Die 4 Berichte der Süddeutschen Zeitung aus 2002, 12.03.2002

von Tomas AVENARIUS

Russische Soldaten terrorisieren Zivilisten in Tschetschenien

Grosny - Ungeachtet aller Beteuerungen über eine Stabilisierung der Lage in Tschetschenien terrorisiert das russische Militär die Zivilbevölkerung der Kaukasusrepublik. Nach gemeinsamen Recherchen von Süddeutscher Zeitung und Frankfurter Rundschau im Kriegsgebiet lassen Soldaten immer wieder tschetschenische Männer verschwinden. Systematische Folter und illegale Hinrichtungen in großer Zahl deuten auf Todesschwadronen hin. Ihr Einsatz wird offenbar von der Militärführung angeordnet oder zumindest geduldet. Außerdem wird ein beträchtlicher Teil des vom Kreml für den Wiederaufbau der Kaukasusrepublik bereitgestellten Geldes von Mitgliedern der tschetschenischen Regierung veruntreut. Dokumente, die SZ und FR vorliegen, belegen diese Korruptionsfälle.

Die Menschenrechtsverletzungen folgen einem einheitlichen Muster: Tschetschenische Männer werden gezielt von Einheiten der Armee, des Innenministeriums oder der Geheimdienste festgenommen. Sie verschwinden spurlos oder werden mit Folterspuren tot aufgefunden. Fast immer sind die Sicherheitskräfte nach Angaben von Augenzeugen maskiert, die Kennzeichen ihrer Fahrzeuge unleserlich gemacht. Eine strafrechtliche Ahndung der Kriegsverbrechen findet nicht statt. So wurden vier Einwohner der Stadt Argun am 2.März in ihren Häusern von Soldaten festgenommen, ihre Leichen wurden am 4.März aufgefunden. Der Kommandant des Ortes erklärte, die Männer seien Rebellen und in einem Gefecht getötet worden. Alle vier Leichen weisen indes Spuren schwerer Misshandlungen auf. Sie waren offenbar mit Stromstößen gefoltert und geschlagen worden, bevor sie erschossen wurden.

Das sind keine Einzelfälle. In Argun sind laut Lokalverwaltung mehr als 60 Männer verschwunden. Im Nachbardorf Zozin-Jurt haben mehr als 700 Einwohner einen Hilferuf an die UN und den Europarat gerichtet. Seit Beginn des zweiten Tschetschenien-Kriegs seien 49 Einwohner von Russen ermordet worden, 29 Bewohner würden vermisst. "Den Großteil dieser Fälle haben wir überprüft", so die russische Menschenrechtsorganisation Memorial. "Die Liste ist authentisch."

Bei den beschriebenen Fällen von Korruption geht es um Unterschlagung in Millionenhöhe aus dem Wiederaufbaufonds für Tschetschenien. Dokumente aus dem tschetschenischen Finanz- und Gesundheitsministerium belegen, dass allein im Jahr 2000 knapp die Hälfte der für den Wiederaufbau von Kliniken und Ambulatorien abgerechneten Summe unterschlagen wurde. So hat eine Firma für nicht geleistete Renovierungen etwa 30 Millionen Rubel (1,1 Millionen Euro) erhalten. "Eine solche Korruption habe ich in fast drei Jahrzehnten im Staatsdienst noch nicht erlebt", sagte Tschetscheniens Vize- Gesundheitsminister Issa Dudajew. Er beschuldigt das von Moskau eingesetzte Oberhaupt Tschetscheniens, Achmed Kadyrow, die Korruption zu decken. Die russische Staatsanwaltschaft sei an einer Aufklärung nicht interessiert. Moskau behindert eine unabhängige Berichterstattung aus Tschetschenien. Korrespondenten können die Kaukasusrepublik meist nur unter Aufsicht russischer Offiziere bereisen. Die Recherche von SZ und FR fand ohne derartige Begleitung statt. Die SZ berichtet in mehreren Folgen.

Auszeichnungen:

"Wächterpreis der Tagespresse" 2003