Das Jahr 2009 fängt für die Nowaja Gazeta mit einer Tragödie an. Der Menschenrechtsanwalt Stanislav MARKELOW (34), und die Journalistik-Studentin und Mitarbeiterin der Nowaja Gazeta, Anastasija BABUROWA (25) werden im Zentrum von Moskau erschossen. MARKELOV übernahm (nach Aussage von Dmitrij MURATOW) für die Nowaja Gazeta alle juristischen Fälle. BABUROVA: „Das ist ein junges Mädchen, die bei uns seit gar nicht so langer Zeit als Freie arbeitet. Sie hat einiges zum Thema Neonazismus geschrieben“ – sagt der stellvertretende Chefredakteur der Nowaja Gazeta, Sergej SOKOLOW.
Die beiden waren auf dem Rückweg von einer Pressekonferenz, die MARKELOW gegeben hat. In der Nähe der Moskauer U-Bahn-Station „Kropotkinskaja“ schießt ein maskierte Mann dem Anwalt mit einer schalgedämpften Pistole in den Kopf. BABUROVA, die versucht den Täter zu stoppen, wird mit einem Kopfschuss verwundet, wonach sie auf die Intensivstation kommen wird, wo Ärzte vergeblich um ihr Leben kämpfen werden. Der Täter läuft zur U-Bahn und verschwindet unter der Erde.
Auf der Pressekonferenz sprach sich der Rechtsanwalt mehrfach gegen die frühzeitige Haftentlassung von Jurij BUDANOW aus, unter anderem auch, dass er sich deswegen an den Internationalen Gerichtshof wenden werde.
Jurij BUDANOW – ein ehemaliger Kommandeur des 160-ten Panzer-Regiments (stationiert in Tschetschenien) – wurde im März 2000 beschuldigt, ein achtzehnjähriges tschetschenisches Mädchen, Elsa KUNGAEWA, entführt, vergewaltigt und ermordet zu haben (siehe auch "In Putins Russland", von Anna POLTKOWSKAJA, Köln 2005). MARKELOW vertrat in diesem Fall die KUNGAEWs.
Der Fall löste in Russland und in Tschetschenien eine breite öffentlich Resonanz aus. Zum Hintergrund des Falls: Am 31. Dezember 2002 befand das Militärgericht, dass BUDANOW zur Tatzeit unzurechnungsfähig war und sprach ihn von der strafrechtlichen Verantwortung frei, ordnete ihm jedoch psychologische Zwangsbehandlung an. Am 28. Februar 2003 hat das Oberste Gericht dieses Urteil aufgehoben und den Fall an das Bezirks-Militärgericht von Nord-Kaukasus übertragen. Dieses befand BUDANOW für schuldig und verurteilte ihn zu 10 Jahren Haft.
Abgesehen von seiner Freiheit verlor BUDANOW dabei auch seinen Militärdienstgrad (Oberst) und die staatlich verliehenen Orden. Während der Haftzeit hat BUDANOW viermal vergeblich einen Antrag auf vorzeitige Entlassung gestellt und sogar zweimal den Antrag auf Begnadigung, den er jedoch in beiden Fällen selber zurückzog. Am 24. Dezember 2008 wurde BUDANOWs fünfter Antrag auf vorzeitige Haftentlassung anerkannt, wogegen MARKELOW, als Rechtsvertreter der Familie KUNGAEV, eine Beschwerde einreichte.
Nach 8,5 Jahre Haftzeit wurde der ehemalige Oberst – am 15. Januar 2009, vier Tage vor dem Doppelmord – dann doch freigelassen. Visa KUNGAEW, der Vater der ermordeten Elsa KUNGAEWA: „Am Freitag hat mich MARKELOW angerufen. Er hat mir gleich am Anfang des Gesprächs mitgeteilt, dass an ihn Drohungen ausgesprochen wurden, dabei drohte man ihn umzubringen, wenn er nicht aufhört, sich mit dem Fall der Familie KUNGAEW zu beschäftigen.“
MARKELOW machte sich jedoch nicht nur mit dem Fall BUDANOW Feinde. Unter anderem vertrat er auch Michail BEKETOV, den Chefredakteur der Zeitung himkinskaja pravda, („Wahrheit von Himki“ – Himki ist ein Vorort von Moskau). Der Lokaljournalist wurde im November 2008 brutal zusammengeschlagen, erlitt dabei mehrere Knochenbrüche (auch des Schädels) und lag danach !1,5 TAGE LANG! hilflos vor seinem Haus – in Folge dessen mussten ihm das rechte Bein und einige Finger an der linken Hand amputiert werden – aber er hat überlebt.
Vor dem Angriff kritisierte der ehemalige Fallschirmjäger BEKETOW in seiner Zeitung angstfrei die Machenschaften der örtlichen Stadtsverwaltung. Z.B., dass diese einen Kredit bei der Bank „Vozrozhdenie“ (zu deutsch „Wiedergeburt“) aufnahm, um die Budgetlöcher zu stopfen, wobei eine Ausschreibung zur Feststellung bestmöglicher Kreditbedingungen nicht durchgeführt wurde.
Vor allem setzte sich BEKETOW leidenschaftlich gegen das Vorhaben der Himki-Politiker ein – 1000 Hektar des örtlichen Waldes (eine der letzten Grünflächen der in der ökologisch benachteiligten Umgebung) zu roden, um eine Maut-Autobahn von Moskau nach St. Petersburg zu bauen, mit der dazugehörigen Infrastruktur, (bei den Grundstückspreisen im Moskauer Umland – ein Milliarden-Projekt).
In seiner Zeitung schrieb BEKETOW auch, dass er bedroht werde. Tatsächlich – als der Journalist, vor eineinhalb Jahren, den Rücktritt der Himki-Regierung samt dem Oberhaupt Vladimir STRELTSCHENKO (Bürgermeister von Himki) in einer der Zeitungsausgaben forderte, wurde sein Auto mit einem Sprengsatz zerstört.
Im Sommer 2008 erschlugen gutgekleidete Unbekannte, demonstrativ vor den Augen der Nachbarn seinen Welpen. Eineinhalb Wochen vor dem Angriff – wie die Novaja Gazeta berichtet – bekam BEKETOW einen Anruf von einem einheimischen Verbrecher, der ihn warnte: „Du wurdest in Auftrag gegeben“.
Als, nach dem Angriff, die Ermittlungen in dem Fall die örtliche Miliz übernahm, sprach Elena KOSTÜTSCHENKO, Spezial-Korrespondentin der Nowaja Gaseta (sie ist z.B. in dem Film von Britta Hilpert "Diese Lust sich zu verbeugen – Pressefreiheit in Russland" zu sehen) mit dem stellvertretenden Leiter der Ermittlungsgruppe Igor TOKARENKO. Dieser bezeichnete BEKETOWs Konflikt mit der Stadtverwaltung als „unbestätigte Gerüchte“. Außerdem sagte er: „Sie denken doch nicht, hoffe ich, dass unsere Administration ihn in Auftrag gegeben hat? Das ist doch absurd! ... Wenn es wegen seiner professionellen Tätigkeit geschah, dann taten das STRELTSCHENKOs Feinde. Die Opposition. Mit diesem Mord (schon beerdigt? – Kommentar von Elena KOSTÜTSCHENKO) beabsichtigten sie den Verwaltungschef zu diskreditieren, damit er im nächsten Jahr nicht gewählt wird. Wer jetzt am lautesten schreit, ist der Auftraggeber. Das ist meine Sicht der Dinge.“ MARKELOW vertrat bereits BEKETOWs Interessen, als dieser, noch vor der Attacke, von STRELTSCHENKO verklagt wurde.
Ob der Fall BEKETOW in direkter Verbindung zu dem Fall MARKELOW steht, darüber lässt sich derzeit nur spekulieren – was einige Menschen einen Tag nach dem Doppelmord, bei einer Volksversammlung auf Moskauer Straßen, auch tun werden. Die Versionen unterscheiden sich – die Einen werden sagen, es hat mit BUDANOW zutun, die Anderen, mit BEKETOW. Einer der Menschenrechtsvertreter, der mit MARKELOW lange Zeit zusammenarbeitete, wird vermuten, dass Ramsan KADYROW in dem Mord verwickelt sei: „Stanislaw hatte einige Fälle, die sich mit den Interessen des Präsidenten der Tschetschenischen Republik kreuzen“ .
Es wird viele Meinung geben, denn MARKELOW hatte viele resonanzträchtige Fälle behandelt und kreuzte somit auch die Interessen von unterschiedlichen Menschen, unter anderem auch die von den Repräsentanten der mittlerweile in Russland weitverbreiteten neonazistischen Bewegung – MARKELOW und BABUROWA waren beide ihre Gegner.