Die Berichte des Berliner Tagesspiegel, 07.08.2003

von Juergen SCHREIBER

"Der Hass ist massiv geschürt worden"

Der Tagesspiegel führte ein Interview mit Magnus Gäfgen, dem verurteilten Mörder Jakob von Metzlers

Das Frankfurter Landgericht hat den 28-jährigen Magnus Gäfgen vor einer Woche wegen der Entführung und Ermordung des Bankierssohns Jakob von Metzler zu lebenlanger Haft verurteilt. Das Gericht stellte dabei eine "besondere Schwere der Schuld" fest. Das Verfahren war eines der Aufsehen erregendsten in der Geschichte der Bundesrepublik - wegen der Grausamkeit des Verbrechens. Dazu kam die bekannt gewordene Folterandrohung durch die Polizei gegen den damals Tatverdächtigen Gäfgen. Der Vorsitzende Richter der Schwurgerichtskammer, Hans Bachl, hat dem Tagesspiegel ein schriftliches Interview mit dem Verurteilten genehmigt. Weder Gäfgen noch seine Familie erhalten für das Interview ein Honorar. Wir drucken das Gespräch mit Gäfgen in voller Länge. Die Antworten fordern zum Widerspruch heraus. Bei der Schriftform waren aber spontane Einwände oder Korrekturen an den Aussagen von Jakobs Peiniger nicht möglich. Auch da nicht, wo der Befragte in Larmoyanz und Selbstmitleid ausweicht. Seine Verteidigung hat, wie gemeldet, gegen das Urteil Revision angekündigt.

TS: Sind Sie froh, dass der Mordprozess zu Ende ist? Man hatte stark den Eindruck, dass Sie das Ende herbeigefleht haben.

Ja, das stimmt schon. Es ist nicht leicht, dort immer von Kameras umzingelt zu sein, die auf die kleinste Reaktion lauern, um sie auszuschlachten. Und es ist natürlich unvorstellbar schwer, das Schreckliche, was ich getan habe, zu offenbaren und es zu erklären zu versuchen. Und mit jedem neuen Fernsehbericht flammt der Hass auch in der JVA natürlich neu auf. So bin ich schon froh, dass ich nicht mehr nach Frankfurt muss.

TS: Fühlen Sie sich in der Haft durch andere Gefangene noch bedroht? Werden Sie weiter isoliert?

Die Bedrohungen nehmen eben auch zu. Durch die Medien weiß ja jeder hier, wer ich bin und was ich getan habe, und gerade durch einen Teil der Frankfurter Medien ist der Hass ja massiv geschürt und die Hetzjagd angetrieben worden. So hab ich hier die maximale Sicherheitsstufe und bin komplett isoliert, und daran wird sich wohl in absehbarer Zeit auch nichts ändern.

TS: Wie würden Sie Ihre gegenwärtige Verfassung beschreiben? Was fühlen Sie im Moment?

Leere, Verzweiflung. Es ist auch eine Mischung aus Selbsthass und Selbstverachtung auf der einen Seite, aber auch Ratlosigkeit, Verzweiflung und Fassungslosigkeit über dieses schreckliche, sinnlose Verbrechen andererseits und natürlich riesiges Mitleid für alle, denen ich damit so viel Leid angetan habe.

TS: Was haben Sie in den langen Prozessmonaten über sich selber gelernt?

Sehr, sehr viel. Aber mit jeder Erkenntnis kommen tausend neue Fragen auf. Ich habe da noch einen sehr langen Weg vor mir. In meiner Situation, außer der verzweifelten Suche nach Antworten und Erklärungen, stellt man alles infrage, auch dies, wovon man bisher sicher überzeugt war.

TS: Das öffentliche Bild reduziert Sie auf einen geldgierigen jungen Mann, der bereit war, dafür ein Kind zu töten. Gibt es eine Seite bei Magnus Gäfgen, die im Gericht überhaupt nicht zur Sprache kam?

Nein, das denke ich nicht. Vor Gericht sind ja ganz verschiedene Seiten von mir zur Sprache gekommen; nur macht es mich schon traurig, dass man sich auf das Bild festlegt, dass ich ein Monster sein muss, weil ich etwas so Schreckliches getan habe. Dass es ganz andere Seiten an mir gibt, wurde dargestellt und auch durch Zeugen und Fakten bestätigt, aber man wollte davon nichts hören. Das passte nicht ins Bild und hätte so viele Fragen und Probleme aufgeworfen, denen man sich gar nicht stellen wollte. So hat man es sich eben leicht gemacht. Und ein Großteil der Medien hat dieses Bild des Monsters dankbar aufgenommen und verbreitet.

TS: Würden Sie heute sagen, dass Sie abseits von jeder Realität gelebt haben?

Das mit Sicherheit. Ich habe in einer ganz anderen Welt gelebt, voll von Träumen, Hirngespinsten, Fantasien - und als mich die knallharte Realität eingeholt hat, habe ich grausam versagt.

TS: Gibt es aus dem alten Freundeskreis Personen, die weiter zu Ihnen stehen? Vielleicht die Freundin Katta? Kam sie zu Besuch nach Weiterstadt?

Bei diesem Fall, in einer Stadt wie Frankfurt und dem Status der Opferfamilie, ist es fast unmöglich für solche Menschen, offen zu mir zu stehen. Und so passiert so etwas natürlich nur diskret, und ich werde hier auch keine Namen nennen. Aber ich war sehr positiv überrascht, wie viele Leute noch mit mir Kontakt haben wollen und mich unterstützen. Und ich bin für diese Hilfe sehr dankbar und weiß, dass es für sie doppelt so schwer ist. Aber das bestärkt mich auch in der Ansicht, dass ich wohl doch kein Monster von Geburt an war.

TS: Ihre Eltern sind im Verlauf des Prozesses nicht zuletzt durch gutachterliche Äußerungen in ein schlechtes Licht gerückt worden. Ist die Auseinandersetzung in der Familie zu kurz gekommen?

Meine Meinung über Herrn Leygraf habe ich bereits geäußert. Er hat nie mit meinen Eltern gesprochen oder Informationen über mein Leben dort eingeholt. Er hat es sich, wie vorher gesagt, eben leicht gemacht. Die Medien lechzen nach einem Monster, er hat es ihnen gegeben. Für ihn gab es bei mir nur diese "MonsterSeite", und die muss ja irgendwo herkommen, also wird's wohl die Familie gewesen sein. Das ist verantwortungslose Hybris. Er hat sich so vor der entscheidenden Frage gedrückt, wie es denn dazu kommen konnte, dass ein Mensch mit offensichtlich guten Seiten und allen Perspektiven ein solch schreckliches wie sinnloses Verbrechen begehen kann. Ich denke, meine Familie hat nichts damit zu tun. Aber es wäre sicherlich Aufgabe des Gutachters gewesen, das zu untersuchen und nicht bloß zu unterstellen.

TS: Sie sind Jurist. War Ihnen bei Jakobs Entführung klar, dass Sie mit der Höchststrafe rechnen müssen? Und mit der Verachtung durch die Gesellschaft?

Ja und nein. Natürlich wusste ich um das Strafmaß und auch um die Verachtung durch die Gesellschaft bei solchen Verbrechen. Aber dieser Plan war ja für mich nicht Realität, sondern Hirngespinst. Ich hab das nie ernst und real gesehen, sondern alles immer von mir geschoben und gesagt, das passiert doch sowieso nicht, so was machst du nicht. Und als ich es dann konkret geplant habe, hab ich mir auch noch diese Alkoholgeschichte eingeredet. Das, was ich geplant und getan habe, wurde erst in dem Moment in der Wohnung schreckliche Realität. Da habe ich dann entsetzlich versagt. Ich hatte mir ja gar keine Gedanken über Flucht oder über Gefängnis oder so gemacht, ich hatte ja nicht mal einen Anwalt, als ich bei der Polizei war. Und so war mir so gesehen überhaupt nicht klar, was da auf mich zukommt.

TS: Erscheint Ihnen Jakob nachts in Träumen?

Ja, immer. Auch tagsüber, die Bilder sind immer da, genauso wie die Gedanken. Es dreht sich alles um ihn und wie das passieren konnte, ich denke an nichts anderes. Ich hab ja auch nichts mehr zu tun, und so ist es unmöglich, diese Bilder mal zur Seite zu schieben und an etwas anderes zu denken.

TS: Wissen Sie schon, was Sie in der Haftzeit tun werden? Sie lernen bereits neue Sprachen.

Nein, keine Ahnung, erst mal muss ich irgendwie überleben. Der Kassettensprachkurs, den Sie ansprechen, war nur eine Art Beschäftigungstherapie. Andere U-Häftlinge dürfen arbeiten, haben Freistunde auf dem Hof, Freizeit mit anderen, Sport, Kirche, Kurse etc. - ich bin isoliert, habe nichts davon, bin 24 Stunden allein in meiner Zelle. Damit ich da nicht komplett verrückt werde, habe ich mir diesen Sprachkurs besorgt.

TS: Kann man sich in Ihrer Lage schon Gedanken darüber machen, was "danach" kommt?

Nein, überhaupt nicht. Zum einen dreht sich bei mir alles; die Gedanken sind natürlich bei dem Geschehenen, und es ist mir gar nicht möglich, über etwas anderes genauer nachzudenken. Zum anderen ist die vor mir liegende Haftzeit für mich so unvorstellbar lang, dass ich gar nicht weiß, ob es ein "danach" überhaupt gibt.

TS: Werden Sie von Psychologen oder Pfarrern betreut? Ihre Mutter sagte, Sie hätten begonnen, wieder zu beten?

Wie in den meisten Haftanstalten fehlt es auch hier massiv an Personal. Die Betreuung durch Seelsorger und Psychologen ist entsprechend. Es erschöpft sich eigentlich darin, dass ein Kurzbesuch gemacht wird, um meine Selbstmordwahrscheinlichkeit festzustellen, damit entschieden werden kann, ob ich weiterhin stündlich lebendkontrolliert werden muss oder videoüberwacht werde. Es ist eine Verwahrung, keine Betreuung oder Hilfe; aber mehr lässt die Personalsituation nicht zu. In solch einer Situation ganz allein in der Zelle, kommt man Gott wieder sehr nahe.

TS: Gegen Polizeivizepräsident Daschner, der Sie foltern lassen wollte, ist immer noch keine Anklage erhoben worden. Wie stehen Sie dazu?

Zunächst einmal ist das "wollte" in Ihrer Frage falsch, die Folterdrohung durch Herrn Daschner ist juristisch gesehen selbst bereits Folter. Dass man das Verfahren gegen ihn verschleppt, ist offensichtlich. Seitdem meine Geständnisse und Aussage für nichtig erklärt wurden, besteht zum Thema Folter von mir keine wirksame Aussage. Was soll man von einem Ermittlungsverfahren halten, in dem zehn Monate nach der Tat noch nicht mal der geschädigte Zeuge gehört wurde? Das Gericht verurteilte mich neben dem Mord auch wegen falscher Verdächtigungen - dass diese durch Folterdrohung erpresst wurden, will das Gericht noch nicht mal überprüfen. Genauso wie zu den Misshandlungen bei der Festnahme durch das MEK weder meine damalige Freundin noch ich vor Gericht etwas aussagen durften. Das sollte doch schon nachdenklich stimmen. Das alles ändert nichts an meinem schrecklichen Verbrechen an Jakob. Vielleicht habe ich auch kein moralisches Recht, mich über diesen Justizskandal zu beschweren; aber jeder rechtsstaatlich denkende Mensch sollte hier sehr hellhörig werden, welcher Weg hier eingeschlagen wird.

Die Fragen stellte Jürgen Schreiber.