Kein Live-Ticker, kein Reporter, sondern lediglich ein freier Fotograf vor Ort: Am 4. September 2010 tickten die Uhren in unserer Redaktion noch deutlich langsamer als dies heute der Fall ist. Meine Arbeit begann einen Tag nach dem Überfall. Ich hatte Sonntagsdienst und schrieb die Aufmachung (Titel: „Schüsse auf der Wache“) für die Montagsausgabe. Einige Telefonate mit Polizei und Staatsanwaltschaft waren hierfür die Basis. Die Fakten: Ein geistig verwirrter Mann hatte auf dem Hammer Polizeirevier einen Beamten angegriffen und durch mehrere Schüsse aus einer Gaspistole am Kopf verletzt. Eine Dreiviertelstunde befand sich der Polizist in der Gewalt des Angreifers. Der Täter wollte sich angeblich erschießen und dafür die Dienstpistole des Kommissars an sich bringen. Ein SEK war im Anmarsch, als sich der 41-jährige Angreifer zum Aufgeben überreden ließ.
Der Polizist schwebte nicht in Lebensgefahr
Tags darauf gab es noch einmal einen größeren Nachbericht; ich vereinbarte mit der Polizei einen Ortstermin und ließ mir die räumliche Situation auf der Wache unter Sicherheitsaspekten erklären. Der Polizist sei nicht ernsthaft verletzt, er sei schon wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden, wurde bei der Gelegenheit mitbetont.
Die Geschichte schien damit zu Ende erzählt. Standardmäßig berichteten wir noch, dass der Beschuldigte in eine Psychiatrie eingewiesen worden war und schließlich am 27. Januar 2011 (Titel: „Krankhafter Wahn“) von dem Verfahren gegen ihn vor dem Dortmunder Landgericht. Hier wurde der Geiselnehmer als schuldunfähig eingestuft. Als Bewährungsauflagen wurde für ihn eine vierjährige Therapie angeordnet. Eine dauerhafte Unterbringung in einer Forensik, wie von der Staatsanwaltschaft beantragt, wurde abgelehnt. Bei der Verhandlung war ich nicht anwesend, sondern unsere Dortmunder Gerichtsberichterstatterin. Aus heutiger Sicht seltsam: In dem Prozess war offenbar nicht mehr von Schüssen, sondern nur noch von Schlägen mit der Waffe die Rede gewesen. Auf den Zustand des auf der Wache angegriffenen Polizisten Markus Klischat wurde mit keiner Silbe eingegangen.
Ein Tipp aus der Anwaltschaft…
Aus Polizeikreisen wusste ich, dass sich wegen des Überfalls im Hammer Präsidium in den Folgemonaten Gutachter mit der Frage beschäftigten, ob die seinerzeit neueingeführten Dienstwaffen der Polizei evtl. nicht richtig funktionierten. Die P99 war durchaus umstritten. Sollte Klischats Waffe eine Ladehemmung gehabt haben, wäre möglicherweise ein Präzedenzfall geschaffen gewesen und die Pistole in NRW vielleicht wieder eingezogen worden. Die Staatsanwaltschaft Dortmund teilte mir schließlich mit, dass der Gutachter zu dem Ergebnis gekommen sei, dass kein Konstruktionsfehler vorgelegen habe. Im Eifer des Gefechts habe der Polizist die Pistole direkt auf den Körper seines Peinigers aufgesetzt. Die Dienstwaffe habe deshalb - und das sei so beabsichtigt – blockiert. Ich verzichtete auf eine Berichterstattung; ich hätte allein den Hammer Beamten diskreditiert.
In der hiesigen Anwalts-Szene war ich gut vernetzt und bekam – ich schätze es war Ende 2013 – schließlich von einem Strafverteidiger den Tipp, dass es dem Polizisten alles andere als gut ergangen sei und dass er derzeit einen wohl aussichtslosen Kampf bzgl. eines Schmerzensgeldes führen würde. Ich wusste bis dahin nicht, dass Markus Klischat psychisch erkrankt war, nie wieder seine Uniform getragen hatte und bereits aus dem Dienst ausgeschieden war. Bei der Hammer Polizei sprach man nicht darüber.
Über den Rechtsanwalt, der ihn im Zivilverfahren vertrat, versuchte ich, einen Kontakt zu Klischat zu bekommen. Doch der Anwalt hatte wegen des schwebenden Verfahrens Bedenken, scheute selbst die Öffentlichkeit. Alle paar Wochen rief ich bei ihm an und wartete zu. Nachdem im Herbst 2014 auch das OLG Hamm den Schmerzensgeldanspruch verneint hatte, kam ich erstmals mit Markus Klischat persönlich in Kontakt. Wir telefonierten miteinander, und ich erfuhr von ihm, dass er in einem weiteren Verfahren, in dem ihm von der Gewerkschaft der Polizei ein Anwalt gestellt wurde, vor dem Verwaltungsgericht Arnsberg auf die Anerkennung des Übergriffs als qualifizierten Dienstunfall hoffte. Erst mit einer solchen Anerkennung wäre er bei der Bemessung seiner Pension so gestellt gewesen, als hätte er bis zum Ende seiner Laufbahn inklusive der üblichen Beförderungen Dienst getan.
Natürlich wollte ich über Markus Klischats Schicksal schreiben. Aber das ging nur mit ihm und ohne Druck auf seine Person auszuüben. Deshalb war ich nicht zum OLG-Prozess erschienen. Das entgangene Schmerzensgeld war nur eine Facette, und kein anderes Medium interessierte sich für diesen Fall. Wir telefonierten nun immerhin regelmäßig miteinander, und im Frühjahr/Sommer 2015 - Klischat hatte inzwischen vor dem Verwaltungsgericht obsiegt - gab er endlich grünes Licht für eine persönliche Begegnung und stellte auch eine Berichterstattung in Aussicht.
„Meine Waffe kriegst du nicht“
Zwei- oder dreimal haben wir uns in der Redaktion getroffen. Jedes Treffen dauerte ein bis zwei Stunden. Es war absolut offensichtlich, dass hier ein gebrochener und noch immer leidender Mensch vor mir stand. Im Lauf der Jahre hatte ich einige Erfahrungen im Umgang mit traumatisierten Opfern gesammelt. Wir waren in etwa gleich alt, und Markus Klischat vertraute mir. Minutiös erzählte er mir von dem Übergriff, seinen Gedanken in jenem Moment, den Pannen beim Zugriff auf der Wache und dass auch durch eine Gaspistole tödliche Verletzungen hätten hervorgerufen werden können. Er erzählte von seiner Krankheit, die durch den Angriff ausgebrochen war, von seinem Berufsleben, und er gewährte mir Einblick in all seine Akten. Am Ende überließ er mir auch die beiden polizeiinternen Fotos, auf denen er direkt nach dem Übergriff blutüberströmt zu sehen ist. Anderen Kollegen sollte das, was ihm im Laufe der Jahre widerfahren sei, erspart bleiben, sagte er. Und damit meinte er insbesondere den Umgang mit seinem Dienstherren und den diversen medizinischen Gutachtern, denen er sich immer wieder hatte stellen müssen und die ihm mehr oder weniger offen Simulantentum unterstellt hatten. Deshalb wollte er, dass ich berichte.
Viereinhalb Jahre nach dem Übergriff auf der Wache hatte er lediglich seine Pensionsfrage klären können. Mit seiner privaten Unfallversicherung stand er noch immer vor Gericht. Dieser Prozess ging letztlich im Sommer 2017 verloren. Was er sagte, war glaubwürdig und ließ sich auch beim Durcharbeiten seiner Akten nachvollziehen.
Die Recherche bei den übrigen Beteiligten lief wie folgt ab: Ich befragte den Polizeipräsidenten in Hamm zu den elend langen dienstrechtlichen Abläufen in diesem Fall und der Diskrepanz bei der Festsetzung des Erwerbsminderungsgrades (Behörde anfangs 20%, Gericht am Ende 70%). Der Behördenleiter vertrat den Standpunkt, dass man das Verfahren unbürokratischer nicht hätte über die Bühne bringen können. Von der Landesregierung wollte ich Zahlen, wie häufig Polizisten so schwer im Dienst verletzt wurden, dass sie aus demselben ausscheiden mussten. Antwort: Solche Statistiken gibt es nicht. Die Gewerkschaft der Polizei war nach meiner Anfrage zwar geradezu entrüstet ob des behördlichen Vorgehens im Fall Klischat, räumte aber ein, dass zu wenig derartiger Fälle bekannt seien, um gegenüber der Landesregierung in die Offensive zu gehen. Klischats Anwalt im Verwaltungsgerichtsverfahren erklärte immerhin, dass er schon häufiger die Erfahrung gemacht habe, dass bei einer im Raum stehenden Dienstunfähigkeit die Behörde auf schlanke gutachterliche Bewertungen zurückgreifen könne.