Anna POLITKOWSKAJA in der Nowaja Gaseta, 07.04.2005

von Anna POLITKOWSKAJA

Das Ausland / der Westen wird uns zuwinken

Nach Aussage des vorübergehend stellvertretenden Militärstaatsanwalts vom nordkaukasischen Militär-Bezirk, des Oberst der Justiz S. DOLZHENKO: „die Operation einer s. g. 'Säuberung' in der neuen Siedlung Aldy am 5. Februar 2000... führten die Mitarbeiter der OMON (Spezialeinheit, russ. Отряд Милиции Особого Назначения / Otrjad Milizii Osobowo Nasnatschenija – „Einheit der Miliz besonderer Bestimmung“) der Hauptabteilung für Innere Angelegenheiten der Stadt St. Petersburg und des Rjasaner Bezirks durch“. Nach Aussagen der Augenzeugen waren Soldaten des 245-ten Regiments des Verteidigungsministeriums ebenfalls daran beteiligt.

Das Massaker von Novye Aldy – die schrecklichste Seite des zweiten Tschetschenien-Krieges

Am 5. Februar geschah in Novye Aldy ein Massenmord. Von hauptsächlich alten Menschen, die geblieben waren um ihre Häuser zu bewachen. Die Mehrheit von ihnen dachte, dass sie nichts zu befürchten haben. Dennoch haben die Soldaten des Verteidigungsministeriums und des Innenministeriums eine Schlacht in der Siedlung veranstaltet. Nach den einen Angaben, sind dabei 55 Menschen gestorben – nach den anderen 42. Und das in wenigen Stunden.

Die Menschen in Tschetschenien nennen die NA-Tragödie manchmal „Eine Hinrichtung im Namen der ersten PUTIN-Wahlen“. Es geschah zu Zeiten seiner ersten Wahlkompanie, als überall die Karte der „Anti-Terror-Operation“ ohne Angst und Tadel ausgespielt wurde, und die Staatsanwaltschaft alles dafür tat, damit es „keine Horror/Entsetzlichkeiten gibt“, das heißt: nicht ermitteln, vertuschen, Beweise vernichten. Einen besonderen Beitrag zur Ausführung des politischen Auftrags - zur Nicht-Aufdeckung dieses Strafverfahrens – hat Herr TSCHERNOV beigetragen, der viele Jahre als Staatsanwalt von Tschetschenien arbeitetete.

Die Familien der Hingerichteten wollen dennoch wissen, wer konkret schuldig ist. Mit den Jahren erlischt dieser Wunsch auch nicht. Im Februar sind bereits fünf Jahre seit der Tragödie vergangen. Zum vierjährigen Jubiläum hat unsere Zeitung im Detail berichtet, was damals passiert ist. Darauf haben die Bevollmächtigten für Menschenrechte und Ella PONFILOVA, die zu dem Präsidenten gehört, reagiert. Im Ergebnis kamen in die Siedlung viele Menschen von der Staatsanwaltschaft (SA), unterschiedlicher Ebenen (SA von Tschetschenien, SA des südlichen föderalen Bezirks, General-SA) und sie haben scheinbar erneut die Untersuchungen aufgegriffen. Die Bewohner von Novye Aldy – Familienangehörige der Verstorbenen und wie durch ein Wunder überlebende Zeugen – waren begeistert darüber und bekamen wieder Hoffnung. Dass es endlich mit dem Fall vorwärts geht. Dass man die Schuldigen auf Grund der vielen Indizien und Beweise findet, die die Menschen immer noch aufbewahren, in der Hoffnung, dass irgendjemand daran Interesse zeigt. Dass die Familienangehörigen der Hingerichteten als Opfer anerkannt werden und das man es schafft, den Fall bis vor das Gericht zu bringen.

Aber auch dieses Mal hat sich der Simpf unserer Strafverfolgung schnell wieder zugezogen. Im Endeffekt beschlossen die sehr geduldigen Aldyner (NA-Einwohner) alle Unterlagen zu sammeln und diese nach Straßburg zu schicken. Es gab schon mal so einen Versuch – vor etwa drei-vier Jahren. Die Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation „Memorial“ sammelten von den Familienangehörigen der Verstorbenen Vollmachten um das Recht zu besitzen, die Fälle vor das Europäische Gericht zu bringen.

Aus unerklärlichen Gründen sind jedoch nur zwei dieser Fälle bis Straßburg gekommen: „MAGOMADOV gegen Russische Föderation“ (Nr. 58699/00) und „LABOZANOBA gegen Russische Föderation“ (Nr. 60403/00). Sie haben schon die Kommunikation in Straßburg abgeschlossen (das heißt, sie wurden angenommen). Im Endeffekt haben die NA-Einwohner den Prozess der Unterlagenübermittlung in ihre eigene Hände genommen, indem sie zwei von sich als Vertreter nach Moskau schickten. Die Anwältin Lejla HAMZAEVA hat ihnen bei der Erstellung der Papiere geholfen und am 1. April ist die Portion - bestehend aus 31 Fällen, deren Inhalt derselbe ist, lediglich die Namen und die Hausnummer, wo die Morde stattfanden, unterscheiden sich – nach Europa gegangen.

Wie wird es weitergehen für die leidgeprüften Aldyner? Was wird Straßburg antworten? Und was kann Straßburg überhaupt im Kampf mit dem Kreml tun? Das ist keine leere Frage, sonder eine konkrete. Ja, Straßburg ähnelt heutzutage zunehmend mehr der SA der Russischen Föderation. Sie SA wird mit Post aus Russland zugeschüttet. Es fehlt an Personal, um mit diesen Mengen fertig zu werden. Das weiß jeder, der sich dafür interessiert.

Es gibt zwei Resultate. Das Erste: Europa ist nicht in der Lage das rechtslose Russland zu verdauen. Es hat nicht die nötigen Ressourcen. Im Ergebnis stellt Straßburg eine Schallplatte für Läufer dar, die auf sehr langer Distanz laufen und bis zum Ende überleben. Denn wenn nach fünf Jahren von dort eine Forderung die Russische Föderation erreicht, eine unvoreingenommene Untersuchung durchzuführen und den Familien der Hingerichteten eine Kompensation für zehn Jahre des Wartens auszuzahlen, wäre das sehr gut. Sehr gut. Aber dann werden wir auch eine andere Regierung haben. Und einen anderen Präsidenten, der sich für seinen Vorgänger nicht verantworten muss. Und die Spur der föderalen Mörder wird wahrscheinlich aufgrund der langen Zeitdauer endgültig kalt sein. Und unter den Opfern wird es natürlich Verluste geben.
Es ist kein Pessimismus, kein Versuch jemandem davon abzuraten seinen Fall an Straßburg zu überreichen – auf keinen Fall, man es dorthin reichen. Jedoch sieht so die Realität aus.

Es gibt ein zweites Resultat der Straßburger Prozeduren. Als man uns den Weg dorthin freigab, dachten viele: die schreckliche Situation, in der sich die Menschenrechte in unserem Land befinden, wird sich von selbst zum Besten regeln. Die Obrigkeit Angst würde vor dem auf sie stürzenden Rückfluss an Gerichtsurteilen aus Europa und den Geldern bekommen, die sie an die Bürger zahlen müsste, die der der Staat nicht zu beschützen in der Lage ist.

Aber das Geld ist ja nicht ihres, sondern unseres – aus dem Budget. Die Obrigkeit zahlt. Die Summen sind mittlerweile riesengroß, aber die Obrigkeit erzieht sich noch immer nicht um. Da spuckt sie drauf – das Geld ist nicht ihres. Kein persönlicher Geldbeutel von irgendeinem Staatsanwalt oder Ermittlungsbeamten ist für ihre schlampige Arbeit, die die Menschen dazu gezwungen hat sich an Straßburg zu wenden, zu Schaden gekommen. Alles wurde von den Steuergeldern gedeckt.

Wie sich herausstellte, hat der Kreml auch vor einem schlechten Image keine Angst. So hat sich Straßburg vor unseren Augen in ein Kissen der Tränen aller Gedemütigten und Verletzten aus Russland verwandelt, mehr nicht. Die Obrigkeit hingegen guckt desinteressiert von oben herab: ja, heult doch, dann zahlen wir eben... Mehr nicht. Es ist offensichtlich, dass der Kreml auf die erzieherische Maßnahmen Straßburgs nicht einlässt. Im Gegenteil: er steigert seinen Angriff auf unsere Rechte von allen gerichtlichen Richtungen.

Also, was tun? An wen oder was soll der russische Mensch appellieren, wenn nicht an Straßburg?

An sich. An sich selbst. Genug der Hoffnungen, die man in Europa setzt. Solange wir selbst nichts an der Situation unseres Strafverfolgungssystems ändern, wird sich keiner für uns einsetzen. Die Straßburger Praxis hat es bereits bewiesen. Sie sind gut, jedoch ist es nicht ihr Problem. Es ist an der Zeit die eigenen hohen menschlichen Qualitäten zu demonstrieren.

Anna POLITKOVSKAJA in der Novaja Gaseta am 07.04.2005

Den Originalartikel finden Sie dort unter ЗАГРАНИЦА НАМ ПОМАШЕТ

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