Wie die Geschichte entstand. Und wie sie die Dinge änderte

aufgeschrieben von Frank LAHME, Westfälischer Anzeiger in Hamm

Schüsse auf der Wache

Kein Live-Ticker, kein Reporter, sondern lediglich ein freier Fotograf vor Ort: Am 4. September 2010 tickten die Uhren in unserer Redaktion noch deutlich langsamer als dies heute der Fall ist. Meine Arbeit begann einen Tag nach dem Überfall. Ich hatte Sonntagsdienst und schrieb die Aufmachung (Titel: „Schüsse auf der Wache“) für die Montagsausgabe. Einige Telefonate mit Polizei und Staatsanwaltschaft waren hierfür die Basis. Die Fakten: Ein geistig verwirrter Mann hatte auf dem Hammer Polizeirevier einen Beamten angegriffen und durch mehrere Schüsse aus einer Gaspistole am Kopf verletzt. Eine Dreiviertelstunde befand sich der Polizist in der Gewalt des Angreifers. Der  Täter wollte sich angeblich erschießen und dafür die  Dienstpistole des Kommissars an sich bringen. Ein SEK war  im Anmarsch, als sich der 41-jährige Angreifer zum Aufgeben überreden ließ.

Der Polizist schwebte nicht in Lebensgefahr

Tags darauf gab es noch einmal einen größeren Nachbericht; ich vereinbarte mit der Polizei einen Ortstermin und ließ mir die räumliche Situation auf der Wache unter Sicherheitsaspekten erklären. Der Polizist sei nicht ernsthaft verletzt, er sei schon wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden, wurde bei der Gelegenheit mitbetont.

Die Geschichte schien damit zu Ende erzählt. Standardmäßig berichteten wir noch, dass der Beschuldigte in eine Psychiatrie eingewiesen worden war und schließlich am 27. Januar 2011 (Titel: „Krankhafter Wahn“) von dem Verfahren gegen ihn vor dem Dortmunder Landgericht. Hier wurde der Geiselnehmer als schuldunfähig eingestuft. Als  Bewährungsauflagen wurde für ihn eine vierjährige Therapie angeordnet. Eine dauerhafte Unterbringung in einer Forensik, wie von der Staatsanwaltschaft beantragt, wurde abgelehnt. Bei der Verhandlung war ich nicht anwesend, sondern unsere Dortmunder Gerichtsberichterstatterin. Aus heutiger Sicht seltsam: In dem Prozess war offenbar nicht mehr von Schüssen, sondern nur noch von Schlägen mit der Waffe die Rede gewesen. Auf den Zustand des auf der Wache angegriffenen Polizisten Markus Klischat wurde mit keiner Silbe eingegangen.

Ein Tipp aus der Anwaltschaft…

Aus Polizeikreisen wusste ich, dass sich wegen des Überfalls im Hammer Präsidium in den Folgemonaten Gutachter mit der Frage beschäftigten, ob die seinerzeit neueingeführten Dienstwaffen der Polizei evtl. nicht richtig funktionierten. Die P99 war durchaus umstritten. Sollte Klischats Waffe eine Ladehemmung gehabt haben, wäre möglicherweise ein Präzedenzfall geschaffen gewesen und die Pistole in NRW vielleicht wieder eingezogen worden.  Die Staatsanwaltschaft Dortmund teilte mir schließlich mit, dass der Gutachter zu dem Ergebnis gekommen sei, dass kein Konstruktionsfehler vorgelegen habe. Im Eifer des Gefechts habe der Polizist die Pistole direkt auf den Körper seines Peinigers aufgesetzt. Die Dienstwaffe habe deshalb - und das sei so beabsichtigt – blockiert. Ich verzichtete auf eine Berichterstattung; ich hätte allein den Hammer Beamten diskreditiert. 

In der hiesigen Anwalts-Szene war ich gut vernetzt und bekam – ich schätze es war Ende 2013 – schließlich von einem Strafverteidiger den Tipp, dass es dem Polizisten alles andere als gut ergangen sei und dass er derzeit einen wohl aussichtslosen Kampf bzgl. eines Schmerzensgeldes führen würde. Ich wusste bis dahin nicht, dass Markus Klischat psychisch erkrankt war, nie wieder seine Uniform getragen hatte und bereits aus dem Dienst ausgeschieden war. Bei der Hammer Polizei sprach man nicht darüber.

Über den Rechtsanwalt, der ihn im Zivilverfahren vertrat, versuchte ich, einen Kontakt zu Klischat zu bekommen. Doch der Anwalt hatte wegen des schwebenden Verfahrens Bedenken, scheute selbst die Öffentlichkeit. Alle paar Wochen rief ich bei ihm an und wartete zu. Nachdem im Herbst 2014 auch das OLG Hamm den Schmerzensgeldanspruch verneint hatte, kam ich erstmals mit Markus Klischat persönlich in Kontakt. Wir telefonierten miteinander, und ich erfuhr von ihm, dass er in einem weiteren Verfahren, in dem ihm von der Gewerkschaft der Polizei ein Anwalt gestellt wurde, vor dem Verwaltungsgericht Arnsberg auf die Anerkennung des Übergriffs als qualifizierten Dienstunfall hoffte. Erst mit einer solchen Anerkennung wäre er bei der Bemessung seiner Pension so gestellt gewesen, als hätte er bis zum Ende seiner Laufbahn inklusive der üblichen Beförderungen Dienst getan.   

Natürlich wollte ich über Markus Klischats Schicksal schreiben. Aber das ging nur mit ihm und ohne Druck auf seine Person auszuüben. Deshalb war ich nicht zum OLG-Prozess erschienen. Das entgangene Schmerzensgeld war nur eine Facette, und kein anderes Medium interessierte sich für diesen Fall. Wir telefonierten nun immerhin regelmäßig miteinander, und im Frühjahr/Sommer 2015  - Klischat hatte inzwischen vor dem Verwaltungsgericht obsiegt - gab er endlich grünes Licht für eine persönliche Begegnung und stellte auch eine Berichterstattung in Aussicht.

„Meine Waffe kriegst du nicht“

Zwei- oder dreimal haben wir uns in der Redaktion getroffen. Jedes Treffen dauerte ein bis zwei Stunden. Es war absolut offensichtlich, dass hier ein gebrochener und noch immer leidender Mensch vor mir stand. Im Lauf der Jahre hatte ich einige Erfahrungen im Umgang mit traumatisierten Opfern gesammelt. Wir waren in etwa gleich alt, und Markus Klischat vertraute mir. Minutiös erzählte er mir von dem Übergriff, seinen Gedanken in jenem Moment, den Pannen beim Zugriff auf der Wache und dass auch durch eine Gaspistole tödliche Verletzungen hätten hervorgerufen werden können. Er erzählte von seiner Krankheit, die durch den Angriff ausgebrochen war, von seinem Berufsleben, und er gewährte mir Einblick in all seine Akten. Am Ende überließ er mir auch die beiden polizeiinternen Fotos, auf denen er direkt nach dem Übergriff blutüberströmt zu sehen ist. Anderen Kollegen sollte das, was ihm im Laufe der Jahre widerfahren sei, erspart bleiben, sagte er. Und damit meinte er insbesondere den Umgang mit seinem Dienstherren und den diversen medizinischen Gutachtern, denen er sich immer wieder hatte stellen müssen und die ihm mehr oder weniger offen Simulantentum unterstellt hatten. Deshalb wollte er, dass ich berichte.

Viereinhalb Jahre nach dem Übergriff auf der Wache hatte er lediglich seine Pensionsfrage klären können. Mit seiner privaten Unfallversicherung stand er noch immer vor Gericht. Dieser Prozess ging letztlich im Sommer 2017 verloren. Was er sagte, war glaubwürdig und ließ sich auch beim Durcharbeiten seiner Akten nachvollziehen. 

Die Recherche bei den übrigen Beteiligten lief wie folgt ab: Ich befragte den Polizeipräsidenten in Hamm zu den elend langen dienstrechtlichen Abläufen in diesem Fall und der Diskrepanz bei der Festsetzung des Erwerbsminderungsgrades (Behörde anfangs 20%, Gericht am Ende 70%). Der Behördenleiter vertrat den Standpunkt, dass man das Verfahren unbürokratischer nicht hätte über die Bühne bringen können. Von der Landesregierung wollte ich Zahlen, wie häufig Polizisten so schwer im Dienst verletzt wurden, dass sie aus demselben ausscheiden mussten. Antwort: Solche Statistiken gibt es nicht. Die Gewerkschaft der Polizei war nach meiner Anfrage zwar geradezu entrüstet ob des behördlichen Vorgehens im Fall Klischat, räumte aber ein, dass zu wenig derartiger Fälle bekannt seien, um gegenüber der Landesregierung in die Offensive zu gehen. Klischats Anwalt im Verwaltungsgerichtsverfahren erklärte immerhin, dass er schon häufiger die Erfahrung gemacht habe, dass bei einer im Raum stehenden Dienstunfähigkeit die Behörde auf schlanke gutachterliche Bewertungen zurückgreifen könne.

Mein Ziel war es, die Geschichte zum fünften Jahrestag des Übergriffs, also am 4. September 2015, zu veröffentlichen. Aber das schaffte ich nicht. Die gesamte Arbeit kam „on top“ zum normalen Redaktionsalltag. Am 31. Oktober 2015 schließlich erschien „Meine Waffe kriegst du nicht“, eine Doppelseite mit gut 22.000 Zeichen.

Reaktionen und die nächsten Fälle

Das Meinungsbild war eindeutig. „So kann man nicht mit Beamten umgehen“, lauteten die Reaktionen aus der Leserschaft. Trotz seiner Länge war der Bericht auch online extrem gut gelaufen. Mehrere Polizisten, die ebenfalls im Dienst teils lebensgefährlich verletzt worden waren und nun psychische Probleme davongetragen hatten, meldeten sich in den folgenden Wochen. Sie stammten aus allen Teilen NRWs und wollten für Dritte unerkannt bleiben. Allesamt klagten sie über erhebliche Schwierigkeiten mit ihren Dienstherren, die Angriffe auf ihre Person als ursächlich für ihr Ausscheiden aus dem Polizeidienst anerkannt zu bekommen.

Einige Tage nach Erscheinen der Doppelseite hatte ich zudem Kontakt zum oppositionellen CDU-Landtagsabgeordneten Gregor Golland aufgenommen. Von ihm wusste ich, dass er in Polizeiangelegenheiten recht rege war. Ich schilderte ihm den Fall Klischat, und er veranlasste eine Kleine Anfrage an die Landesregierung. Auskunft verlangt wurde unter anderem zur Häufigkeit solcher Übergriffe und zur Anzahl der Klageverfahren hinsichtlich einer Dienstunfähigkeit. Golland teilte meine Sicht der Dinge und fragte auch danach, ob etwas dagegen spräche, eine Härtefallregelung für Beamte wie Klischat zu schaffen.

Am 11. November 2015 erschien der Bericht „Fall Klischat zieht Kreise“, und am 18. Dezember folgte „Minister hat keine Zeit für Ex-Polizisten“ mit den ablehnenden Antworten aus dem IM auf die Kleine Anfrage.

Parallel hatte ich versucht, einige andere Zeitungen und Sender für das Thema zu gewinnen, was aber kaum gelang. Landesweit wurde wenig bis gar nicht über die Problematik berichtet.

Die Geschichte ging für mich als lokaler Schreiber insbesondere deshalb weiter, weil sich noch einmal eine erstaunliche  Wendung auftat. Herbert Ö., ein Polizist aus meiner Stadt, war tatsächlich im Juli 1992, also 18 Jahre vor Markus Klischat, ebenfalls vor dem Hammer Präsidium von einer psychisch kranken Frau mit einer Pistole angegriffen worden. Die Frau hatte ihre Pistole auf seinen Kopf gerichtet und abgedrückt. Kein Schuss hatte sich gelöst, Herbert Ö. hatte sie schließlich überwältigen können. Später erfuhr er, dass sie sich von den Polizisten hatte erschießen lassen wollen und dass ihre Waffe eine Attrappe gewesen war. 

Über diesen Fall hatte unsere Zeitung nie berichtet. Herbert Ö. hatte sich im Nachgang zur Berichterstattung über die Kleine Anfrage auch nicht an mich, sondern an das Golland-Büro gewandt. Erst nach einiger Bedenkzeit erklärte er sich bereit, auch mit mir zu reden und sich mit mir zu treffen.

Was er zu erzählen hatte, war erschütternd und ergreifend. Auch Herbert Ö., inzwischen bereits 72 Jahre alt, war nach dem Zwischenfall vor der Präsidium psychisch erkrankt, hatte dafür aber lange Zeit keine Diagnose erhalten. Der Vorfall wurde nicht dienstunfalltechnisch untersucht, Schmerzensgeld erhielt er keins. Auch die Angreiferin in seinem Fall war schuldunfähig gewesen. Neun Jahre lang quälte er sich noch durchs Leben und zum Dienst, aus dem er schließlich 2001 mit 58 Jahren ausschied. Er erhielt nur eine kleine Pension, was daran lag, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit für ihn mit lediglich 10 Prozent bemessen wurde. Teils waren es dieselben Gutachter wie bei Markus Klischat, die ihm dies bescherten. Erst nach einer Petition im Landtag, 19 Jahre nach dem Angriff, wurde der Grad auf 40 Prozent aufgestockt. Ab 50 Prozent wäre auch sein Fall als qualifizierter Dienstunfall behandelt worden. Als wir im Jahr 2016 miteinander redeten, war er weiterhin medizinischen Begutachtungen ausgesetzt und fühlte sich behördenseitig schikaniert.

Vater Staat hat seine Söhne vergessen

Ich hatte den Fall Herbert Ö. und noch drei weitere im Block. Dazu stand ich nach wie vor mit Markus Klischat in Kontakt. Doch wann war der richtige Zeitpunkt gekommen, um darüber zu berichten? Jeder dieser Beamten hatte mir erzählt, dass er in Folge seiner Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS)  zum Gebissträger geworden war. Allesamt hatten sie sich nachts im Schlaf die Zähne ausgebissen. Bruxismus heißt dieses krankhafte Zähneknirschen in der Welt der Mediziner. Konnten dies die Schilderungen von Simulanten oder Hypochondern sein?

Mehrfach telefonierte ich mit Justiziaren im Innenministerium, hoffte auf ein Einlenken und warb für eine unkomplizierte Lösung in (Härte-)Fällen dieser Art. Noch eine Beobachtung schien mir evident: Wurde ein Polizist erheblich verletzt, waren die Täter häufig geistig gestört – also schuldunfähig und nach § 823 BGB nicht auf  Schadensersatz und Schmerzensgeld zu belangen.

Die Mühe war vergebens.

Erst im Herbst 2016 kam Bewegung in die Angelegenheit. Ministerpräsidentin Hannelore Kraft verkündete, dass das Land in Zukunft bei Schmerzensgeldansprüchen seiner Beamten in Vorleistung treten wolle und dass das Landesbeamtengesetz geändert werden solle. Im Blick hatte sie dabei all jene Fälle, bei denen ein Täter zahlungsunfähig war. Der Fall Klischat, sei ein ganz besonderer und habe dazu beigetragen, dass es nun zum Einlenken komme, sagte mir Marc Herter (SPD), der damals parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion und Vize-Vorsitzender war.

 Für mich war dies der blanke Hohn. Markus Klischat, Herbert Ö. und all die anderen wären so erneut durchs Rost gefallen. Die Täter in ihren Fällen waren schuldunfähig oder tot gewesen, die Frage nach den Vermögensverhältnissen hatte sich erst gar nicht mehr gestellt. Immerhin verstand dies nun auch Marc Herter. Sein Wahlkreis ist in Hamm. Man werde auch diese Fälle in den Blick nehmen, kündigte er auf meine Intervention hin an. Allerdings könne das Vorhaben mit Bundesrecht kollidieren. Es könnte schwierig werden…

Drei Tage nach diesem Gespräch, am 10. Dezember 2016, erschien die Doppelseite „Vater Staat hat seine Söhne vergessen“. Ich schilderte dort die Polizisten-Schicksale, die aktuelle Entwicklung im politischen Raum und platzierte auch ein Interview mit  dem Chefarzt der hiesigen Psychiatrie Prof. Dr. Karl H. Beine zum Thema PTBS.

Geld für verletzte Beamte

Die beteiligten Ministerien lenkten tatsächlich ein. Nach wochenlanger Abstimmungsphase stand Ende März 2017 ein überarbeiteter Entwurf für §82a Landesbeamtengesetz fest. Über eine Ombudsstelle sollte es nun möglich werden, dass das Land auch in den Fällen, in denen ein Täter schuldunfähig war, ein Schmerzensgeld ausschütten kann. Am 29. März berichtete ich darüber exklusiv (Titel: „Geld für verletzte Beamte“); es war der Aufmacher im überregionalen Teil. Hinzu kam ein größerer Hintergrund in derselben Ausgabe. Die Gesetzesänderung wurde am 5. April beschlossen.

Bedauerlich bleibt folgendes: Die Änderung wirkt nicht ex tunc, sondern nur für zukünftige Fälle; Markus Klischat und seine Polizeikollegen aus den Berichten würden also nicht davon profitieren.

Am 17. April 2018, ein Jahr nach Einrichtung der Ombudsstelle, zog ich eine erste Bilanz (Titel: „Schmerzensgeld für Polizisten“). Zwölf Beamte, die im Dienst verletzt wurden, haben derzeit Aussichten auf eine Entschädigung in vierstelliger Höhe durch das Land.