Die 4 Berichte der Süddeutschen Zeitung aus 2002, 14.03.2002

von Tomas AVENARIUS

Plünderung eines zerstörten Landes

Je unübersichtlicher die Lage, desto länger die Finger: In Tschetschenien lädt die Struktur von Regierung und Verwaltung zur Korruption geradezu ein. Es gibt eine „vorübergehende Verwaltung für Tschetschenien” – ihr steht der von Moskau als Oberhaupt der Republik eingesetzte Islam-Gelehrte Achmed Kadyrow vor. Gleichzeitig arbeitet eine „Regierung der Republik Tschetschenien”. In ihr hat der ebenfalls von Moskau eingesetzte Stanislaw Iljasow das Sagen. Diese beiden Strukturen stehen quasi in Konkurrenz zueinander. Als ob dies nicht widersprüchlich genug wäre, sitzt im russischen Kabinett in Moskau mit Wladimir Jelagin noch ein „Minister für die Koordination der föderalen Organe beim Wiederaufbau Tschetscheniens”.

Dass diese verwirrende Struktur korruptionsanfällig ist, kritisierte jüngst sogar Russlands Präsident Wladimir Putin. Der Hauptgrund für die sozialen und wirtschaftlichen Probleme Tschetscheniens sei „das aktuelle Schema der Finanzierung des Wiederaufbaus”. Der Kremlchef: „Das Geld fließt nach Tschetschenien und bewegt sich wie in einem Labyrinth durch die verschiedensten Verwaltungsabteilungen und Banken; am Ende verantworten wieder die unterschiedlichsten Institutionen die Verwendung des Geldes.”

Diesem Verwaltungsdurcheinander steht eine für russische Verhältnisse beachtliche Summe gegenüber, die der Kreml für den Aufbau der in mehr als fünf Jahren Krieg zerstörten Kaukasusrepublik bereitstellt. So flossen im Jahr 2001 immerhin 4,5 Milliarden Rubel (166 Millionen Euro) aus dem Haushalt der russischen Föderation nach Tschetschenien. Hinzukommen noch einmal etwa 370 Millionen Euro aus verschiedenen Quellen außerhalb des Staatsbudgets: Der Energiekonzern RAO-UES, der Gasversorger Gasprom und die verschiedenen Ölkonzerne müssen Geld für den Wiederaufbau beisteuern.

In diesem Jahr sollen laut der Nachrichtenagentur Interfax sogar acht Milliarden Rubel aus dem föderalen Budget fließen sowie erneut zwölf Milliarden aus anderen Quellen. Außerdem sollen noch 14 Milliarden aus einem „föderalen Aufbauprogramm” hinzukommen.

Dies ist angesichts der Zerstörungen in der Republik wenig. Andererseits beträgt der russische Staatshaushalt nur etwas mehr als 70 Milliarden Euro. Die für den Wiederaufbau Tschetscheniens bereitgestellte Summe fällt also ins Gewicht. Berichte über Korruption beim Umgang mit den Aufbaugeldern halten sich schon lange. Die vom Vize-Gesundheitsminister Issa Dudajew angeprangerten Vorgänge im tschetschenischen Gesundheitsministerium sind, wie er selbst behauptet, „mit Sicherheit keine Einzelfälle”. Dazu passt, was der Chef der tschetschenischen Regierung, Iljasow, angesichts anhaltender Berichte über weitverbreitete Korruption mit Moskauer Aufbaugeldern sagte: „In meinem Aufgabenbereich kommt keine Kopeke weg. Aber ich fühle mich nur verantwortlich für die Bereiche, die ich selbst kontrolliere.” Dies dürfte sich gegen Tschetschenen-Oberhaupt Kadyrow gerichtet haben, dem in den russischen Medien häufig Korruption nachgesagt wird. Doch nicht nur Tschetschenen bereichern sich. Bekannt ist, dass hohe russische Offiziere in den verbotenen Handel mit Öl verwickelt sind. Bei dem Millionengeschäft wird Rohöl aus tschetschenischen Ölquellen und Pipelines abgezweigt und in Hinterhof-Raffinerien verarbeitet. Mit diesem billigen und minderwertigen Benzin fahren die Autos in Tschetschenien und den umliegenden russischen Republiken. Ebenso ist bekannt, dass Offiziere in Zusammenarbeit mit tschetschenischen Kriminellen mitverdienen am Altmetall-Handel. Verkauft wird alles: Durch den Krieg beschädigte Industrieanlagen, kilometerweise frisch verlegtes und hochwertiges Elektrokabel oder Röhren jeder Art. Der tschetschenische Vize-Wirtschaftsminister Badrauddin Dedajew sagte zur Süddeutschen Zeitung: „Die Republik ist zerstört und ausgeplündert, aber dennoch gehen Zerstörung und Ausplünderung weiter.”

Auszeichnungen:

"Wächterpreis der Tagespresse" 2003