Die 4 Berichte der Süddeutschen Zeitung aus 2002, 12.03.2002

von Tomas AVENARIUS

Im Würgegriff der wilden Hunde

Tschiri-Jurt , im März–Das Letzte, an das Magomed Umarow sich erinnern kann, sind der langsam über das Auto gleitende Schatten und das Knattern der Rotoren. Die Soldaten, die aus dem Hubschrauber springen und aus Maschinenpistolen das Feuer auf das Taxi eröffnen, das Schreien der Menschen, die eigene Angst–all das verschwimmt in Umarows Kopf zu einem Nebel, aus dem Schüsse, Schläge, Tritte und ein brennender Schmerz im Oberschenkel dringen. Was geschah, weiß Umarow nur aus den Erzählungen seiner Verwandten: der 26-jährige Tschetschene lag vier Tage im Koma, kann erst seit wenigen Tagen wieder sprechen. Mit einem Schlauch in der Nase und einer Infusion am Arm liegt Umarow in einem Bett im 9. Stadtkrankenhaus von Grosny: Die rechte Leiste und das Bein von Kugeln getroffen, die Hüfte zersplittert, der Schwerverletzte von den russischen Soldaten auch noch geprügelt und mit Stiefeln zusammengetreten. „Normalerweise überlebt so etwas keiner”, sagt einer von Umarows Ärzten. „Das ist fast ein Wunder.”

Vom Tod des Taxifahrers Issa Elbuka-jew, mit dem er an diesem 12. Februar unterwegs war, erfuhr Umarow erst viel später. Ebenso, dass seine Mutter an einem Herzinfarkt starb, als sie ihren halbtoten Sohn im Krankenhaus besuchte. Die Ärzte hatten ihn viermal hintereinander operiert, gaben ihm kaum eine Chance. Aischat Garassajewa hingegen erinnert sich genau an den Nachmittag des 12. Februars. Als der russische Militärhubschrauber am Dorfeingang landete, lief die Lehrerin mit einer Kollegin über die Hauptstraße von Tschiri-Jurt. „Es waren mehr als zehn Soldaten, die heraussprangen aus der Maschine. Obwohl sie gesehen haben müssen, dass wir Frauen sind, haben sie auf uns und auf das Taxi geschossen. Wir haben uns mit knapper Not in einen Bauernhof gerettet.” Von dort beobachtete Aischat Garassajewa, was geschah: „Umarow, der bereits getroffen war, stieg aus dem Taxi, wollte sich in Sicherheit bringen. Einer der Soldaten trat auf ihn zu, schoss ihn einfach nieder. Sie schlugen und traten ihn, durchsuchten seine Taschen.”

Fünf Zeilen und der Tod

Warum die russischen Soldaten das Taxi beschossen haben? Keiner weiß es. Es gibt nur Vermutungen. Der Helikopter kreiste seit Stunden über den umliegenden Orten und Straßen. „Angeblich haben die Soldaten irgendwelche Rebellen gesucht”, sagt Aischat Garassajewa. „Mehr wissen wir auch nicht. Vielleicht haben sie das Auto einfach verwechselt.” Obwohl der Bürgermeister des Ortes Anzeige erstattete, hat der russische Militärstaatsanwalt sich bisher nicht für den Fall interessiert. Die Angehörigen von Umarow jedenfalls sind von ihm nicht befragt worden, auch nicht die Lehrerin und andere Augenzeugen. Weder die Kennnummer des Helikopters ist bekannt noch, zu welcher Einheit die Soldaten gehörten. Dokumentiert ist der Vorfall aber im Dienstbuch des kleinen Krankenhauses von Tschiri-Jurt. Ein paar Zeilen in einer schmierigen Kladde berichten vom Tod des Taxifahrers und dem lebensgefährlich Verletzten Umarow: „Issa Elbukajew, Jahrgang 1958, wurde um 17.05 Uhr nach Schüssen von föderalen Streitkräften in Brust und Bauch eingeliefert. Er stirbt um 17.20.”

Fünf Zeilen nur. Ein Mensch ist getötet, ein anderer zum Krüppel geschossen worden. Ohne erkennbaren Grund. Aber all dem folgt nichts: keine Erklärung der Militärs, keine Strafverfolgung. Nicht einmal die in solchen Fällen übliche Behauptung der Militärs, die Opfer seien Rebellen und Mitglieder einer „bewaffneten Bande” gewesen. Wozu auch Erklärungen –„Zwischenfälle” wie dieser sind Alltag in Tschetschenien.

Seit zweieinhalb Jahren kämpfen russische Truppen in der Kaukasusrepublik gegen muslimische Separatisten. Während offiziell von rund 4000 gefallenen russischen Soldaten gesprochen wird, ist die Zahl der getöteten tschetschenischen Rebellen und die der unbeteiligten Zivilisten nicht einmal annäherungsweise bekannt. Bei den Zivilisten reichen die Schätzungen von mindestens 5000 bis hin zu 8000 Menschen. Eines aber ist klar: Täglich sterben Menschen, obwohl die offenen Kämpfe Anfang letzten Jahres endeten, und der Widerstand der Rebellen sich nun auf nächtliche Guerillaattacken beschränkt. „Zeugenaussagen belegen ein Bild der Gewalt, die sich gegen an den Kampfhandlungen unbeteiligte Personen richtet”, stellte das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen in seinem Tschetschenien-Bericht vom Januar 2002 fest. „Zu diesem Bild gehören Folter, summarische Hinrichtungen, willkürliche Festnahmen, das Verschwindenlassen von Menschen, Vergewaltigung, Misshandlungen, umfassende Zerstörungswut, Plünderungen.” Nach Angaben der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial sind schätzungsweise 2000 Menschen verschwunden, selbst der vom Kreml eingesetzte Menschenrechtsbeauftragte Wladimir Kalamanow hat 300 Fälle von Vermissten registriert, das tschetschenische Innenministerium rund 700.

Auch die Süddeutsche Zeitung hat in Grosny, Argun, Tschiri- Jurt, Schali und Novije Atagij Fälle gesammelt, die von willkürlichen Festnahmen, Folter und Mord zeugen. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass stimmt, was die russische Menschenrechtsorganisation Memorial erklärt: „In Tschetschenien kommen russische Todesschwadronen zum Einsatz”. Fast immer werden die Verhaftungen von Soldaten vorgenommen, die sich nicht ausweisen. Fast immer sind die Erkennungsnummern der Panzer und Jeeps unkenntlich gemacht. Häufig verschwinden die Festgenommenen spurlos, aber nur selten wird eine staatsanwaltliche Untersuchung eingeleitet, geschweige denn zu Ende geführt. Dass der Verdacht gezielten Terrors gegenüber der tschetschenischen Zivilbevölkerung auch von russischer Seite geteilt wird, zeigt ein Bericht der Wochenzeitung Nowaja Gasjeta. Darin bezeugt ein russischer Major, dass ein Kommando des Militär-Geheimdienstes GRU im Januar in der Bergstadt Schatoi die sechs Insassen eines Kleinbusses ermordete, darunter eine schwangere Mutter von sieben Kindern. Und ein Militärstaatsanwalt sagte der Zeitung: „Im Militär-Hauptquartier in Chankala sagen sie den Offizieren einfach: da oben in den Bergen sind alle Banditen. Tötet jeden, den ihr seht–wir decken Euch.” Nach der Aussage des Majors wurden alle beteiligten GRU-Offiziere verhaftet–eine Seltenheit bei Kriegsverbrechen in Tschetschenien.

Folter, Gewalt, Plünderungen, das Verschwinden von Menschen –für all das gibt es Beispiele auch in Tschiri-Jurt. Kurz nach der Attacke des Hubschraubers auf das Taxi mit Magomed Umarow wurde das Dorf von den Sicherheitskräften abgeriegelt. Acht Tage dauert die „Säuberung” des Dorfes von Rebellen, die Durchsuchung jedes einzelnen Hauses, jeder Wohnung. Erfolgsmeldungen gaben die russischen Truppen am Ende nicht bekannt. Dafür war Hussein Sakrijew tot, ein herz- und nierenkranker Invalide und Vater von vier Kindern. Der 40-Jährige war am 16. Februar von Soldaten des Innenministeriums mitgenommen worden und wurde beim Verhör totgeprügelt. Ein Nachbar, der zusammen mit ihm in einer als Gefängnis genutzten Geflügelfarm im Nachbarort Starije Atagi misshandelt worden war, sagt: „Es war zu sehen, dass Hussein zu schwach war. Sie haben ihn trotzdem stundenlang mit Knüppeln und Stahlkabeln geschlagen, bis er zusammenbrach. Sie benehmen sich wie wilde Hunde.” Die Familie erhielt die Leiche zwei Tage später, übersät mit Blutergüssen, ohne Erklärung. Sie können froh sein, dass der Leichnam überhaupt ausgehändigt wurde: Fast täglich werden hier Tote gefunden, die bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, denen die Köpfe abgeschnitten worden sind. Andere Leichen bleiben Wochen in der Hand des Militärs. Die Soldaten verlangen Lösegeld. Oft sind es mehrere hundert Dollar: der Verkauf getöteter Tschetschenen ist ein Geschäft.

Hussein Sakrijew war nicht der einzige, der bei der „Säuberung” festgenommen wurde. Auch in den Nachbarhäusern nahmen die Russen mehrere Männer mit. Der Mann, der mit Sakrijew verhört wurde, sagt: „Sie stachen uns Nadeln unter die Fingernägel, wollten die Namen von Rebellen wissen. Man gab uns fünf Minuten. Wer Namen nenne, könne nach Hause gehen. Die anderen werde man Monate festhalten.” Der Mann sagt: „Wer lange genug gefoltert wird, nennt auch seinen Nachbarn oder Bruder als Rebellen.” Anzeige wegen des gewaltsamen Todes ihrer Angehörigen erstatten die Tschetschenen selten. Sagt eine Angehörige: „Warum sollte ich? Es bewirkt doch nichts.”

Das zweite System

„Die Vorgänge zeigen, dass das Verschwinden von Menschen und die Ermordung von Festgenommenen keine Einzelfälle sind”, konstatiert die Organisation Memorial. „Hinter dem offiziellen Strafverfolgungssystem existiert ein Parallelsystem. Es operiert unter dem Schutz des Militärs, gesteuert vom Hauptquartier in Chankala. In diesem System wird gefoltert und ungesetzlich hingerichtet. Statt der Justiz agieren Spezialtruppen und der Militär-Geheimdienst.” Im Gegensatz zu Memorial will der Kreml- Menschenrechtsbeauftragte Wladimir Kalamanow eine Verbesserung der Lage der Zivilbevölkerung erkannt haben. Er sagte jüngst: „Sicherlich hat es einzelne Übergriffe gegeben. Aber der Staatsanwalt ermittelt.” In 212 Fällen seien im vergangenen Jahr Verfahren eröffnet worden, so bestätigte Tschetscheniens Chefstaatsanwalt Wsjewolod Tschernow. Doch Moskaus oberster Strafverfolger im Kriegsgebiet schob nach: Um diese Fälle vor Gericht zu bringen, „bedarf es substanzieller Beweise.” Was das heißt, berichten tschetschenische Polizisten: Juristisch gesehen seien die Verfahren eröffnet –praktisch passiere nichts. Selbst wenn ein Prozess eingeleitet wird, heißt dies nicht, dass es zu einem Urteil kommt. Dies zeigt der Fall des Oberst Jurij Budanow: Im März 2000 hatte er eine junge Tschetschenin nach einem Trinkgelage entführt, vergewaltigt und erwürgt. Budanow ist bis heute nicht abgeurteilt. Und der Menschenrechtsbeauftragte Kalamanow? Eine Tschetschenin sagt: „Der sitzt fast hundert Kilometer weit entfernt in Snamenskoje. Um dorthin zu kommen, müssen wir durch Dutzende russischer Kontrollposten. Falls die uns überhaupt durchlassen, kostet es eine Menge Schmiergeld. Und wenn wir es bis Snamenskoje schaffen, lassen sie uns nicht hinein in sein Büro.” Ungeachtet all dessen zeigt sich der Menschenrechtsbeauftragte in Interviews optimistisch: „Die Soldaten müssen jetzt ihre Dienstausweise vorzeigen, wenn sie ein Haus durchsuchen.” Der einzige Dienstausweis indes, den russische Soldaten Tschetschenen vorhalten, sind die Mündungen ihrer Kalaschnikow-Gewehre.

Rebellen in Hausschuhen?

Vielleicht wäre manches anders, wenn Wladimir Kalamanow mehr durchs Land reisen würde. Am Nachmittag des 4. März zum Beispiel hätte er in Argun sein sollen. An diesem Nachmittag fährt ein grauer Transporter durch die kleine Stadt, gefolgt von einer Menge verzweifelter Menschen. Viermal hält der Wagen an, jedesmal vor einem anderen Haus. Und jedesmal wird ein Leichnam von der Ladefläche gehoben. Die Toten sind der 22-jährige Alichan Mussajew, der 29- jährige Bislan Bichajew, der 17-jährige Schüler Schamil Idrissow und der 18- jährige Apti Bartschajew. Alle vier waren zwei Tage zuvor festgenommen worden, vermutlich von Soldaten der 34. Brigade des Innenministeriums. Die Einheit ist bei Argun stationiert und wegen ihrer Übergriffe gefürchtet. Allein in Argun werden mehr als 60 Menschen vermisst. Die vier Toten, die am Morgen des 4. März aufgefunden wurden, waren zwar an Schussverletzungen gestorben. Sie hatten aber, wie Photos zeigen, alle Druckstellen von Handschellen an den Armen, Blutergüsse am ganzen Körper und Verbrennungswunden an Händen und Armen. Blutergüsse, wie sie typisch sind für schwere Schläge; Verbrennungen, wie sie typisch sind für die Folter mit Stromstößen. Der Militärkommandant von Argun, Oberst Wiktor Smirnof, erklärte: „Die Männer sind in der Nacht vom 3. auf den 4. März bei Kämpfen mit Soldaten der 34. Brigade getötet worden.” Nur: Die Männer sind zwar erschossen worden, aber keiner trug einen Kampfanzug. Alle vier hatten nach Angaben ihrer Verwandten eben die Kleider an, in denen sie in ihren Häusern und zwei Tage vor ihrem angeblichen Tod im Gefecht von Soldaten verhaftet worden waren: bunte T-Shirts, Trainingshosen, Arbeitsjacken. Einer der Tschetschenen hatte sogar noch die Hausschuhe an, in denen er abgeführt worden war. Fragt einer der Verwandten: „Seit wann ziehen unsere Rebellen eigentlich mit Hausschuhen in den Krieg?”

Auszeichnungen:

"Wächterpreis der Tagespresse" 2003