Regionale Onlinemedien in Russland

Wenn die offiziell erhältlichen Informationen eines Staatsapparats verstaatlicht sind, z.B. über das staatlich administrierte Fernsehen, und Fernsehen mit Abstand das Leitmedium ist, macht es für unabhängige Medien keinerlei Sinn, auf gleicher Ebene dagegen zu halten. Es würde schon an den notwendigen Lizenzen, der aufwendigen Technikausrüstung und den immensen Kosten scheitern.

Weil auch eine überregionale oder national verbreitete Zeitung kostenaufwendig ist und die Verbreitung ein funktionierendes Verteilsystem voraussetzen würde, wäre es ebenso unrealistisch, eine flächendeckende Tageszeitung aufzubauen. Russland ist flächenmäßig das größte Land der Erde. Allein in Zeitzonen beschrieben, so gibt es derer zehn.

Weil Russland groß ist, Moskau ein Staat im Staate darstellt, und viele der über 80 Regionen der Russischen Föderation wirtschaftlich und kulturell ein vergleichsweise unabhängiges Eigenleben führen (können), richten sich unabhängige Medien genau daran aus: an den spezifischen Bedingungen und Möglichkeiten, an den regionalen Informationsbedürfnissen. Unabhängige Medien sind, wenn sie auch politische Inhalte transportieren, vor allem regionale Medien. Wenige Ausnahmen wie die Zeitungen Vedomosti oder die Novaya Gazeta bestätigen die Regel.

Wir zeigen dies hier an drei regionalen Onlinemedien. Und an mehreren regionalen Zeitungen in einem eigenen Kapitel.


www.fontanka.ru

"Fontanka" heißt einer der vielen Flüsse in St. Petersburg, dem russischen Venedig im Norden Russlands, direkt an Finnland grenzend. St. Petersburg (vormals: Leningrad) ist die am "westlichsten" ausgerichtete Stadt in Russland. Mit rund 5 Millionen Einwohnern ist sie die zweitgrößte Kommune im Land. Nicht nur darauf basiert ihre Bedeutung: Fast die gesamte Polit-Prominenz, die in Moskau den Ton vorgibt, stammt von hier - St. Petersburg ist die Heimatstadt von Wladimir PUTIN. Hier befindet sich dann auch mit 400 Mitarbeitern eine der größten "Troll-Fabriken" des Kreml in Gestalt eines Unternehmens mit der Bezeichnung "Internet Research". Deren Aufgabe: gezielte Desinformation in den Sozialen Medien, wie SPIEGEL-ONLINE oder der Berliner Tagesspiegel und andere berichteten.

Das Gegenteil davon bietet die Website www.fontanka.ru: Aktuelles und Hintergründiges. Aus der Stadt und Umgebung. Detailliert und kritisch. Auch mit der Nennung von Ross & Reiter. Beispiel: Wie sich der Bau eine neuen Fußballstadiums auf die eigentlich geplante und notwendige Modernisierung von Krankenhäusern auswirkt.

Neben der kommunalen Perspektive: Auch grundsätzliche Themen und Fragen bzw. gesellschaftliche Probleme werden diskutiert. Z.B., wie es kommen kann, dass russische Muslime zu IS-Kämpfern werden: Russische Muslime im Dschihad (verlinkt bzw. zitiert nach Russia Beyond The Headlines).

Insgesamt konzentiert sich die Redaktion auf das Lokale/Regionale. Kostproben in English lassen sich lesen auf dem Blog TheRussianReader.

Die Gründung der Redaktion 1998 fällt in die Endzeit der Ära Boris JELZIN und der beginnenden russischen Wirtschaftskrise. In einer neu gegründeten Aktiengesellschaft AJUR (Агентство журналистских расследований - АЖУР), übersetzt: Journalistische Agentur für Recherchen, fanden sich Interessierte zusammen, die nach und nach weitere Medien eröffneten: Der Geheime Berater und die Zeitschrift Stadt 812. Außerdem übernahmen sie die Petersburger Ausgabe der in Russland beliebten Boulevardzeitung Moskowskij Komsomolez in St. Petersburg.

Zwischenzeitlich war der schwedische Medienkonzern Bonnier an dem Mehrmedienunternehmen beteiligt. Aufgrund neuer gesetzlicher Regeln für ausländische Medieninvestoren sind die GmbH-Anteile in russische Hände übergegangen. 41% hält jetzt Andrej BAKONIN, der auch als CEO fungiert. Chefredakteur seit der Gründung 1998 ist immer noch (2016) Alexander GORSCHKOW aus St. Petersburg.

Im skizzierten Medienverbund (landesweite Boulevardzeitung mit ca. 1,3 Mio Lesern, Stadtmagazin) nutzt fontanka.ru ganz offenbar vorhandene inhaltliche Spielräume.

www.ecmo.ru

Ganz und gar "von unten" betrieben wird die Website ecmo.ru - Abkürzung für Ekologicheskaya oborona Moskovskoy oblasti (Экологическая оборона Московской области), übersetzt: Bürgerbewegung zur ökologischen Verteidigung des Moskauer Gebiets.

Hintergrund dieser Initiative: der Bau einer Autobahn zwischen Moskau und St. Petersburg. Von drei möglichen Varianten der Streckenführung hat sich die Macht für die aus ökologischer Sicht ungünstigste Alternative entschieden: eine sechsspurige Schnellstrasse mit einem dreikilometerbreiten Seitenstreifen links und rechts mitten durch ein großes Waldgebiet direkt an den Norden Moskaus angrenzend, das für die Grossstadtmetropole eine wichtige Luftaustauschfunktion ausübt.

Gegen dieses - an sich unbstrittene - Vorhaben hat sich in der Stadt Chimki, einer wichtigen Vorstadt von Moskau mit 200.000 Einwohnern, eine Bürgerinitiative gebildet. Die Auseinandersetzungen waren teils heftiger Art, in deren Zusammenhang der Journalist Mikhail BEKETOV lebensgefährlich zusammengeschlagen wurde: www.ansTageslicht.de/BEKETOV. BEKETOV verstarb daraufhin nach wenigen Jahren im Alter von 55.

Seine von ihm gegründete oppositionelle Zeitung Chimkinskaja Pravda (Wahrheit von Chimki) übernahm bis zur endgültigen Aufgabe der Printausgabe die Aktivistin und Bürgerrechtlerin Jewgenija TSCHIRIKOWA (Evgenia CHIRIKOVA). Bei der Bürgermeisterwahl 2012, für die sie kandidierte, kam sie auf knapp 18% der Stimmen, dem zweitbesten Ergebnis - Beleg dafür, welchen Stellenwert die Auseinandersetzungen um den Autobahnbau in der modernen Trabantenstadt einnehmen.

Die Printzeitung gibt es nicht mehr. Auch die ehemalige Website ist schon lange nicht mehr existent. Dafür haben die Bürgerrechtler und Umwelt-Aktivisten das Portal www.ecmo.ru aufgebaut, das nicht nur das Thema Umwelt im Moskauer Einzugsgebiet kommuniziert, sondern auch russlandweit.

www.znak.com

Eine Neugründung aus dem Jahr 2013, die sich Internet-Zeitung nennt. Und Informationen aus und für die umliegenden Regionen und Bezirke um Jekaterinburg kommuniziert. Jekaterinburg liegt am Ural und gehört mit 1,3 Mio Einwohnern zu den großen Städten Russlands. Industrie und Universität prägen die (westliche) Uralmetropole.

Die Gründerin, Aksana PANOVA, war zuvor Chefredakteurin von ura.ru. Dort hatte man sie - ganz offenbar wegen ihrer kritischen Berichterstattung - mit Betrugs- und Erpressungsvorwürfen vorwürfen unter Druck gesetzt. Sie wurde zu 2 Jahren auf Bewährung verurteilt und für diesen Zeitraum Berufsverbot.

PANOVA verließ das Medium und gründete ihr eigenes: mit klarer oppositioneller Ausrichtung.

Bei den alljährlichen offiziellen Pressekonferenzen, die Wladimir PUTIN regelmäßig vor ausgewähltem Publikum und Journalisten abhält, konnte im selben Jahr die znak-Redakteurin Ekaterina VINOKUROVA eine Frage stellen. Sie wollte PUTIN's Meinung zur Rechtsstaatlichkeit der russischen Justiz erfahren. Frage und Antwort sind nicht nur auf znak.com dokumentiert, sondern auch im englischen Wikipedia:

Frage/VINOKUROVA:
"Now acquittals less 1% — less than under Stalin, — Catherine recalled. — Responding to a similar question, you said that, then, investigation works well. But it is not. Enough to look at the processes on the same Bolotnaya case or cases of Aksana Panova, Daniil Konstantinov".

Antwort/PUTIN:
"I agree with you that we need to seek purity of court decisions, verdicts, improve the quality of the preliminary investigation, judicial investigation, — said Putin. — All of this should be done. But I want to assure you that in fact it is a problem not only in our country. Everywhere there is a miscarriage of justice, any negligence in the investigation and interrogation apparatus and the judiciary. But we must work on this together, including through the media. I also say this quite seriously, without irony any jokes. We are often faced with dishonesty and some substandard work. It happens. And, of course, we have to react to this and try to do it. But I want to pay your attention to the fact that decisions on amnesty just due to the fact to close this topic, flip it. And do everything possible in moving forward, and together with the representatives of civil society, and the law enforcement system, and with the state and other authorities destinations. Okay?"

Die Website wird angenommen. Bis zu 50.000 User werden täglich gezählt. 

Die kritische Haltung von znak.com lässt sich auch an zwei Verwarnungen der russischen Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor ablesen.

Über die Enthüllungen der Zeitung Krasnoe Znamay (Rote Fahne) 2013 in Syktyvkar in der Republik Komi, die im September 2015 zur Verhaftung der halben Regionsregierung einschl. des Gourverneurs geführt haben, hatte znak.com regelmäßig Links gelegt. Und die Enthüllungen mit anderen Skandalen in Kirov und auf Sachalin verglichen (siehe Bild; Link wegen Schließung der Zeitung nicht mehr aktiv: mehr unter Die kleine Zeitung Krasnoe Znamay).