Die Geschichte eines potenziellen Justizirrtums im Überblick

Polizeibeamte repräsentieren das so genannte Gewaltmonopol des Staates. Aus unterschiedlichen Gründen. Einer davon: Weil Polizisten bei der Durchsetzung des legitimierten Gewaltmonopols selbst Objekt einer Gefährdung werden können, dürfen sie deswegen auch Gegenmaßnahmen anwenden. Zum Beispiel den Schockschlag, einen leichter Schlag mit der flachen Hand ins Gesicht - nicht um jemanden zu verletzen, sondern um jemanden zu überraschen, um ihn z.B. besser überwältigen zu können.

Genau dies ist am 5. Dezember des Jahres 2004 geschehen. In einer Ausnüchterungszelle. Eine stark alkoholisierte und ebenso körperlich kräftige Person männlichen Geschlechts, die wir hier MM nennen, sollte zwecks Ausnüchterung zur Ruhe gebracht werden. MM hatte - wie sich hinterher herausstellte - über 3 Promille Alkohol im Blut. MM wird später in einem Strafprozess gegen 2 Polizisten zum "Opfer". MM hatte aber keine Strafanzeige gestellt und sich auch in keinster Weise über seine Behandlung bei der Polizei irgendwie beschwert. Für den Prozess musste man ihn als "Zeugen" sogar ersteinmal suchen. Seine Aussage als "Opfer" stützt die Aussagen der angeklagten Polizisten: Er habe keine Faustschläge ins Gesicht bekommen. Denn derlei Gewalt hinterlässt Spuren. Solche gab es aber nicht.

Nun aber zum fraglichen Vorgang. Bei der Einlieferung von MM in die Ausnüchterungszelle waren 4 Polizisten zugange. Darunter RG und sein Kollege D, die beide Dienst im "Zentralen Polizeigewahrsam" hatten. Die beiden anderen, B und S, hatten MM eingeliefert und kamen von einer anderen Dienststelle.

Spätestens hier beginnt die Geschichte: Die Kollegen B und S berichten nach dem fraglichen Einsatz, dass RG (der sich bisher nie etwas zu Schulden hatte kommen lassen), den eingelieferten MM nicht nur mittels Schockschlag ruhig gestellt, sondern darüber hinaus mit mehreren Faustschlägen ins Gesicht geschlagen zu haben. Über die Anzahl dieser Faustschläge werden sich die beiden Polizeikollegen vor diversen Instanzen später widersprechen. Sie waren es aber, die Anzeige gestellt hatten. Bzw. Anzeige stellen sollten. Auf Geheiß ihres Vorgesetzten, den wir hier E nennen.

Zwischen RG und E gibt es nur eine indirekte Beziehung. Und vielleicht ist sie die eigentliche Erklärung. Sie kann allerdings nicht mehr wirklich rekonstruiert oder nachgewiesen werden.

Unter diesem Dienststellenleiter E hatte auch mal ein Kollege namens H gearbeitet, der mit E in eine Auseinandersetzung geriet: offenbar im Zusammenhang mit der Frage, ob bei Unfällen (immer nur) eine bestimmte Abschleppfirma geordert werden solle. Die Auswahl von solchen Dienstleistungsfirmen, die damit ihr Geld verdienen, ist grundsätzlich ein nicht ganz unsensibles Thema, dem wir hier auch besondere Beachtung widmen: Das Problem von "A"bschleppdiensten und "B"eziehungen.

Egal wie: Der Polizeibeamte H wechselte nach dieser 'Auseinandersetzung' seine Dienststelle und kam in jene, in der auch RG seinen Dienst verrichtet. H erzählte RG von dem Vorgang:

RG wiederum nahm dies zum Anlass, dieses potenzielle Bestechungsthema bei einem Weiterbildungsseminar im Polizeipräsidium zur Sprache zu bringen - ohne konkrete Namen oder Dienststellen zu nennen. Nicht ausgeschlossen werden kann, dass E davon auf irgendeine Weise davon erfahren hatte. In diesem Fall könnte vermutet werden, dass E nicht besonders gut auf RG zu sprechen wäre. Dies ist natürlich nur eine Vermutung und deswegen ist diese potenziell spezifische indirekte Beziehung zwischen E und RG auch in gestrichelter Form dargestellt:

Eigentlich ist es gängige Praxis unter Polizeibeamten, sich gegenseitig keine Knüppel zwischen die Knie zu werfen. Es sei denn, es handelt sich um erhebliche Verstöße gegen geltendes Recht oder gegen das Gesetz. Ein Schockschlag gehört zum gängigen Repertoire von Polizisten. Faustschläge natürlich nicht.

Aber die Faustschläge sind nicht wirklich erwiesen. Sie wurden bisher nur von den beiden anzeigenden Polizeibeamten B und S behauptet, deren Chef E ist. Das Opfer selbst, MM, kann sich daran überhaupt nicht erinnern. Und hatte deswegen auch keine Anzeige gestellt. Selbst in stark alkoholisierten Zustand wären bei Faustschlägen ins Gesicht Spuren geblieben. Offenbar gab es die aber nicht.

Egal wie: Die Anzeige der beiden Polizeikollegen, die auf Geheiß ihres Vorgesetzten E handelten, endet vor Gericht mit der Verurteilung von RG.

Vorläufiges Ende für RG: Er wurde auf der Stelle suspendiert und sollte eigentlich aus dem Dienst entlassen werden. Das Verwaltungsgericht Münster wandelte das Ansinnes des zuständigen Polizeipräsidenten in eine Frühpensionierung um bei gleichzeitiger Rückstufung des Gehalts von RG um einen Dienstgrad.

Das Ganze eine gezielte 'Bestrafungsaktion'? Wir wissen es nicht. Wir können es auch nicht aufklären. Wir können aber dokumentieren, dass es bei der "Wahrheitsfindung" vor Gericht eine ganze Reihe von Ungereimtheiten gab. Darum geht es hier: um unvollständigen Wahrheitsfindungswillen auf Seiten der Justiz und um ungeklärte Widersprüche.

Mit den Besonderheiten im Strafprozess, die hier möglicherweise eine Rolle spielen (können), haben wir uns ebenfalls auseinandergesetzt: Im Zweifel gegen den Angeklagten?.

Die gesamte Geschichte von Anfang an bis zum heutigen Stand finden Sie in der Chronologie aller Ereignisse.

Wir haben uns aber auch in diesem Zusammenhang mit dem Thema 'Korruption' beschäftigt, das ja möglicherweise am Anfang der ganzen Geschichte steht: Wo und wie bei der Polizei das Thema 'Korruption' wahrgenommen wird. Besonders ermutigend waren unsere Rechercheergebnisse nicht.

Die Geschichte steht daher für zwei potenzielle Probleme:

  • für die eingeschränkte Bereitschaft der Justiz, "Wahrheitsfindung" zu betreiben. Dazu hat beispielsweise auch das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL in seiner Ausgabe 22/11 v. 30.Mai 2011 erschütternde Beispiele beschrieben (Fälle Rudi RUPP, Harry WÖRZ, Mainzer Missbrauchsskandal u.a.): Fehlurteile - Wie gerecht kann Justiz sein?
  • für die nicht gerade überzeugende Glaubwürdigkeit der Polizei, z.B. in Sachen Bestechung und Korruption. Und wie sie mit solchen Problemen umgeht.

Die Rekonstruktion dieses Fall kann direkt aufgerufen oder verlinkt werden unter www.ansTageslicht.de/RG.

 

(JL)