Pressefreiheit in Russland

Pressefreiheit und Meinungsvielfalt lassen sich unterschiedlich messen

Wissenschaftliche Messungen würden z.B. auf die Anzahl von Verlagen oder Tageszeitungen pro 1.000 Einwohner abstellen und diese mit anderen Ländern vergleichen. Oder Fernsehsendungen und Zeitungsberichte inhaltsanalytisch auswerten und zählen, wie oft die Meinung der Regierenden und wie oft (bzw. selten) die Ansichten der Opposition zum Ausdruck kommen.

Beides ist in Russland schwierig.

Zum einen ist das Land riesig. Das russische Leben spielt sich in 11 (!) Zeitzonen ab. In den USA sind es (nur) vier.

Die Russische Förderation zerfällt überdies in eine große Anzahl unterschiedlicher Völker, Stämme, Sprachgebiete, Religionen und kulturelle Identitäten. Dies ist ja auch der Hintergrund des Tschetschenienkonfliktes seit Jahrhunderten. Öffentliche Kommunikation und Medien haben in den einzelnen Ländern und Regionen eine teilweise sehr unterschiedliche Funktion.

Im ‚klassischen’ Russland selbst, also jenem Teil, den wir Europa zurechnen und in dem auch Moskau liegt, befindet sich das Land seit 1990 in einem permanenten Umbruch. Vieles, was gestern war, gilt heute nicht mehr. Und da fast alles in ständigem Wechsel begriffen und das ‚neue’ Land wenig strukturiert und dazu auch noch riesengroß ist, haben wir im Westen nicht wirklich einen wirklichkeitsgetreuen Überblick, was dort alles geschieht. Auch deshalb sind Aussagen über dieses und jenes schwierig.

Sicher ist nur, dass auch im europäischen Teil Russlands - bzw. der russischen Förderation, wie sich das Land selbst bezeichnet – auch der allergrößte Teil der russischen Medien anders funktioniert als hier zu Lande oder in anderen westeuropäischen Regionen. Man muss ein wenig die (kleine) Vorgeschichte kennen.

System JELZIN versus System PUTIN

Russland versank nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Reiches (UdSSR: Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Russlands) 1990 im Chaos. Unter Präsident Bors JELZIN und der Umstellung auf Marktwirtschaft wurden clevere Geschäftemacher zu so genannten Oligarchen, die sich die ehemals volkseigenen Großbetriebe zu eigen machten, Banken gründeten sowie Zeitungen und Fernsehstationen aufkauften. Die wurden zum Sprachrohr ureigener Interessen im politischen Chaos eingesetzt. Da JELZIN ein Mann der Macht war, ließ er die Oligarchen in jeder Hinsicht gewähren, weil sie ihn – zugunsten ihrer eigenen Geschäfte – politisch unterstützten.

Nach JELZIN kam PUTIN und der setzte diesem Spuk der Selbstbedienung ein Ende: Die Oligarchen mussten ins Ausland fliehen (z.B. BERESOVSKY) oder wurden via Gerichtsprozess in sibirische Arbeitslager verbannt (z.B. CHODORKOVSKY) – GULAG unter PUTIN. Die großen Betriebe gingen zurück in das Eigentum des Staates und wer sich gegen den Kreml und die Regierenden stellte, hatte (ganz) schlechte Karten.

Auch die Medien, die ehemals im Besitz der Großindustriellen waren, sind nun wieder zum allergrößten Teil Eigentum des Staates. Entweder gehören sie über verschachtelte Konstruktionen zur Firma Gazprom, die Eigentum des russischen Staates ist und dem Einfluß des Kreml unterliegt. Mit den gigantischen Deviseneinnahmen aus dem Verkauf von Gas und Erdöl saniert(e) PUTIN das Land wirtschaftlich.

Oder aber: die Medien, insbesondere die Zeitungen unterstehen direkt den Behörden oder gleich den Gouverneuren in den einzelnen Landesteilen der russischen Förderation (mehr zum Staatsaufbau hier ...). Die Gouverneure sind die jeweiligen ‚Landesfürsten’, wurden früher in freien Wahlen bestimmt. Seit PUTIN werden sie direkt vom Kreml eingesetzt: von PUTIN (so z.B. auch in Tschetschenien). Das System JELZIN liess sich so beschreiben: schwacher Staat und.große Macht der Oligarchen. Für die wirtschaftliche Entwicklung Russlands und seiner Bevölkerung war dies allerdings nicht zum Vorteil – immer mehr Menschen verarmten.

Das System PUTIN funktionert genau andersherum: starker Staat, die Wirtschaft ebenfalls in zentralen Bereichen in den Händen der Regierung, die egoistischen Oligarchen verbannt. Die enormen Einnahmen aus den russischen Exportgeschäften fördern den wirtschaftlichen Aufschwung, den allermeisten Menschen geht es besser als je zuvor. Der Rückhalt PUTIN’s in der Bevölkerung wuchs, weil man erst etwas zu essen braucht, bevor man sich informieren möchte.

Systeme ohne freie Presse

Die Presse bzw. die Pressefreiheit hat von keinem der beiden Systeme profitiert. Seit 1994 haben über 200 Journalisten und Reporter ihre Arbeit mit dem Leben bezahlt: sie wurden entweder ermordet, fanden durch merkwürdige Unfälle den Tod oder sind auf myseriöse Weise verschwunden. Das letzte Opfer war Anna POLITKOVSKAJA - sie wurde (symbolträchtig?) am 7.Oktober 2006, am Tag von PUTIN's Geburtstag, vor ihrer Wohnungstür mit mehreren Schüssen niedergestreckt.

PUTIN, den der Ex-Bundeskanzler und Duz-Freund Gerhard SCHRÖDER auch heute noch für einen „lupenreinen Demokraten“ hält, fürchtet sich ganz offensichtlich vor Meinungsvielfalt und Pressefreiheit. Deswegen sind alle Fernsehstationen direkt oder indirekt unter staatlichem Einfluss, fast alle großen und wichtigen Zeitungen in der Hand des Staates, ebenso der Hörfunk.

Die Anzahl jener Medien, die eine gewisse Größe und publizistische Bedeutung haben und die frei und unabhängig agieren, lassen sich an weniger als fünf Finger einer Hand abzählen. Dazu gehört z.B. dieNovaja Gazeta, über die wir hier einige Informationen zusammengestellt haben. Oder die HörfunkstationEcho Moskwy, die zu einem Drittel den dort arbeitenden Journalisten, zu zwei Dritteln allerdings Gazprom gehört. Dieser Sender hat sich – trotz der Kapitalbeteiligung des staatlichen Gaskonzerns – in seiner Berichterstattung, frei von politischer Einflussnahme, (bisher) halten können.

Um einen Eindruck über Pressefreiheit und Meinungsvielfalt zu geben, schildern wie hier einfach, was sich in Russland zugetragen hatte, während wir im Frühjahr 2007 uns mit dem Thema „Der vergessene Krieg“ auseinandergesetzt und dieses Thema dokumentiert haben:

April 2007:

  • Die Bildung neuer Parteien wird erheblich erschwert – rechtzeitig vor den Wahlen zur Duma, dem höchsten Parlament, in dem PUTIN’s Partei „Einheitliches Russland“ mehr als zwei Drittel aller Abgeordneten stellt
  • Die Staatsanwaltschaft Moskau setzt die russische Menschenrechtsorganisation „Memorial“ mit Androhungen von Ermittlungen unter Druck. Die wurde 1988 – zu Hochzeiten der Perestroika – durch den Atomphysiker, Nobelpreisträger und Dissidenten Andrej SACHAROW gegründet und hat sich seither für die Einhaltung der Menschenrechte eingesetzt, z.B. für politisch Verfolgte, Flüchtlinge aus den Kaukasus-Regionen (Tschetschenien) und Umweltschützer eingesetzt. „Memorial“ hat einen Ratgeber veröffentlicht (Auflage 5.000 Exemplare), der durch die EU finanziert worden war: einen Ratgeber für Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof. Dort haben - seit der Ära PUTIN - bisher rund 90.000 russische Bürger elementarste Menschenrechts-Rechte eingeklagt.
  • Gleiches geschieht mit der Organisation „Bürger Beistand“, die vor allem politische Flüchtlinge aus dem Kaukasus und Mittelasien betreut.
  • Der russische Ex-Schachweltmeister Garri KASPAROV organisiert in Moskau und St. Petersburg eine friedliche „Demonstration aller Unzufriedenen“, um wenigsten auf diese Weise deutlich zu machen, dass es andere Meinungen als jene gibt, die der Kreml verkündet und die in praktisch allen Medien rapportiert werden. Die Demonstranten werden von schwer bewaffneten „Sicherheitskräften“ („Omon“-Spezialeinheiten) eingekesselt, zum größten Teil vorübergehend festgenommen und dabei teilweise zusammengeschlagen.
  • Unter den Verprügelten befindet sich auch der ARD-Korrespondent in Moskau, Stephan STUCHLIK, obwohl er sich aus Pressevertreter zu erkennen gibt

Als weiterführende Informationen 

empfehlen wir 2 statistische Erhebungen der Internationalen Journalistenvereinigung „Reporter ohne Grenzen“(www.reporter-ohne-grenzen.de)

  • Die Feinde der Pressefreiheit. Neben Mahmoud AHMADINEJAD, derzeit amtierender Staatspräsident des Iran sowie Ayatollah Ali KHAMENEI, Kim JONG-IL, Generalsekretär der regierenden Arbeiterpartei in Nord-Korea, Robert MUGABE in Zimbabwe, Raul CASTRO auf Kuba, die Drogenbosse in Mexiko sowie mehreren anderen Figuren der Welt sind dort auch Vladimir PUTIN und Dimitri MEDVEDEV gelistet
  • Das Ranking zur Pressefreiheit weltweit: Rangliste der Pressefreiheit. Dort steht Russland im internationalen Ranking an der Stelle 141, Nord-Korea und Eritrea am Ende des Rankings (Nummern 172 und 173).


Die Rede des Initiators und Präsidenten der „Stiftung zur Verteidigung der Glasnost“ in Moskau,Alexej SIMONOV (SIMONOW), die er auf der Jahresversammlung der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGMR) im Mai 2006 gehalten hatte: Zensur, Unterdrückung und Verfolgung von Journalisten unter Putin

Die internationale Journalistenvereinigung Reporter ohne Grenzen hat 2009 eine Fallstudie zusammengetragen: Die Situation der Medien und der Journalisten in 7 Regionen der russischen Förderation. Das Ergebnis: die Situation ist sehr unterschiedlich. Auf der einen Seite Gegenden und Städte, wo Zeitungen und Journalisten ungehindert arbeiten und berichten können, auf der anderen Seite Einschüchterung, Drohungen, Abhängigkeiten und teilweise auch nackte Gewalt. Dies bringt der Titel dieser 7 Fallbeispiele zum Ausdruck: Helden und Handlanger: Die Arbeit von Journalisten und Medien in den russischen Regionen (84 S.).

In dem Artikel „Gute Nacht, Moskau“ des Moskauer Korrespondenten der Frankfurter Rundschau, Florian HASSEL, der 2003 für seine Tschetschenien-Berichte mit dem Wächterpreis ausgezeichnet wurde, ist ausführlich beschrieben, wie 2003 der letzte unabhängige Fernsehsender politisch ‚abgeschaltet’ wurde.
Die Probleme für hart recherchierenden Journalismus sind zusammengefasst in einer englischsprachigen Untersuchung "Investigative Journalism in Russia" aus der ländervergleichenden Analyse „Investigative Journalism in Europe“ des Niederländischen Verbandes investigativer Journalisten ""Vereniging van Onderzoeksjournalisten (VVOJ)", erreichbar unter
www.vvoj.org

Auszeichnungen:

"Wächterpreis der Tagespresse" 2003