Die 5 Berichte der Frankfurter Rundschau aus 2002, 21.06.2002

von Florian HASSEL

Häuserkampf in Grosny

Als in Tschetschenien der Friede noch zu Hause war, hätte sich Wiktoria Kuratschan nicht träumen lassen, dass sie sich auf ihre alten Tage mit aller Kraft an eine Bruchbude klammern würde. Ihre Zwei-Zimmer-Wohnung kann die Rentnerin nur zur Hälfte nutzen: Im Wohnzimmer hat eine russische Granate den Balkon und eine Außenwand weggerissen. Im anderen Zimmer hält statt Glas nur etwas Plastik in den Fensterrahmen den Wind ab. Bei Regen tropft es durchs Dach, und die feuchten Wände riechen modrig. Als Kuratschan an die Bratpfanne will, schiebt sie auf dem Herd die Katze Lusja zur Seite. Die hat sich den Kosenamen "meine kleine Räuberin" auch an diesem Tag wieder verdient, als sie im Morgengrauen im Wohnzimmer erfolgreich eine Ratte zur Strecke brachte.

Viel ist es nicht, was die 74-Jährige mit den Apfelbäckchen und wachen Augen fürs Mittagessen in die Pfanne legen kann. Einmal im Monat bringt die Hilfsorganisation "Mensch im Unglück" Wiktoria und den anderen Alten in der Parafinowa-Straße 1 Mehl, Öl und Zucker; manchmal liefert auch das Rote Kreuz im Stadtteil Sawodskij im Westen der tschetschenischen Hauptstadt Grosny Essen aus. Vom versprochenen Wiederaufbau hat Wiktoria Kuratschan zweieinhalb Jahre nach dem von Moskau verkündeten, angeblichen Ende des zweiten Tschetschenienkrieges bisher weder in ihrem Haus noch im restlichen Stadtteil etwas gesehen. Stattdessen sollen sie und ihre Nachbarinnen auf die Straße gesetzt werden.

Als in Grosny noch der Friede zu Hause war, wohnte die Vorarbeiterin Wiktoria Kuratschan mit ihrer Schwester Aina in der Parafinowa-Straße 3. Dann begann Ende 1994 der erste Tschetschenienkrieg. Ringsum schlugen die Bomben ein, doch das Haus der Schwestern blieb damals fast unversehrt.

Als die russischen Truppen im Januar 2000 zum zweiten Mal Grosny erobern, verschanzen sich Rebellen zwei Häuser neben dem der Kuratschans. Wiktoria, Aina und einige Nachbarn flüchten in den Keller. "In den kältesten Nächten wären wir beinahe erfroren", erinnert sie sich. "Und wir hatten selten zu essen", ergänzt ihre 76-jährige Nachbarin Ljuba Schurawlowa. "Wir haben abwechselnd Schnee gesammelt, um ihn zu Trinkwasser zu schmelzen." Als die Russen zum Sturmangriff antreten, schießen sie nicht nur die Parafinowa-Straße 3 in Schutt und Asche. Aus der brennenden Wohnung rettet Wiktoria eine Hand voll Kleider, eine Nähmaschine und eine Ikone.

Auch nachdem die Schlacht um Grosny vorbei ist, bleiben die Kuratschans noch monatelang im Keller, denn in ihrem zerstörten Haus sind alle Wohnungen unbewohnbar. Als das Rote Kreuz ihnen eiserne Öfen, Plastik und Holz für neue Fensterrahmen bringt, setzen die Schwestern und ihre Nachbarn im Nachbarhaus Parafinowa-Straße 1 verlassene Wohnungen notdürftig instand und ziehen dort ein. Eine staatliche Kommission besichtigt das Haus, in dessen Wohnungen vor dem Krieg hunderte Menschen gelebt haben, und teilt es zum Wiederaufbauen ein.

Auf den warten die Kuratschan-Schwestern und ihre Nachbarn noch heute. Stattdessen, so die Bewohner, fordert sie eine Vertreterin der Bezirksverwaltung im August vergangenen Jahres auf, auszuziehen. "Nach dem Abriss bauen wir Euch mit den Ziegelsteinen ein neues Haus", habe die Vertreterin gesagt. Doch Wiktoria Kuratschan und ihre Nachbarn trauen diesem Versprechen nicht. "Unser früheres Haus und andere Häuser waren Monate zuvor abgerissen worden, ebenfalls mit dem Versprechen, die Ziegel für einen Neubau zu verwenden", berichtet die Krankenschwester Larissa Abdurahmanowa. "Geschehen ist bis heute nichts."

Über Korruption und Diebstahl in großem Maßstab beim Wiederaufbau Tschetscheniens berichtete im März auch der russische Rechnungshof. So gaben die Beamten in Grosny an, sie hätten mit dem Geld aus Moskau 2000 private Häuser instand gesetzt. Tatsächlich, so fanden die Prüfer der Tageszeitung Kommersant zufolge heraus, bezahlen den Wiederaufbau überwiegend die Eigentümer. Oft findet er auch nur auf dem Papier statt.

Winkt allerdings genügend Geld, wird der Spaten auch in Grosny schnell geschwungen. Zum Beispiel beim Bau des riesigen Megapolis-Marktes im Stadtzentrum, der den alten Zentralen Markt ersetzen soll. "Wir bauen auch mit gebrauchten Ziegelsteinen", sagt Vorarbeiter Salman, "die kosten im Vergleich zu neuen weniger als die Hälfte. Das ist gut für uns und gut für die armen Leute, die die alten Steine sammeln und uns verkaufen."

Doch häufig wird das Baumaterial nicht von armen Leuten eingesammelt. Ein Unternehmer, der in Grosny an mehreren Großprojekten beteiligt ist, bestätigte der Frankfurter Rundschau, dass korrupte Verwaltungschefs auch für Häuser, die eigentlich wiederaufgebaut werden sollen, Abrissgenehmigungen erteilen. Die Abrissfirmen verkaufen die so gewonnenen Ziegelsteine als Baumaterial weiter.

An der Parafinowa-Straße fürchten Wiktoria Kuratschan und ihre Nachbarn, dass auch ihr Heim als illegaler Steinbruch dienen soll. Als Ende August vergangenen Jahres plötzlich Bagger mit dem Abriss der Parafinowa-Straße 1 beginnen, ziehen die Bewohner zur Verwaltung. Vize-Bezirksvorsteher Adam Eidamirow lässt sich die Akte geben. "Es ist ein Irrtum, das Haus ist tatsächlich zur Renovierung vorgesehen", sagt er und befiehlt, den Abriss unverzüglich zu stoppen. "Geht ruhig nach Hause."

Doch nachdem sich die Verwaltung samt dem Vize-Bezirksvorsteher ins Wochenende verabschiedet hat, rücken die Bagger wieder an. Die Bewohner rufen die tschetschenische Polizei und den Chef des russischen Militärgeheimdienstes ihres Bezirks zu Hilfe. Die Beamten wundern sich aber nicht schlecht, dass die Bauarbeiter eine vom Bezirksvorsteher unterschriebene Abrissgenehmigung vorweisen. Damit die Arbeiter keine vollendeten Tatsachen schaffen, setzt die Polizei sie trotzdem fest.

Als die Hausbewohner protestieren wollen, ist der Bezirksvorsteher nicht zu sprechen. Sein Stellvertreter, der den Bewohnern geholfen hat, wird entführt, angeblich von Rebellen. Larissa Abdurahmanowa, die den Protest der Hausbewohner in der Bezirksverwaltung anführte, verliert ohne Begründung ihre Stelle in der Krankenstation des Viertels. Jetzt überlebt die Mittvierzigerin mit den rötlichen Haaren und den grünen Augen, indem sie Kranke zu Hause betreut.

Immer wieder werden die Einwohner der Parafinowa-Straße 1 - überwiegend alte Frauen - unter Druck gesetzt. Vorarbeiter des Abrissunternehmens bedrohen mehrere Einwohner. Eines Morgens bemerkt Larissa Abdurahmanowa, dass Flammen aus dem Keller schlagen. Die Bewohner löschen das Feuer in letzter Minute. Doch schließlich ist es so weit: Die rechte Hälfte des Hauses wird abgerissen. Jetzt schieben Wiktoria Kuratschan und die anderen Frauen abwechselnd Wache und fürchten trotzdem, "dass auch unsere Haushälfte bald zerstört wird".

Nachts lässt die Furcht nicht nach. Häufig zerreißen Schüsse die Stille. Dann greifen junge Rebellen in der Nähe einen russischen Posten an. Oft schießen die Posten ziellos zurück. Manchmal jagt auch ein vorbeifahrender Schützenpanzer zur Unterhaltung eine Maschinengewehrsalve in ein Haus. Schlimmer noch ist es, wenn die Panzer stehen bleiben. Immer wieder werden in Tschetschenien Wohnungen und ihre Bewohner von maskierten russischen Soldaten oder Spezialkommandos ausgeraubt.

Manchmal trinkt Wiktoria Kuratschan mit Krankenschwester Larissa eine Tasse dünnen Tee, schon ein paar alte Kekse machen den Tag zum Festtag. Dann erzählt Wiktoria von ihrer Enkelin, die in einem Flüchtlingsheim in Krasnodar in Südrussland wohnt und so gern studieren möchte. Deswegen gibt Wiktoria ihr den größten Teil ihrer Rente von umgerechnet 50 Euro im Monat. "Ich bin alt, was soll ich mit dem Geld. Das Mädchen ist jung und soll leben", sagt die alte Frau in dem Zimmer mit der Katze und dem Kanonenofen.

Auszeichnungen:

"Wächterpreis der Tagespresse" 2003