Die Berichte des Westfälischen Anzeigers, 10.12.2016

von Frank LAHME

"Vater Staat hat seine Söhne vergessen"

„Karriere-Aus und keine Lobby“: So überschrieb unsere Zeitung vor einem Jahr die leidvolle Geschichte des Hammer Oberkommissars Markus Klischat, der am 4. September 2010 von einem psychisch kranken Mann auf der Hauptwache angegriffen und zum Invaliden geschossen wurde. Klischats jahrelanger Kampf mit der Justiz, seinem Dienstherrn und seiner Unfallversicherung bewegte in der Folge die Gemüter in weiten Teilen NRWs. Weitere Polizisten, die im Dienst ebenfalls Opfer brutaler Übergriffe geworden sind, meldeten sich in der Redaktion. Sie alle äußerten den Wunsch nach einem anständigen, fairen und gerechten Umgang durch Vorgesetzte und sonstige Beteiligte. Monatelang tat sich nichts, bis Mitte November 2016 doch Bewegung in die Angelegenheit kam, als Ministerpräsidentin Hannelore Kraft verkündete, dass das Land NRW bei Schmerzensgeldansprüchen von Landesbediensteten künftig in Vorleistung treten werde. Für Markus Klischat und seine Leidensgenossen wird dies zu spät kommen – und nicht nur das: Ihre Schicksale werden – Stand heute – von der neuen Regelung gar nicht erst erfasst.

HAMM - Wieder ist es Herbst geworden. Zum sechsten Mal, seit jenem Schicksalstag. Zwei Schusstreffer am Kopf, sieben weitere Verletzungen durch stumpfe Gewalteinwirkung und noch weitere durch Abwehrhandlungen: Markus Klischats Trommelfell zerplatzt am 4. September 2010 wie die Hülle eines Luftballons. Multiple Hämatome im Kopf- und Gesichtsbereich trägt er davon, als er 40 Minuten in der Gewalt eines Psychopathen steht. Sechsmal feuert der 41-jährige Mann aus Kasachstan aus nächster Nähe in Richtung des Polizistenkopfes. Der Geiselnehmer will ein Fernsehteam auf der Wache sehen, um über die angeblich mafiösen Strukturen bei seinem Arbeitgeber aufzuklären. Später, vor Gericht, wird er behaupten, dass er Klischats Dienstwaffe wollte, um sich mit der P99 ins Jenseits zu befördern.
Bekanntlich überlebt der Oberkommissar den Überfall aufs Präsidium an der Hohen Straße. Die Waffe des Angreifers, der schließlich aufgibt und verhaftet wird, war eine Gaspistole. Wegen der kurzen Distanz hätten aber auch die Schüsse damit tödliche Folgen haben können.
Für seine Tat wandert der 41-Jährige nicht ins Gefängnis. Schuldunfähig sei er an jenem Tag gewesen, urteilen die Richter am Dortmunder Landgericht im folgenden Januar. Es ist der nächste Niederschlag für Markus Klischat, und viele weitere werden noch folgen.
Für den heute 54-Jährigen wird der 4. September 2010 der letzte Arbeitstag im Polizeidienst werden. Rasch heilen zwar seine äußerlichen Wunden, doch tief in seiner Persönlichkeit ist nichts mehr wie es einmal war. Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) nennt die Wissenschaft das Phänomen, das in seinem Innern von Monat zu Monat stärker wütet. Klischat traut sich nicht mehr unter Menschen, kann sich auf nichts mehr konzentrieren und wird von Alpträumen und Angstattacken geplagt. Zu gern würde er zurück in seine Wachdienstgruppe, doch es geht nicht mehr.
Fast fünf Jahre wird er dafür kämpfen müssen, ehe das Verwaltungsgericht Arnsberg im April 2015 den Übergriff auf der Wache als einen qualifizierten Dienstunfall anerkennt und seine Pensionszahlungen damit nach der Besoldungsgruppe A12 und nicht, wie das Land es will, nach A10 berechnet werden. Schmerzensgeld bekommt er keins vom Täter, und auch seine private Unfallversicherung weigert sich bis heute, die fällige Prämie für die erfahrene Berufsunfähigkeit zu zahlen.
Noch immer ist in dieser Angelegenheit ein Rechtsstreit vor dem OLG Hamm anhängig. Wieder einmal unterstellt man Klischat Simulantentum und jagt ihn durch die Behandlungszimmer der so genannten Fachgutachter. „Und am Ende wird auch dabei nichts herauskommen“, gibt sich der Ex-Polizist seit längerem pessimistisch. „Aufgeben“ würde er am liebsten, „endlich einen Schlussstrich ziehen können“, wie er sagt. Der ständige Rechtfertigungszwang gegenüber Ärzten, Dienstherren und Juristen hat ihn zermürbt – und das hat offenbar System...

Der Fall Herbert Ö.

Es ist der 30. Juli 1992, ein strahlend warmer Tag mit Temperaturen um die 30 Grad. Herbert Ö. ist Kriminalhaupkommissar und ebenfalls in Hamm beschäftigt. An jenem Donnerstagmittag kehrt der damals 47-Jährige von einer Streifenfahrt zurück. Ö. sitzt auf dem Beifahrersitz, der Kollege neben ihm steuert den Dienst-Passat an der Hohen Straße auf die Hofeinfahrt des Präsidiums zu. Nichts deutet auf das folgende Unheil hin.
Eine junge Frau steht rechts neben der Einfahrt. Sie trägt ein Sommerkleid und winkt den Beamten zu – so als wolle sie eine Auskunft haben. Herbert Ö. kurbelt die Seitenscheibe herunter und spricht die Frau an. „Wie kann ich weiterhelfen...?“
Eine Antwort bekommt er nicht. Stattdessen holt die Unbekannte einen Revolver hervor und zielt direkt auf den Kopf von Herbert Ö. Sie meint es offensichtlich ernst. Der Beamte versucht, seine Dienstpistole zu ziehen, doch der Sicherheitsgurt von seinem Sitz spannt sich direkt über das Holster. Er kommt nicht an die Waffe, versucht mit Rechts durchs Fenster nach der Frau zu greifen.
Die Kleidträgerin weicht einen Schritt zurück und spannt die Waffe. Ö. hat zum ersten Mal in seinem Leben Todesangst. „Mir war klar: Wenn der Hahn nach vorne schlägt, trifft das Projektil in den Kopf, und du erleidest tödliche Verletzungen“, wird er 17 Jahre später in einer Petition an den NRW-Landtag schreiben. Vor seinem geistigen Auge laufen in jenen Sekunden die wesentlichsten Punkte seines Lebens ab. Wie in einem Film. „Er zeigte meine Ehefrau und meinen Sohn, die ich in diesem Augenblick zu verlieren glaubte.“

Es macht „Klick“, doch es löst sich kein Schuss. Eine Fehlzündung? Irgendwie gelingt es dem Hauptkommissar, sich vom Sicherheitsgurt zu befreien und aus dem Passat zu stürmen. Die Frau zielt immer noch auf ihn, will erneut abdrücken. Herbert Ö. kann die Schützin zu Boden ringen. Der Revolver fällt aufs Pflaster. Aus dem Präsidium naht Verstärkung und klärt die Lage.
Wenig später wird sich herausstellen, dass die Waffe eine Attrappe war. Die Angreiferin war psychisch krank. Sie wollte an jenem 30. Juli von der Polizei erschossen werden.
Der Vorfall wird nicht dienstunfallrechtlich untersucht. Herbert Ö. ist am nächsten Tag wieder im Einsatz, denn ihm ist ja nichts passiert. Zunächst bemerkt er nicht, dass er innerlich beständig abbaut. Im Lauf der Zeit isoliert er sich von Freunden und Bekannten, kann nicht mehr durchschlafen und seine Waffe bei den routinemäßigen Schießübungen nicht mehr ruhig halten. Die Symptome sind ähnlich wie bei Markus Klischat. Sechs Jahre irrt er wie im Nebel durch das Leben und quält sich Tag für Tag zum Dienst. „Begriffe wie Trauma oder Posttraumatische Belastungsstörungen waren mir einfach nicht bekannt“, sagt er rückblickend.
Mehrere Klinikaufenthalte folgen, bei denen seine Probleme nicht ergründet werden. Herbert Ö. fühlt sich völlig ausgebrannt, weiß aber nicht warum. Auch die Ärzte finden keine Lösung, wissen nicht, wonach sie suchen sollen.

Der Groschen fällt erst im September 2000, bei einer Fortbildungsveranstaltung des Weißen Rings zum Thema Opferschutz. Herbert Ö. und die übrigen Teilnehmer – allesamt Polizisten – sollten hier im Umgang mit traumatisierten Opfern von Straftaten geschult werden. Als der Gruppe von einem Psychologen erklärt wird, was ein Trauma ist, stockt Herbert Ö. der Atem: „Hier wurde genau das beschrieben, was ich am 30. Juli 1992 am eigenen Leib erlebt hatte.“
Ö. spricht mit dem Psychologen und fertigt noch am gleichen Abend eine Dienstunfallmeldung über den 1992er Zwischenfall. Nach Tagungsende begibt er sich auf den Rat des Fachmanns hin in psychotherapeutische Behandlung. Die Ursache seines seelischen Dauertiefs wird auch hier bestätigt: Es liegt an der Frau mit dem Revolver... Ein mehrwöchiger Aufenthalt in einer Traumaklinik folgt im Januar 2001. Im März ergeht das erste Gutachten. Ergebnis: „Polizeidienstunfähigkeit mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 50 Prozent“.
Polizeipräsidentin Helga Fahlberg erörtert dem inzwischen 58-jährigen Kommissar, dass sie für ihn eine vorzeitige Zurruhesetzung beantragen werde. Die Anerkennung des Dienstunfalls lehnt sie hingegen ab – was erhebliche Einbußen bei den Pensionszahlungen für Herbert Ö. zur Folge haben würde.
Schlimmer als der finanzielle Verlust wiegt jedoch der Eindruck, den Ö. in diesen Tagen seiner Person gegenüber entgegengetragen sieht und der sich wie ein roter Faden durch das nun folgende Verwaltungsstreitverfahren ziehen wird: „Dieser Beamte ist ein Simulant!“

Die Parallelen

Auch Markus Klischat ist es so ergangen. Ihm, der der Überstundenkönig in seiner Wachdienstgruppe war und der sich nur zwei Wochen nach dem Überfall – noch taub auf einem Ohr – wieder dienstbereit gemeldet hatte, wurde per Gutachten ein „krankhaftes Pensionierungsbegehren“ unterstellt. Noch heute empfindet Klischat dies als tiefe Demütigung und sieht sich im laufenden OLG-Verfahren genau diesem Vorwurf wieder ausgesetzt.
Bei Herbert Ö. folgt – ebenso wie im Klischat-Fall – ab 2001 das nicht enden wollende Hickhack mit den Fachgutachtern. Als Ö. im Zuge seines vorzeitigen Ausscheidens aus dem Polizeidienst von einem Düsseldorfer Psychiater eine 100-prozentige Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) attestiert wird, passt dies augenscheinlich nicht in das Konzept der Polizeipräsidentin. Ein weiteres Gutachten wird von ihr verlangt und schließlich in Bad Salzuflen angefertigt. Ergebnis: Minderung der Erwerbsfähigkeit von nun nur noch 10 Prozent!

In einem Gedächtnisprotokoll vermerkt Ö. damals über seine Eindrücke von der ihn untersuchenden Ärzteschaft: „Dieser Dienstunfall muss so behandelt werden, dass er keinesfalls grundsätzliche Bedeutung für andere Unfälle dieser Art haben kann.“
Es bleibt dabei: 10 Prozent MdE und damit monatlich einige 100 Euro weniger für Herbert Ö. bei einer Pensionierung. Posttraumatische Belastungsstörungen werden ihm attestiert, ebenso wird eine 50-prozentige Schwerbehinderung anerkannt, aber eben kein qualifizierter Dienstunfall. Teils sind es dieselben Gutachter wie bei Markus Klischat, die ihn untersuchen. Ein Laufbahnwechsel in den Verwaltungsdienst wird – mit Blick aufs Lebensalter – ausgeschlossen. Faktisch kommt dies im Oktober 2002 einer Erwerbsunfähigkeit gleich.
Im November 2002 verschlechtert sich Herbert Ö.’s Zustand ein weiteres Mal. Wegen seiner PTBS wird erneut ein Klinikaufenthalt fällig. Wenige Tage vor der für den 9. Januar 2003 vorgesehenen Einweisung in die Klinik am Möhnesee ereilt ihn ein Anruf aus dem Polizeipräsidium. Ob er am kommenden Freitag Zeit habe, fragt die Sachbearbeiterin. Er, Herbert Ö., solle aus dem Polizeidienst entlassen werden.

Als Ö. daraufhin erwidert, dass er dann schon in der Klinik sei, zeigt man sich behördenseitig ungewohnt flexibel: „Gut, dann bekommen Sie die Unterlagen eben mit der Post.“
Nach 40 Jahren Polizeidienst für das Land NRW wird Ö. also die Entlassungsurkunde von einem Briefträger ins Haus gebracht. Kein persönlicher Dank des Dienstherren, kein Blumenstrauß. Niemals in seinem Leben, so sagt er bis heute, habe er eine derartige Herabwürdigung erfahren.
Die vorzeitige Zurruhesetzung greift zum 31. Januar 2003. Sein Widerspruch gegen die Ablehnung des Dienstunfalls wird im April 2003 zunächst von der Polizeipräsidentin und im Februar 2004 auch von der Arnsberger Bezirksregierung zurückgewiesen. Am 30. August 2006 schließlich entscheidet das Arnsberger Verwaltungsgericht doch in seinem Sinne: „Das Ereignis aus dem Jahr 1992 ist als Dienstunfall anzuerkennen!“

Offen bleibt damals die Frage nach dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit als Folge des Revolverangriffs. Herbert Ö. hat noch immer den MdE-Status 10 Prozent und bekommt eine entsprechend kleine Pension. Im April 2009 verfasst er – im Nachgang zu einem Bürgergespräch mit dem Hammer Landtagsabgeordneten Marc Herter (SPD) – eine zwölfseitige Petition an den NRW-Landtag. „Durch die unerträglich lange Verfahrensdauer und fragwürdige, zermürbende Entscheidungen wurde ich neben dem strafrechtlich relevanten Angriff auf mich durch eine unglaubliche Ignoranz der beteiligten Behörden ein zweites Mal zum Opfer“, bittet er die Mitglieder des Petitionsausschusses lediglich um Eines: „Dieses Verfahren zu einem für mich gerechten Abschluss zu bringen“.

Sein Ansinnen wird gehört. Der Ausschuss – Herter ist Pate der Petition – weist das Landesamt für Besoldung und Versorgung (LBV) an, eine erneute Begutachtung Herbert Ö.’s durchzuführen. Im Jahr 2011 – 19 Jahre nach dem Angriff der Frau im Sommerkleid – ist diese abgeschlossen. Die MdE beträgt nun 40 Prozent. Seine Pension wird entsprechend aufgestockt. Trotzdem bitter: Erst ab einer 50-prozentigen Quote wäre Ö. diese so bemessen worden, als hätte er bis zum turnusmäßigen Karriereende Dienst getan.
 

Günter P. und andere

Das Meiste von dem hat Günter P. noch vor sich. Er ist ein Polizist aus dem Rheinland und 2014 bei einem Einsatz lebensgefährlich verletzt worden. Der Mann, der ihn an jenem Tag mit einem Messer angriff und mehrfach auf seinen Oberkörper einstach, ist tot. Ein Kollege, der bei dem Einsatz ebenfalls verletzt wurde, hatte dem Angreifer ins Bein geschossen. Der Messerstecher schleppte sich darauf in ein Wohnhaus und verschanzte sich dort. Als das Gebäude Stunden später von Sondereinsatzkräften gestürmt wurde, war der Mann bereits verblutet.
Günter P. meldet sich in der Redaktion, weil er einen Kontakt zu Markus Klischat vermittelt bekommen möchte, um sich mit ihm auszutauschen. Er will auf keinen Fall durch eine Berichterstattung erkannt werden können. In der laufenden Auseinandersetzung mit seinem Dienstherren um die Anerkennung des Dienstunfalls fürchtet er sonst Repressalien. Stand heute hat er drei Operationen hinter sich gebracht und ist zwei Jahre nach der Tat weiterhin krankgeschrieben. Auch in seinem Kopf funktioniert es nicht mehr richtig. Angstattacken, Schlafstörungen, Vereinsamung: Alles so wie bei Markus Klischat und Herbert Ö.. „Man hat mir in der letzten Reha gesagt, dass ich niemals zur Ruhe kommen werde, ehe es ein Ende in dieser Angelegenheit gibt“, sagt Günter P. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit wird bislang auf 25 Prozent eingestuft. „1500 Euro fehlen damit im Monat.“ Auch seine Unfallversicherung will mit Verweis darauf, dass er hauptsächlich psychische Schäden davongetragen habe, nicht zahlen. Ein Prozess, so sagt er, lohne sich nicht. Vor dem Verwaltungsgericht will er jedoch um eine höhere Einstufung seiner MdE klagen.

Bitterste Worte findet Rolf G., der sich ebenfalls auf die Klischat-Reportage hin in der Redaktion meldet. Wie P. stammt auch er nicht aus Hamm. Auch er ist vor Jahren im Dienst schwerst verletzt worden. „Resultat: 27 Operationen, über 200 Wochen Krankenhaus und Rehas“, schreibt er in einer E-Mail. „Sieben Jahre Prozesse gegen den Dienstherren und keine Anerkennung als Dienstunfall. Keine Unterstützung durch die Politik oder den Dienstherren. Vater Staat hat seine Söhne vergessen, Herr Klischat.“ Ebenso reagiert eine auswärtige Polizistin auf den Hammer Fall. Seit vielen Jahren betreut sie einen Beamten, der 1995 im Dienst niedergestochen wurde und unter PTBS leidet. „Der Kollege war ein wirklich guter Polizist“, schreibt sie. „Heute wechselt er die Straßenseite, wenn ihm mehrere Menschen entgegenkommen. Er ist weiter in Therapie – ein normales Leben ist weit entfernt, wahrscheinlich nie mehr möglich. Er hat mal gesagt, 50 Prozent hat ihn der Unfall geschafft, 50 Prozent die Behörde und der Polizeiarzt.“

Schikane bis heute

Während der Kölner Polizeipräsident nach den Silvester- Vorfällen von Innenminister Jäger umgehend vom Dienst freigestellt wurde und trotzdem seine vollen Bezüge erhält, sind ähnlich unkonventionelle Lösungen – auch bei extremen Sachverhalten – für die einfachen Dienstgrade nicht in Sicht. Markus Klischat, Herbert Ö. und die meisten der hier zitierten Polizisten haben sich nicht nur in den Auseinandersetzungen mit ihren Vorgesetzen und Gutachtern die Zähne ausgebissen, sondern buchstäblich auch nachts im Schlaf, wenn sie von Alpträumen übermannt wurden. Bruxismus nennt die Medizin dieses krankhafte Zähneknirschen, durch das sie zu Prothesenträgern wurden.
Bemerkenswert ist, dass sich bereits im Jahr 2007 rund 40 Polizeiärzte aus ganz Deutschland mit Experten der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont an einen Tisch gesetzt und die so genannte „Bad Pyrmonter Klassifikation von psychischen Traumafolgen“ ausgearbeitet haben. In einer Tabelle wird hier minutiös aufgelistet, welche PTBS-Symptome zu welchem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit führen. Warum dieses Papier im Alltag der Amtsärzte aber offenbar nur stiefmütterlich zur Anwendung kommt, bleibt rätselhaft. Eine entsprechende Anfrage unserer Zeitung in Bad Pyrmont an den Ärztlichen Direktor und damaligen Konferenz-Leiter blieb unbeantwortet.

Herbert Ö. ist inzwischen 72 Jahre alt und noch immer in Behandlung. Auch 24 Jahre nach seinem einschneidenden Erlebnis fällt es ihm äußerst schwer, über das Geschehene zu sprechen. Von einem versöhnlichen Abschluss seines Falls kann bis heute nicht die Rede sein. Ärztlich verordnete Therapien werden vom LBV angezweifelt, Rezeptrechnungen nur unter Vorbehalt oder letztmalig erstattet. Viermal ist er seit 2012 wieder begutachtet worden. Wäre er ein Simulant oder Hypochonder, würde er sich dies tatsächlich antun?

Und so riecht es schon gehörig nach Schikane, dass Ö. etwa 2015, nach der Fahrt zu seiner jüngsten Begutachtung, die Fahrtkosten nicht in Gänze erstattet bekommt. An sich ein lapidarer Vorgang, der aber Bände spricht: Auf der Strecke war kurzfristig eine Baustelle eingerichtet worden. Zehn Kilometer Umweg waren die Folge – doch die dafür fälligen 6 Euro Spritgeld will das LBV nicht zahlen und schickt Ö. zum Beleg den Ausdruck einer Routenplaner-Seite aus dem Internet. Erst nach einem Widerspruchsverfahren werden die 6 Euro doch erstattet – die Kosten für den Rechtsanwalt betragen 90 Euro.

Signal aus Düsseldorf

Als NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft Mitte November verkündet, dass das Land künftig bei Schmerzensgeldansprüchen von Landesbediensteten, die Opfer von Gewalttaten geworden sind, einspringen und in Vorleistung treten wird, scheint ein Meilenstein gesetzt zu sein. Es handelt sich um eine Uralt- Forderung der Gewerkschaft der Polizei (GdP), und auch die CDU-Opposition im Landtag hatte dies Anfang 2016 gefordert. Anders als ihr Amtsvorgänger Jürgen Rüttgers (CDU), der Gleiches hätte tun können, packt Kraft das Thema nunmehr an. „Wer im Einsatz für unser Gemeinwesen zu Schaden kommt, verdient unseren ganz besonderen Schutz“, begründet sie die Gesetzesinitiative, die noch in dieser Legislaturperiode zu einer Änderung des Landesbeamtengesetzes führen soll.
Kraft hat all jene Fälle im Blick, bei denen die Täter zahlungsunfähig sind. Hier will das Land in Zukunft einspringen und die berechtigen Schmerzensgeldansprüche der Bediensteten übernehmen. Auch das Schicksal von Markus Klischat hat dieses Einlenken mitbeflügelt. „Unter den besonderen Fällen ist dies ein ganz besonderer“, sagt Marc Herter, stellvertretender SPD-Landesvorsitzender und Parlamentarischer Geschäftsführer der Landtagsfraktion. Klischat hat seinen Leidensweg öffentlich gemacht – und das passiert nicht alle Tage.

Auf 75.000 Euro hat sich Klischats Schmerzensgeldanspruch belaufen. Bis zum OLG hat er geklagt und ist am Ende leer ausgegangen. Ob der Täter mittellos ist, spielte in der Entscheidung keine Rolle. Der Mann war schuldunfähig und konnte deshalb nicht belangt werden. Auch Herbert Ö. wurde von einer Psychopathin angegriffen. Auch diese Frau war schuldunfähig und konnte nicht zur Verantwortung gezogen werden. Und im Fall von Günter P. ist der Täter tot. Auch hat der Polizist keinen Pfennig Schmerzensgeld erhalten.

Als unsere Zeitung in Düsseldorf auf das Dilemma hinweist, wird umgehend reagiert. „Wir haben auch diese Fälle im Blick. Es darf keinen Unterschied machen, ob der Verursacher schuld- oder zahlungsunfähig ist“, kündigt Marc Herter nach Rücksprache mit den beteiligten Ministerien für die in Kürze beginnenden Beratungen im Innen- und Finanzausschuss an.

Der vorerst letzte Akt

An Fälle, die sich in der Vergangenheit zugetragen haben, ist zumindest derzeit nicht gedacht. Landesweit ist bislang nie erfasst worden, wieviele Beamte im Dienst dermaßen schwer verletzt werden, dass sie dienstunfähig werden. Allzu häufig dürfte dies jedenfalls nicht passieren.
Der vorläufig letzte Akt in dieser Tragödie wird am Mittwoch, 7. Dezember, eingeleitet. Ganze Aktenordner füllt mittlerweile der Fall Klischat im Innen- und Finanzministerium wegen der geplanten Ausweitung der Schmerzensgeld- Gesetzesänderung. „Alle hier sind gut gewillt, dies umzusetzen“, versichert SPD-Vize Herter. Aber es gebe schlechte Neuigkeiten. So einfach, wie man es sich gedacht habe, werde sich das Vorhaben nicht in die Tat umsetzen lassen. Bei mittellosen Tätern könne ein Anspruch begründet werden, nicht jedoch bei schuldunfähigen. „Das Problem liegt hier also schon im Bürgerlichen Gesetzbuch. Und das ist Bundesrecht“, teilt Herter den Zwischenstand mit. Für sich selbst kommt er zu der Erkenntnis: „Vom Ergebnis her ist das schon mehr als absurd.“

Ob man landesrechtlich trotzdem eine Gleichstellung erreichen könne oder eine bundesrechtliche Initiative notwendig wäre, werde zur Zeit geprüft. Entschieden ist folglich offenbar noch nichts. Sollte Düsseldorf erst eine entsprechende Initiative in Berlin anstoßen müssen, dürfte dies wieder auf ein langwieriges Verfahren hinauslaufen. Zumindest fürs Erste würde in zukünftigen Fällen à la Markus Klischat kein Schmerzensgeld gezahlt. Polizist Rolf G. könnte durchaus Recht behalten: „Vater Staat hat seine Söhne vergessen.“


Zusätzlich erschien auf der Doppelseite vom 10. Dezember 2016 dieses Interview:

 

„Jedes Mal kommt es zu den unerträglichen Erinnerungen“

Der Mediziner Prof. Dr. Karl H. Beine über das Phänomen der „Posttraumatischen Belastungsstörungen“Professor Dr. Karl H. Beine ist Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am St.-Marienhospital Hamm und Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Psychotherapie an der Privaten Universität Witten/ Herdecke. Hier seine Expertise zum Phänomen PTBS:

 

Was sind Posttraumatische Belastungsstörungen?

Karl H. Beine: Die PTBS entsteht als verzögerte Reaktion auf ein belastendes Ereignis mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Albträumen. Es ist ein andauerndes Gefühl von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit vorhanden – verbunden mit Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung auf. Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und Suizidgedanken sind nicht selten. Der Beginn folgt dem Trauma mit einer Latenz von wenigen Wochen bis Monaten. Der Verlauf ist wechselhaft, in der Mehrzahl der Fälle kann jedoch eine Heilung erwartet werden.

Handelt es sich um ein Phänomen der Neuzeit?

Beine: Nein. Berichte über psychische Folgen eines Traumas gibt es schon in der Antike. Im Ersten Weltkrieg war von „Granatfieber” oder einer „Zitterkrankheit“ (= Kriegszitterer) die Rede. Wir wissen nicht, wie viele Soldaten allein in Deutschland wegen der psychischen Traumatisierungen eine PTBS hatten. Aber es dürften viele gewesen sein. Bis heute kennen wir dieses Phänomen. Aber in den meisten Ländern wird die PTBS nicht als sogenannter „Wehrschaden“ anerkannt. Die nicht endende Angst vor Verwundung und Tod, der ständige Beschuss, das elende Sterben von Kameraden führte zu PTBS. Viele hielten das Leiden und den chronischen Stress nicht mehr aus; sie schrien und weinten unkontrolliert, andere erstarrten, konnten sich nicht mehr bewegen und wurden stumm; wieder andere verloren das Gedächtnis und die Fähigkeit, Gefühle zu empfinden. Psychisch traumatisierte Soldaten (traumatisierte Polizisten??) wurden/ werden verachtet und als Feiglinge angesehen. Nicht wenige wurden wegen „Feigheit vor dem Feind“ erschossen. Anderes Beispiel: Überlebende des Holocausts. Hier brauchte es bis in die 1960er Jahre, bis die seit langem bekannten Symptome als Krankheit anerkannt wurden. Geändert hat sich das erst mit den Vietnam-Veteranen, die erstmals öffentlich über ihre psychischen Traumatisierungen sprachen. Aber die Mehrzahl der Golf-, Irak- und Afghanistanveteranen lebt am Rande der Gesellschaft, verarmt, verstört und letztlich als „Weicheier“ verachtet. Nicht selten sind sie obdachlos. Eine systematische psychiatrische Forschung wurde in Angriff genommen, die schließlich den Beweis für einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen traumatisierenden Erlebnissen und langfristigen psychischen Folgeschäden erbrachte. Anerkannt als Krankheit ist die PTBS seit 1980.

Wie schwierig/langwierig ist eine Therapie?

Beine: Die Behandlung besteht in erster Linie aus einer traumafokussierenden Psychotherapie, wenn nicht vermeidbar, dann medikamentöser Unterstützung. Ziel ist es, dass der Betroffene lernt, seine Erinnerungen zu kontrollieren und Angst und Depressionen, Schlafstörungen und Konzentrationsprobleme zu überwinden. Bei zirka einem Drittel verschwinden die Symptome innerhalb eines Jahres von alleine. Nach vier Jahren ist etwa die Hälfte der Betroffenen beschwerdefrei. Besteht die PTBS über längere Zeit, dann kommt es zu Vermeidungsverhalten, sozialem Rückzug und Traumafolgen: Berufsunfähigkeit, Scheidung und Einsamkeit. Häufig kommt es zu Alkohol- und Medikamentenmissbrauch. Traumatisierte Menschen versuchen so, die Erlebnisse zu verdrängen. Viele Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden an Depressionen, die auch mit Selbstmordgedanken bis hin zum Suizid verbunden sein können.

Wie wirkt sich der ständige Rechtfertigungsgrund der Betroffenen gegenüber Dienstherren, Amtsärzten und Gerichten auf ihr Befinden aus?

Beine: Alles das, was – außerhalb der Therapie – zur ungeschützten Konfrontation mit den Erinnerungen an das Trauma führt, oder gar Details der traumatisierenden Situation erfragt, kann zu Verschlechterung der Erkrankung führen. Mitunter kann es gar zu einer Retraumatisierung kommen, zum Beispiel durch polizeiliche Ermittlungen, Gerichtsverhandlungen aber auch durch langandauernde Anerkennungsverfahren: Jedes Mal kommt es zu den "unerträglichen Erinnerungen".