lesern bekommen. Die Leser geben uns, was die "Macht" verschweigen möchte. Sogar bei Dokumenten. 

Was die Meinungsfreiheit betrifft, hier beschränken wir uns nicht und wir werden uns nicht beschränken, wie es unsere Staatsmacht will. Aber dieses Recht haben wir nur dadurch erkämpft, indem wir zahlreichen Verfolgungen standgehalten haben. Anderen Zeitungen ist es nicht erlaubt, zu schreiben, was unsere Regierung durch uns 'ertragen' muss. Deshalb ist es erforderlich, einen besonderen Schutzstatus für Massenmedien und Journalisten einzuführen. Ein Beamter, der die Meinungsfreiheit angriff, muss sofort seinen Posten aufgeben. Und allen Beamten sollte verboten werden, Prozesse gegen die Medien zu führen. Die Rechtsschutzorgane müssen verpflichtet sein, beim Angriff auf einen Journalisten den Killer sowie den Auftraggeber zu ermitteln. Die dafür verantwortlichen Personen sollten, wenn das nicht funktioniert, ihren Job aufgeben müssen.

Die Zeitung erscheint wöchentlich. Die Auflagenzahl liegt zwischen 12.000 und 14.000 Exemplaren. Sie wird hinsichtlich der Menge nach den Vorbestellungen der Vertreiber gedruckt und nur in der Region Primorje vertrieben. Ab der zweiten Jahreshälfte 2011 hoffen wir, dass unser Zeitungsabonnement in den allgemeinen russischen Katalog aufgenommen wird, der sich auf ganz Russland bezieht und in dem man tausende Druckmedien bestellen kann. 

Unsere Website wird jedoch aktiv in anderen Regionen besucht, besonders in Moskau. Die russischsprachige Bevölkerung im Ausland liest auch aktiv online unsere Zeitung und nimmt an der Besprechung der Artikel teil.

Uns würde auch interessieren, wie das mediale Umfeld aussieht, in dem Sie arbeiten und existieren müssen.

In unserer Region sind die wichtigen Konkurrenten für uns: die Zeitungen „Wladiwostok“, „Dalnewostotschie Wedomosti“ und „Solotoj Rog“ („Das Goldene Horn“).

  • Die Zeitung „Wladiwostok“ verlor an Bedeutung, nachdem sie der Bürgermeister von Wladiwostok gekauft hat.
  • Die Zeitung „Dalnewostotschie Wedomosti“ ist sicher auf dem Markt positioniert. Sie haben viele Materialien von Moskauer Journalisten. Auch ihre Journalisten schreiben sehr gut. Im Vergleich zu unseren Journalisten verdienen sie viel mehr Geld, weil sie reiche Sponsoren-Gründer haben. Bei ihnen kommen „verbotene“ Themen vor, aber ziemlich selten. Jedoch haben sie dank der gut funktionierenden Zustellung in der Region eine höhere Auflage als wir. In Wladiwostok aber haben wir eine höhere Auflage.
  • Die Zeitung „Solotoj Rog“ schreibt oft ziemlich gute Artikel zu wirtschaftlichen Themen der Region. Ihre Journalisten werden auch besser bezahlt als unsere. Aber die Zeitung ist viel zu loyal gegenüber der "Macht". Ihre Auflagenzahl liegt offiziell bei 10.000 Exemplaren. Aber in der Realität haben sie weniger Auflage.

Viele Zeitungen werden umsonst (kostenlos) verteilt. Es gibt noch ein paar „mutige“ Zeitungen „Dlja naroda“ („Für das Volk“) und „Narodnoe wetsche“. Der Seitenumfang und die Auflagenzahl dieser Zeitungen sind nicht so groß im Vergleich zu „Arsenjevskije Vesti“.

Was müsste/sollte man Ihrer Meinung nach tun, um das Interesse an den Themen Ihrer Zeitung in Russland und Europa zu steigern? Was wäre für die Redaktion nützlich?

Natürlich haben wir Interesse an der Zusammenarbeit mit westlichen Organisationen, die auf gemeinsame Interessen basiert. Zum Beispiel, wir könnten die Publikationen über die wirtschaftliche Situation in unseren Ländern miteinander austauschen, über die Vorteile und Nachteile der WTO (World Trade Organization) oder über die Probleme der Jugend usw. Es gibt so viele Themen, über die wir austauschen könnten.

Wir haben unter anderem auch ein kommerzielles Interesse. Zum Beispiel könnte jemand von Ihnen als 'Vertreter' für Werbung agieren. 
Wir freuen uns auch auf Freiwillige (Volontäre), die unsere Zeitung unterstützen würden. Vielleicht finden wir unter Ihnen einen Enthusiasten, der einige unserer Zeitungsartikel ins Englische übersetzen würde. Wir träumen von der englischen Version unserer Zeitung.

Berichten Sie uns über die Geschichte, in der es um den Gouverneur der Region Primorje geht: Sergej DARKIN. Wie hat diese Geschichte geendet? Sie haben einen Brief an den Präsidenten der Russischen Föderation, MEDWEDEW, geschrieben? 

Ja, wir schrieben. Aber in unserem Land, wo die Massenkorruption das höchste denkbare Niveau erreicht hat, wo die Gouverneure einer Region nicht gewählt, sondern ernannt werden. Das Ende dieser Geschichte war, dass Gouverneur DARKIN zum dritten Male in seinem Amt bestätigt wurde. 

Aber es ist noch lange nicht aller Tage Abend. Beispiel: der Fall Ernest BACHSCHEZJAN - der ehemalige Chef der Fernöstlichen Gebietsverwaltung des Föderalen Zolldienstes (ФТС). Zollchef BACHSCHEZJAN wurde am 22. Juni 2009 vom Frunsenski Gericht Wladiwostoks zu fünf Jahren in einer Strafkolonie verurteilt - er soll an Schmuggelaktionen beteiligt gewesen sein. Umgekehrt beschuldigte er die Machtstrukturen: Man wolle ihn nur loswerden, weil der Schmuggelaktionen aufgedeckt habe, an der die "Macht" beteiligt war. Jetzt klagt er vor dem Europäischen Menschengerichtshof in Strassburg.

Erzählen Sie bitte etwas über sich selbst. Wo sind Sie geboren? Was haben Sie studiert?

Ich bin am 06. Dezember 1943 in der Stadt Oktjabrsk in der Oblast Kujbyschewskaja (Region Powolschje) geboren, bin also "uralt". Ich habe keine journalistische Ausbildung. 1970 habe ich im Luftfahrtinstitut in Kuibyschew als Technologie-Ingenieur im Bereich Fluggerätebau abgeschlossen.

Haben Sie irgendwelche Journalistenschulen/Kurse besucht?

Ich habe alle Seminare besucht, die vom Institut der Presse organisiert worden sind. Zu diesen Seminaren wurden die besten Lehrer Russlands und aus dem Ausland eingeladen. Im Jahr 2006 bin ich mit anderen Leitern (Chefredakteuren) der Massenmedien für drei Wochen in die USA nach dem Programm USAD (The United States Academic Decathlon) gefahren.

Wieso haben Sie sich entschieden diesen Berufsweg zu gehen?

Die Wochen-Illustrierte „Ogonjok“ (deutsch „Feuerchen“) war besonders beliebt in der Gorbatschow-Zeit so, dass ich mich in die Journalistik verliebt habe. Zu Zeiten der sowjetischen "Macht" habe ich keine Zeitungen gelesen, sondern nur Bücher.

Welche Themen interessieren Sie am meisten? Worüber schreiben Sie gerne? 

Am meisten interessieren mich scharfe journalistische Untersuchungen: investigativer Journalismus. Mir gefällt auch, über die "Macht" zu schreiben, wenn sie mit ihren 'Taten' dazu Anlass geben. Besonders der Fall NAZDRATENKO (Ex-Gouverneur der Region Primorje) erheiterte nicht nur die Region Primorje, sondern die ganze Welt. Aber ich schreibe selten, da ich zu viel administrative Arbeit erledigen muss.

Würden Sie jemandem empfehlen Journalist zu werden?

Ich denke nicht, dass man das "empfehlen" soll. Journalist kann derjenige werden, der furchtbar gern schreiben mag und selbst danach strebt. 


(OW)