Die Berichte des Berliner Tagesspiegel, 24.05.2003

von Juergen SCHREIBER

"Ja, Mama, ich war's"

Käme er jetzt zur Tür herein, geradewegs durch den Vorgarten und das schrill tapezierte Treppenhaus in den ersten Stock, im kleinen Erker wäre wieder für ihn gedeckt - wie immer.

Das Tischtuch mit dem Tulpenmuster liegt auf, Kaffee und Kuchen sind serviert. So sah es wohl aus, wenn Magnus G. seine Eltern besuchte, die begierig das Neueste über sein Jurastudium hören wollten. Vielleicht wunderte sich seine Mutter Maria insgeheim darüber, was für eine seltsame Mode der 28-Jährige neuerdings mitmachte. Er trug teure Hemden mit eingesticktem Logo, das sie nicht kannte. Sie verkniff sich Fragen nach seiner elf Jahre jüngeren Freundin Katha. Zwei Mal hatte sie das Mädchen "zwischen Tür und Angel" bei ihm gesehen, ohne vorgestellt worden zu sein.

Die Mutter des mutmaßlichen Mörders Jakob von Metzlers sitzt uns in einem Altbau am Frankfurter Stadtrand gegenüber, unterm Herrgottswinkel tief in den Sessel gedrückt; sie braucht die schützende Hülle. Ihr kranker Ehemann Günter nennt sie "die Lütte", er kommt im Trainingsanzug hinzu. Seit es am 30. September 2002 "nach 23 Uhr" klingelte und Kripobeamte die Festnahme ihres Jüngsten mitteilten, ist im Leben der Maria G. nichts mehr, wie es war: Es ist ihr unmöglich, auch nur den Anschein des Normalen vorzuspielen. Mit der von Magnus gestandenen Tötung des elf Jahre alten Schülers erlosch gleichsam ihre eigene Existenz, was sich in körperlichen und seelischen Leiden äußert, "einer traurigen Stimmung seit Monaten". Optisch mildern farbenfrohe Bouquets und Glückwünsche zum 60. die Tristesse.

Wo ist das Kind?

Ein nicht enden wollender Albtraum verdunkelt ihr Dasein. Sie gäbe alles dafür, könnte sie ihn aus dem Gedächtnis löschen. Am 30.September kommt gegen zwölf telefonisch die Nachricht, "dass mein Bruder gestorben ist". Spätabends läutet wie gesagt die Polizei. Die Mutter erfährt von der vorerst nur vermuteten Verstrickung ihres Sohnes in Jakobs Entführung. Sie durchleidet die Nacht, in der die Stunden schleichen, gepeinigt von dem Gedanken, "wo ist das Kind? Was hat Magnus damit zu tun?" Es gab das Quäntchen Hoffnung, Jakob lebe noch. "An Schlaf war nicht zu denken." Am Rande der Verzweiflung rief sie im Frühlicht um sechs bei der Polizei an, "kann ich jetzt mal mit Magnus reden". Es wurde 7 Uhr 30, bis es hieß, sie könne kommen. Außerstande, sich ans Steuer zu setzen, bat sie, abgeholt zu werden.

Es ist so viel passiert seit jenem 27.September 2002, an dem Magnus den kleinen Jakob abpasste, erstickte, eine Million Euro Lösegeld von der Bankiersfamilie Metzler erpresste. Egal, wie Mutter und Vater sich daheim die Fakten des Verbrechens zusammensetzen, je mehr herauskommt, umso unbegreiflicher wird der Fall. Paralysiert von den entsetzlichen Details, drehen sich ihre Gedanken zur "Sinnlosigkeit des Geschehenen" im Kreis. Maria G. findet nicht aus der Bedrückung. Es läuft auf das Rätselbild von einem Sohn hinaus, den sie so nicht kennt: Aktenzeichen 3490S, Anklage wegen Mordes und Menschenraubs! Sie hat müde Lider, die hellen, kummervollen Augen suchen das auf dem Fensterbrett stehende farbige Glasmosaik der Jungfrau Maria. Ihr Gesicht, teils blass, teils gerötet, ist von den Widrigkeiten aufgerieben, beinahe durchsichtig. Unruhige Finger nesteln an der mit Edelweiß bestickten Bluse. Sie schweigt für Momente der Selbstvergessenheit, man soll den Kampf mit den Tränen nicht bemerken.

Trotz allem, er ist ihr Sohn, in Boulevardblättern wird er als "Killer" beschrieben. Fernsehaufnahmen flimmern ins Wohnzimmer (dort ist er auf Fotos, aber auch in unheilverkündenden Akten präsent), zeigen den Rechtsreferendar im Landgericht Frankfurt, wo man ihm derzeit den Prozess macht. Serien von Bildern überfluten sie, die im Widerstreit liegen mit hoffnungsfrohen Erinnerungen an ihren Buben: Magnus, den Großen. Er machte zur Freude seiner sehr frommen Mutter bei der katholischen Jugend mit, "gläubig erzogen und darin groß geworden". Jetzt trug sein Verteidiger Ulrich Endres wohlweislich dafür Sorge, dass sie der Verhandlung fernblieb, in der sich sein Mandant unter der unerbittlichen Diktion von Fakten (und eigenen Einlassungen), zum potenziellen "Lebenslänglichen" verwandelt. Auch Magnus hatte empfohlen, "komm nicht"; im Publikum säßen welche, die ihn am liebsten lynchen würden. Vor kurzem noch wärmte sie die Aussicht auf eine neue Zeit, er stand in der Prüfung, bald werde er Anwalt sein, mache Karriere. Jetzt ist ihr Dasein geprägt von Ängsten, aus der Stimme ist Sorge vor den nächsten Nachrichten herauszuhören, die Einzelheiten zum Fall Jakob bringen.

Sie ist Kindererzieherin, er Rentner. Zwei unbescholtene Bürger, wie hätten die G.s mit dem Medienansturm umgehen können, der ihnen kaum Luft zum Atmen ließ? Sie deutet zum Waldstreifen auf der gegenüber liegenden StraßenSeite. Dort hätten Reporter gelauert, "wir sind überrollt worden. Wussten nicht, wie wir uns verhalten sollten." Nachbarn wurden ausgehorcht. Sie lernten eine Öffentlichkeit fürchten, die sich an der Tragödie beider Familien weidete, der Metzlers und ihrer. Maria G. teilt Leid und Schmerz von Jakobs Eltern, hat ihnen über einen Pfarrer ihr Mitgefühl versichert. Streng katholisch, nahm sie von der Ostermesse ein Grablicht für Jakob zum Friedhof mit. Wie könnte sie den Bibelspruch, unterm steinernen Kreuz vergessen, an den sie glaubt: Römer 14, "Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn". Von Magnus erfuhr sie, sein Opfer hatte am gleichen Tag Geburtstag wie ihr zweiter Sohn.

Bei der Geschichte der Maria G. schnürt es einem die Kehle zu, sie entreißt sich Erinnerungsfetzen mit gepresster Stimme. Im Polizeipräsidium traf sie auf den "heulenden, stammelnden Magnus, an den Stuhl gefesselt". Sie sah Fremdes in seinen Augen, das ihr durch und durch ging, spürte instinktiv seine Verlorenheit. Er wusste nichts anderes, als in Lügen zu flüchten. Sie flehte ihn an, "egal, du musst der Polizei sagen, was mit dem Kind ist, wen schützt du?" Er brachte nur heraus, "ich kann nicht, ich kann nicht".

Über ihre Wohnung im Frankfurter Süden schwebt Flugzeug um Flugzeug nach Rhein -Main ein, Symbole der Freiheit, die sich der Angeklagte durch die Lösegeld-Erpressung sichern wollte. Drinnen berichtet die Mutter stockend weiter, am nächsten Tag wieder zum jetzt Tatverdächtigen geeilt zu sein. Auf dem Flur begegnete sie Verteidiger Endres. So schonend wie möglich konfrontierte der sie mit dem Unumstößlichen, "er hat gestanden!". Von einer Panikwelle erfasst, war ihr, als verlöre sie den Boden unter den Füßen: "Denn jetzt sollte ich zu ihm da rein!" Man kann sich ihr Schaudern vorstellen, die Schreckensgeste der zum Mund geführten Hand bei seiner Offenbarung, "ja, Mama, ich war s!" Sie zwang sich trotzdem, nicht loszuheulen. Er wurde kein anderes Kind, er blieb der, den sie lieb hat. Magnus steckte ihr noch seine Breitling-Uhr zu mit der Bemerkung, sie sei wertvoll. Rasch stellte sich heraus: Die war geklaut. Später würde er dem Gutachter schildern, die Mutter habe viel mit ihm gekuschelt, "hat uns wirklich umsorgt".

Es war noch zu früh für die Gewissheit, dass schon die Stunde des Abschieds gekommen war, des Abschieds von Träumen. Mit Stolz hatten die Eltern verfolgt, wie er im Studium die schönste Perspektive gewann. Auch jetzt sucht "die Lütte" Halt in dieser Schilderung. Dem Vater schien Jura eine reelle Sache, die "soziale Schiene", auf der sich seine Frau als Kindergärtnerin und ihr Sohn A. als Sonderschullehrer bewegten, gefiel ihm weniger. In Magnus, der Steuerrecht paukte, malte er sich den Fachmann aus, "der dann aufs Geld aufpasst".

Es war aus heutiger Sicht doch die Stunde des Abschieds. Unwahrscheinlich, die Familie jemals wieder einträchtig zum freitäglichen Essen zu versammeln wie am Tattag. Magnus kam zu spät. Er brauchte die auf den Mord folgenden Stunden, um den Toten im Weiher bei Rebsdorf zu verstecken. Auf dem Rückweg rief er die Eltern an, traf gegen 14 Uhr zum Besuch ein. Es gab Suppe und Kartoffelpuffer. In der ersten Aufregung erzählten sie Journalisten, es sei wie immer gewesen, Magnus habe mit Appetit gegessen, wollten ihn schützen und damit sagen: Er kann es nicht gewesen sein. Später lief wieder und wieder die Szene vor Frau G.s innerem Auge ab, dann fiel ihr ein, er habe kaum den Teller angerührt, öfter gesagt, "ich muss wieder weg".

Sprachlose Gespräche

Erst gestern hatten sie "wieder einen Durchhänger", Maria und ihr Günter von den Fragen gequält, "wieso, weshalb"?, der Suche nach weißen Flecken in ihrer Wahrnehmung, den Sohn betreffend. Es gibt keinen Tag, an dem sie nicht den Punkt berührt: "Was habe ich versäumt, was ist passiert, was ne Mutter nicht gesehen hat?" Magnus Geldgier, sein Hang zum Angeben, die Anziehungskraft von Luxus, die falschen Vorbilder, Hirngespinste. Sie registrierte zwar seine reichen Spezl, "er hat sie bewundert". Aber: "Ich habe nie Neid rausgehört." Sein mit Statussymbolen demonstrierter Größenwahn blieb ihr fremd, sie legt keinerlei Wert auf Äußerlichkeiten. Bei Ausflügen tippelte die Familie einst so weit, bis dem sparsamen Gatten die Kneipen-Preise passten.

Sich dem Hin und Her der Gefühlsstürme auszusetzen endet mit dem fast überwältigenden Empfinden von Ausweglosigkeit. Für Maria G. riss schon die Erwägung eines Verbrechens durch den Sohn alles fort, was ihr heilig ist. Die Erzieherin bemüht sich in einer zunehmend von ihr als sinnentleert erkannten Welt um die Vermittlung ideeller Werte, handelt sozial. Nach Magnus Festnahme klagte sie sich an: "Du kannst nie wieder in den Kindergarten, wenn dein eigenes Kind dir so misslungen ist!" Es spricht für die Kirche, wie fürsorglich sie die Zweifelnde in der Not auffingen. Sie arbeitet wieder.

Alle 14 Tage fahren die G.s zur Vollzugsanstalt Weiterstadt, zuvor hatten sie im Leben noch nie einen Fuß in ein Gefängnis gesetzt. Es fällt ihnen schwer, sich in die Regularien einzufinden, es dauert oft den ganzen Vormittag, sich für die Sprechzeit anzumelden, "man telefoniert 50 Mal". Sie stehen in der Schlange, gehen durch die "Vereinzelungsanlage", erhalten rote oder blaue Zettel, deren Bewandtnis sich ihnen nicht erschließt. Dann werden sie als Nummer aufgerufen.

"Drei Euro" dürfe man mit reinnehmen, um dem U-Häftling was aus dem Automaten zu ziehen. Meist wählt sie zwei Becher Kaffee, Rittersport oder Chips. Bei den überwachten Begegnungen geht es weniger um Inhalte als um Nähe zueinander. Der Kindsmord ist ein Berührungstabu, mit Magnus über Jakob zu reden gelang der Mutter in der Sprechzeit nie, so sehr sie es sich wünscht. "Man traut sich nicht, möchte ihm nicht wehtun, sonst fließen gleich die Tränen." Es gibt auch keine Worte, die das Grauen der Tötung eines unschuldigen Buben mildern, es sei denn, man blendet das Thema aus. Hat seine Sprachlosigkeit damit zu tun, dass er zur ganzen Wahrheit nicht bereit ist, weil sie seiner Mama vollends das Herz bräche? Die Wahrheit über den Plan, der entgegen seiner Aussage Jakobs Sterben bewusst in Kauf genommen haben könnte? Es bleibt beim Austausch von, wie sie sagt, "Belanglosem", von "Sätzen über Gott und die Welt": Wie die Eintracht steht, wie gern er in der Anstaltsbücherei arbeiten würde, ob er den Spanisch-Kurs mache. Er erzählt von seiner Verlegung in den "italienischen Trakt", vom Himmel, den er aus der Zelle sehe. Aus Furcht vor Übergriffen mache er keinen Hofgang. Fotos seiner Freundin Katha habe er erbeten, sie schickte ihm "drei bis vier". Wenig wird über die ihr fremde, andere Ebene seiner Wirklichkeit geredet, den "Ibiza-Kreis" superreicher Kumpel, denen Magnus in Gefallsucht verfallen war. Die 60 Minuten sind schnell vorbei.

Mit seinem Schattendasein hinter Gittern konfrontiert zu sein entzieht der Mutter jedesmal alle Energie. Nach schmerzlichen Begegnungen scheidet sie von Magnus mit dem Bewusstsein, er sei "in Erschrecken, Reue und Hass auf sich selbst" befangen, dem Wissen, sein Leben verspielt zu haben. Er begann zu beten, wartet auf die Strafe, die er sich als Jurist selbst ausrechnen kann. Für die Katholikin ist es mit dem irdischen Richter nicht getan, Magnus müsse sich irgendwann vor seinem Gott verantworten. Ist es nicht so, dass ewige Verdammnis droht?

Der Anschein des Normalen

Der Vater ist mehrmals vom Tisch aufgestanden, die Mutter nippt bloß an der Tasse, es gehe ihr schlecht. Im Gespräch sucht er mehr als sie die unerträgliche Wahrheit nach Entlastendem ab. Günter G. beharrte anfangs darauf, es müsse andere im Hintergrund gegeben haben, Magnus sei zu so etwas nicht imstande. Seine Maria hingegen stellte sich der Realität, nahm sie wie eine ihr auferlegte Prüfung an nach dem unerforschlichen Ratschluss Gottes, schließt Opfer wie Täter in die Fürbitte ein. Unbegreiflich bleibt die mit ihrem Therapeuten zu erörternde Frage, warum Magnus behütete Kindheit ihn nicht vor dem Bösen schützen konnte. Wie er sich den Anschein des Normalen gab, derweil sich in ihm der Riss auftat, abgrundtief, grausam. Er war erwachsen, er war ihnen entglitten; das Verhängnis bahnte sich lange an. Als wäre ihr Augenfeld eingeengt, übersahen sie seine Haltlosigkeit.

Die Stunden vergehen. Man bleibt nicht unbeeindruckt davon, wie die Mutter ihre Zuneigung zu Magnus hütet. Trotz aller Diskretion ist heraushören, dass in der Katastrophe ihre Gefühle wuchsen, als gäbe es Errettung durch Liebe. Vergleichbar elterlicher Hingabe zu verunglückten Kindern, die ganz auf Fürsorge angewiesen sind. Stets für seine Probleme zuständig, spürt sie am deutlichsten die Leere der vor ihm liegenden Haft. Bei einer Verurteilung 15 bis 25 Jahre.

Schon jetzt löst sich im Drama ihr Dasein auf. Sie sitzen da, ein melancholisches Paar, zermartern sich den Kopf darüber, warum der Schrecken bei ihnen einbrach und blieb. Das Verbrechen hat ihnen unter der Hand Magnus Biografie entrissen - und damit ihre eigene, die zur Biografie des Versagens umgedeutet wird. Fassungslos erkennt die Mutter seinen pervertierten Materialismus, "Habgier" trieb ihn, die fixe Idee, mit einem Schlag Millionär zu werden. Dafür war er bereit, ein anderes Leben zu opfern, obwohl seine Lage trotz einiger tausend Euro Schulden wahrlich nichts Unentrinnbares hatte. Trostlos, er empfand seine Herkunft als "verächtlich", sprach gar von "gewissem Makel", wollte mit dem Coup den Absprung besiegeln.

Man könnte fast auf den Gedanken kommen, er habe mit der Entführung sogar verdeckte Rache an den Eltern genommen. Seine Tatorte sind auffallend mit ihnen verknüpft. Die Lösegeld-Übergabe fand in ihrer unmittelbaren Nähe statt, die Container, in die er Jakobs Kleider und Schulsachen warf, stehen ums Eck. Das 7000-Mark-Auto, im Kofferraum transportierte er den Toten, zahlte der "Vadder", für die Wohnung, in die er Jakob lockte, bürgte Mama.

Maria G., wer sonst, löste Magnus Haushalt auf: das Ende jeder Hoffnung, es könne wieder gut werden. Kathas Utensilien gingen zurück. Die Zimmer wurden renoviert, die Dämonen blieben. Das Bild der Badewanne, in der das tote Kind lag, wird sie niemals los.