Die Leiden des Herbert Ö. aus Hamm
Es ist das Jahr 1992, die "Mauer" gibt es seit knapp drei Jahren nicht mehr und im Herbst wird Bill CLINTON zum Präsidenten gewählt werden. Im westfälischen Hamm hat Frank LAHME gerade eine Volontärsstelle angetreten. Als "Volo" muss man machen, womit einen die Chefs beauftragen.
An einem warmen Julitag kommt Herbert Ö, 47 Jahre und Kriminalhauptkommissar, zurück von einer Streifentour, sitzt auf dem Beifahrersitz und will gerade in die Hofeinfahrt des Polizeipräsidums einbiegen, als rechts eine junge Frau steht, die winkt. Der Polizeiwagen hält an, Herbert Ö. kurbelt die Scheibe herunter, fragt, wie er helfen kann.
Da sieht er sich plötzlich der Mündung eines Revolver gegenüber, mit dem eine junge Frau direkt auf seinen Kopf zielt.
Herbert Ö. versucht im Sitzen seine Dienstwaffe zu ziehen, doch der Sicherheitsgurt verhindert den schnellen Zugriff. Stattdessen greift er mit der rechten Hand aus dem Fenster, um den auf seinen Kopf gerichteten Revolver zu greifen. Die Frau weicht zurück, spannt ihre Waffe und drückt ab.
Es geschieht nichts, Herbert Ö. gelingt es, den Sicherheitsgurt zu öffnen, springt aus dem Wagen, kann die Schützin auf den Boden ringen, wartet bis der Kollege und andere Verstärkung gekommen ist.
Die Waffe erweist sich – gottlob - als - täuschend echt aussehende - Attrappe. Die junge Frau erweist sich als geistesgestört, wollte sich, so sagen es später die Psychiater, sich an diesem Tag von irgendeinem Polizisten erschießen lassen.
Klingt für einen Außenstehenden harmlos. Ist es aber nicht.
Für Herbert Ö. wird dieser Vorfall Auslöser eines jahrzehntelang anhaltenden Posttraumatischen Belastungssyndroms: Ständig schwirrt ihm das Bild durch den Kopf, wie die Frau abdrückt und seine Familie zusehen muss, wie er tödlich getroffen darnieder sinkt.
Herbert Ö. macht am nächsten Tag normalen Dienst – es ist ja – gottlob – nichts passiert.
Aber normal wird das Leben für Herbert Ö. nicht mehr. Er kann das schreckliche Bild nicht mehr loswerden, quält sich ab nun jeden Tag zum Dienst, den er bisher gerne gemacht hat, kann nachts nicht mehr durchschlafen, wandert von Klinik zu Klinik, weil ihm kein Mediziner helfen kann.
Keiner der vielen Ärzte kommt auf den Gedanken, dass Herbert Ö. an einem Posttraumatischen Belastungssyndrom leiden könnte.
Ein Licht geht ihm erst auf, als er im Jahr 2000 bei einer Fortbildungsveranstaltung des Weißen Ring zum Thema Opferschutz etwas über die dramatischen Auswirkungen von posttraumatischen Belastungsstörungen hört.
Jetzt geht begibt er sich in psychotherapeutische Behandlung, dann folgt ein mehrwöchiger Aufenthalt in einer Traumaklinik. Ein jetzt erst erstelltes Gutachten bescheinigt ihm eine „Polizeidienstunfähigkeit mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 50 Prozent“.
Die Polizeipräsidentin will ihn in den Ruhestand versetzen, lehnt aber eine Anerkennung eines Dienstunfalls ab. So baut sich schnell das Bild eines „Simulanten“ auf, als der Herbert Ö. in den Reihen seiner ehemaligen Kollegen jetzt gilt.
Parallel dazu arbeiten die Mühlsteine der Bürokratie, die ihn von Gutachter zu Gutachter schickt. Als ein unabhängiger Gutachter aus Düsseldorf ihm eine 100-prozentige Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) attestiert, beauftragt die Polizeipräsidentin in Hamm einen eigenen Gutachter, jetzt aus Bad Salzuflen, der eine MdE von nur 10% erkennen kann. Und dabei bleibt es. Vorerst.
Herbert Ö. fertigt sich ein Gedächtnisprotokoll über seine diversen Begutachtungen, hier, da und dort an, und wie seine Gutachter seinen Vorfall behandeln:
„Dieser Dienstunfall muss so behandelt werden, dass er keinesfalls grundsätzliche Bedeutung für andere Unfälle dieser Art haben kann.“
Jetzt kommen mehrere Dinge zusammen:
Zwar werden Herbert Ö. inzwischen posttraumatische Belastungsstörungen anerkannt ebenso wie eine 50%ige Schwerbehinderung, aber kein qualifizierter Dienstunfall und es bleibt bei einer MdE von 10%. Eine Verwendung im Innendienst wird ihm mit Rücksicht auf sein Alter von 57 Jahren verwehrt.
Ein Jahr später, 2003, nach 40 Dienstjahren, flattert ihm ein Brief ins Haus. Inhalt: seine Entlassungsurkunde aus dem Dienst.
Herbert Ö. legt Widerspruch ein. Die Polizeipräsidentin weist diesen zurück ebenso wie die zuständige Bezirksregierung.
Herbert Ö. zieht vor das Verwaltungsgericht. Es steht in Arnsberg. Dort entscheiden die Richter im Jahr 2006 – vierzehn Jahre nach dem traumatischen Vorfall: „Das Ereignis … ist als Dienstunfall anzuerkennen.“ Aber es bleibt bei der MdE von 10%. Mit der kann Herbert Ö. finanziell nicht zurechtkommen.
Dieses Urteil ergeht vier Jahre vor einem ähnlichen Vorfall in Hamm, bei dem der überfallene Polizist erst neun Jahre später voll zu seinem Recht kommen wird. Doch jetzt ist es noch nicht soweit. Und Frank LAHME, inzwischen stellvertretender Redaktionsleiter, kennt den gesamten Vorgang nicht. Und kann es auch nicht: Herbert Ö. hat sich bis dahin nie beim Westfälischen Anzeiger gemeldet.
Herbert Ö. greift zum letzten Stohhalm und setzt eine Petition an den nordrhein-westfälischen Landtag auf. Dort findet der Polizeihauptkommissar i.R. Gehör. Die Abgeordneten fordern das Landesamt für Besoldung und Versorgung auf, eine neue Begutachtung durchzuführen. Deren Ergebnis nach 19 Jahren seit dem traumatischen Ereignis: eine MdE von 40%. Aber kein „qualifizierter Dienstunfall“.
Somit fehlen Herbert Ö. u.a. 10 Prozentpunkte, um mit seiner Rente finanziell jenen Status zu erlangen, als hätte er bis zum Ende seiner Dienstjahre seinen Job gemacht. Was er eigentlich vorgehabt hatte. Und alles nur, weil er - unvermittelt - in eine Situation geraten war, die sein ganzes Leben durcheinander geraten ließ. Und ohne, dass Vater Staat dies adäquat berücksichtigt hätte.