Die 5 Berichte der Frankfurter Rundschau aus 2002, 14.03.2002

von Florian HASSEL

Wiederaufbau à la Potemkin

Ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett. Die Küche voller Eimer, denn statt fließendem Wasser gibt es nur den Brunnen auf der Straße. Es ist nicht gerade eine Luxusresidenz für einen stellvertretenden Minister. Doch wenn Issa Dudajew, der für die Bauabteilung zuständige Vize im Gesundheitsministerium, das Plastik im Fensterrahmen beiseite schiebt, sieht er, dass es vielen Nachbarn noch schlechter geht. Im Haus gegenüber zeigt sich manche Etage nur als klaffendes Loch - da, wo russische Granaten eingeschlagen sind. Am Gebäude zur Rechten droht eine tonnenschwere Betonplatte auf den Kinderspielplatz zu stürzen.

Wenn der Abend kommt, kann Dudajew, ein 50 Jahre alter Mann mit zurückweichenden schwarzen Haaren und ergrauendem Schnurrbart, entweder fernsehen oder dem Tanz der Gasfackeln auf dem Hof zuschauen. Die sorgen im nächtlichen Grosny für die einzige Beleuchtung.

Erst bombte Moskau die rebellische Kaukasusrepublik in Schutt und Asche,
jetzt verspricht es Tschetschenien die Wiedergeburt aus Ruinen. 2001 flossen 4,5 Milliarden Rubel (166 Millionen Euro) aus dem föderalen Budget Richtung Grosny, dazu 370 Millionen Euro von Ministerien und Behörden, dem Gasmonopolisten Gasprom und der Eisenbahn. In diesem Jahr sind bis zu 34 Milliarden Rubel (1,25 Milliarden Euro) Gesamthilfe angesetzt, wenig angesichts eines zerstörten Landes, doch für Russland mit einem Gesamthaushalt von nur 70 Milliarden Euro dennoch ein hübsches Sümmchen.

Weit vorne auf der Prioritätenliste steht der Wiederaufbau von Krankenhäusern und Erste-Hilfe-Stationen: Viele vom Krieg und Vertreibung erschöpfte Tschetschenen haben ärztliche Versorgung bitter nötig. Doch die Erfahrungen von Vize-Minister Dudajew und anderen lassen nichts Gutes für den Wiederaufbau ahnen: Renovierungen à la Potemkin, verschwundene Hilfslieferungen, verdorbene Lebensmittel, getürkte Rechnungen, all das ist in Grosny an der Tagesordnung, so Dudajew. "Eine solche Korruption wie jetzt habe ich in 27 Jahren im Staatsdienst noch nicht erlebt", sagte der gelernte Bauingenieur der Frankfurter Rundschau. "Selbst unter Dschochar Dudajew und Aslan Maschadow (den Präsidenten Tschetscheniens zur Zeit der faktischen Unabhängigkeit, d. Red.) wurde nicht so dreist geklaut. Und bisher ist die Justiz daran nicht sehr interessiert."

Dass beim Wiederaufbau alle Beamten uneigennützig mitmachen, bezweifelte Vize-Minister Dudajew erstmals, als er eine Aufstellung der Obersten Baubehörde über Reparaturen in knapp 150 Krankenhäusern und Erste-Hilfe-Stationen Tschetscheniens zu Gesicht bekam. 107 Millionen Rubel, umgerechnet vier Millionen Euro, hatte die Behörde beteiligten Baufirmen für das Jahr 2000 überwiesen. Für Arbeiten in einer Kinderklinik von Grosny etwa rechnete die Behörde 24 Millionen Rubel ab.Dudajew war alarmiert: Wenige Monate zuvor hatte die Baubehörde hierfür gerade 1,3 Millionen Rubel veranschlagt. In der Poliklinik Nr. 7 hatten die Maurer statt für 400 000 plötzlich angeblich für 5,8 Millionen Rubel die Kelle geschwungen, so die Aufstellung der Baubehörde vom 29. März 2001, die der FR in Kopie vorliegt. Und so weiter.

Den zahlreichen Widersprüchen zum Trotz habe sein Minister ihn gedrängt, die gewaltig nach oben revidierte Abrechnung abzuzeichnen, sagt Dudajew. "Ich habe mich geweigert, doch das Geld wurde trotzdem ausgezahlt." Nun forderte Dudajew bei der Baubehörde offiziell Aufklärung, wie es zu dem wundersamen Produktionszuwachs kam. So strich allein die Baufirma SU-105 aus der Rostow-Region von Juni bis November 2000 für sechs Renovierungen knapp 30 Millionen Rubel (1,1 Millionen Euro) ein. Das belegen kopierte Unterlagen, die die Frankfurter Rundschau und die Süddeutsche Zeitung bei ihrer gemeinsamen Recherche zusammentragen konnten. Tatsächlich jedoch hat SU-105 laut Dudajew "in Tschetschenien weder im Jahr 2000 noch später die abgerechneten Arbeiten durchgeführt".

Auf der Unfallstation in Grosnys Lenin-Stadtteil bestätigen sich die Angaben des Vize-Ministers. Laut Beleg wurde die Station im Jahr 2000 von SU-105 für knapp sieben Millionen Rubel generalüberholt. Das Haus riecht in der Tat nach frischer Farbe. Doch die Handwerker, die die verrottete Heizung herausreißen, zusammengebombte Wände neu hochziehen und ausgebrannte Krankenzimmer weißen, sind erst vor wenigen Monaten angerückt und gehören zu einer völlig anderen Firma.

"Vor uns hat hier niemand einen Finger krumm gemacht", sagt Imran Watajew, der Vorarbeiter. Ibragim Allejorew, der Cheftechniker der Unfallstation, bestätigt, "dass bei uns weder im Jahr 2000 noch im letzten Jahr eine Renovierung stattgefunden hat. Und für sieben Millionen Rubel können wir in Tschetschenien eine ganze Krankenstation neu bauen."

Vize-Minister Dudajew zufolge haben Kollegen von Polizei und Finanzministerium die merkwürdigen Renovierungen durchleuchtet und dem von Moskau ernannten Oberstaatsanwalt Tschetscheniens reichhaltiges Ermittlungsmaterial vorgelegt. Doch der "weigert sich bis heute, auch nur ein Ermittlungsverfahren zu eröffnen", so Dudajew. "Es sind offenbar sehr einflussreiche Leute im Spiel." Oberstaatsanwalt Wsjewolod Tschernow war auf gemeinsame Anfrage von FR und SZ nicht zu einer Stellungnahme zu erreichen. Im Heimatort der Baufirma SU-105 sind "alle Telefone der Firma seit kurzem abgemeldet", so die lokale Telefonauskunft.

Das vorläufige Fazit des Bauexperten Dudajew: "Von den 107 Millionen Rubel, durch die unsere Kliniken im Jahr 2000 etwas menschenwürdiger werden sollten, wurde die Hälfte geklaut. Und wenn ein Revisor die restlichen abgerechneten 50 Millionen unter die Lupe nimmt, wird er wahrscheinlich feststellen, dass nochmals bei der Hälfte davon manipuliert wurde." Auch im vergangenen Jahr habe die Klauerei weitergehen sollen.

Für eine Miniklinik in den Bergen etwa seien 10,5 Millionen Rubel angesetzt worden - Dudajew zufolge aus gutem Grund. "Die Klinik liegt im Dorf Beno-Jurt. Das ist Rebellengebiet, wo sich kein Revisor hintraut." Die haben in Tschetschenien ohnehin kein leichtes Leben. Vor kurzem rief Russlands Rechnungshofchef einen Prüfer aus Grosny zurück, nachdem dessen Familie in Moskau Morddrohungen erhalten hatte.

Die Voraussetzungen für Langfinger mit Dienstausweis sind in Tschetschenien noch besser als im restlichen Russland: Neben der Zentralregierung tragen 24 Ministerien und Behörden ihr Scherflein zum Wiederaufbau bei - alle mit selbstständigem Budget und Buchführung.

Damit nicht genug, streiten sich in Grosny und Moskau viele Hunde um die größten Knochen. Da ist zum einen die Verwaltung Tschetscheniens mit ihrem vom Kreml eingesetzten tschetschenischen Chef Achmed Kadyrow. Regierungschef Stanislaw Iljassow ist nominell Kadyrows Vize, faktisch aber ein vom russischen Premier eingesetztes Gegengewicht zum tschetschenischen Oberhaupt. In Moskau führte bis vor kurzem ein Vize-Premier die Aufbau-Aufsicht. Doch außerdem gibt es Wladimir Jelagin, Minister für die Koordination der föderalen Organe beim Wiederaufbau Tschetscheniens. Als wäre dieser Kuddelmuddel nicht genug, ist auch das Militär mit von der Partie: Mit seiner Feldkasse sorgt es für den Geldstrom.

Banken gibt es im zerstörten Tschetschenien nicht. Dafür gibt es in Grosny, direkt neben dem Wirtschaftsministerium, eine in strahlendem Weiß leuchtende chemische Reinigung. Deren Eröffnung feierte das russische Staatsfernsehen Ende Februar als Rückkehr der Zivilisation - freilich ohne die Frage nach dem Sinn einer Reinigung in einer Trümmerwüste zu beantworten.

Außerdem ist die Reinigung noch gar nicht in Betrieb. Nur ein paar Handwerker laufen um ein halbes Dutzend schier museumsreifer Maschinen herum: etwa eine Waschmaschine vom VEB Spezialmaschinenbau Eisenach von 1990. "In ein paar Monaten geht hier eine Bombe hoch, die den Rebellen in die Schuhe geschoben wird, und dann werden Preise für neue Maschinen abgerechnet", sagt ein am Wäschereiprojekt Beteiligter.

Auch im Umgang mit Medikamenten, Lebensmitteln oder Hilfsgütern sind dem
Einfallsreichtum keine Grenzen gesetzt. Das jedenfalls ist die Meinung des Hauptrevisors des tschetschenischen Finanzministeriums in einem Prüfbericht vom 31. Dezember vergangenen Jahres. So habe das Gesundheitsministerium statt abgerechneter hochwertiger Waren ungenießbares Kanisteröl und verdorbenen Fisch für die Patienten geliefert. Medikamente seien ebenso überaltert gewesen wie mehrere Tonnen Wandfarbe. Deren Ablaufdatum: 1975.

Von einer internationalen Hilfslieferung verschwanden schon bis zur Ankunft in Grosny Waren für fast eine halbe Million Euro. Der nur in diesem Bericht festgestellte Schaden: etwa eineinhalb Millionen Euro, ein Vermögen nicht nur in Tschetschenien.

Doch Vize-Minister Dudajew zufolge will Verwaltungschef Kadyrow von der offenbaren Misswirtschaft im Gesundheitsministerium nichts wissen. "Ich habe Kadyrow den Prüfbericht am 5. Februar in die Hand gedrückt", sagt Dudajew: "Am nächsten Tag wurde ich von einer Sitzung ausgeschlossen, auf der Rechenschaft über die Arbeit des Gesundheitswesens abgelegt werden sollte." Kadyrows Pressedienst teilte nach schriftlich eingereichten Fragen von FR und SZ mit, Kadyrow sei in Moskau und nicht für eine Stellungnahme zu erreichen.

"Bei uns ist alles ausgezeichnet", sagte Gesundheitsminister Uwais Magamadow auf Anfrage. Alle Vorwürfe seien aus der Luft gegriffen. Der Prüfbericht sei "eine Lüge", sein Stellvertreter Dudajew vielleicht "krank". "Ich kann ein (entsprechendes) Attest ausstellen", so das Angebot des Gesundheitsministers.

Auszeichnungen:

"Wächterpreis der Tagespresse" 2003